Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Ich darf die Ten­denz die­ser Be­trach­tun­gen als mo­ra­lis­ti­schen Na­tu­ra­lis­mus be­zeich­nen: mei­ne Auf­ga­be ist, die schein­bar eman­ci­pir­ten und na­tur­los ge­w­ord­nen Moral­wert­he in ihre Na­tur zu­rück­zu­über­set­zen, – d. h. in ihre na­tür­li­che »Im­mo­ra­li­tät«.

NB. Ver­gleich mit der jü­di­schen »Hei­lig­keit« und ih­rer Na­tur­ba­sis: eben­so steht es mit dem sou­ve­rän ge­mach­ten Sit­ten­ge­setz, los­ge­löst von sei­ner Na­tur (– bis zum Ge­gen­satz zur Na­tur –). Schrit­te der Ent­na­tür­li­chung der Moral (so­ge­nann­ten »Idea­li­si­rung«):

als Weg zum In­di­vi­du­al-Glück,

als Fol­ge der Er­kennt­niß,

als ka­te­go­ri­scher Im­pe­ra­tiv,

als Weg zur Hei­li­gung,

als Ver­nei­nung des Wil­lens zum Le­ben.

(Die schritt­wei­se Le­bens­feind­lich­keit der Moral.)

*

300.

Die un­ter­drück­te und aus­ge­wisch­te Hä­re­sie in der Moral. – Be­grif­fe: heid­nisch, Her­ren-Moral, vir­tù.

*

301.

Mein Pro­blem: Wel­chen Scha­den hat die Mensch­heit bis­her von der Moral so­wohl, wie von ih­rer Mora­li­tät ge­habt? Scha­den am Geis­te u.s.w.

*

302.

Daß man end­lich die mensch­li­chen Wert­he wie­der hübsch in die Ecke zu­rück­set­ze, in der sie al­lein ein Recht ha­ben: als Ecken­ste­her-Wert­he. Es sind schon vie­le Thier­ar­ten ver­schwun­den; ge­setzt, daß auch der Mensch ver­schwän­de, so wür­de Nichts in der Welt feh­len. Man muß Phi­lo­soph ge­nug sein, um auch dies Nichts zu be­wun­dern (– Nil ad­mi­ra­ri).

*

303.

Der Mensch, eine klei­ne, über­spann­te Thier­art, die – glück­li­cher Wei­se – ihre Zeit hat; das Le­ben auf der Erde über­haupt ein Au­gen­blick, ein Zwi­schen­fall, eine Aus­nah­me ohne Fol­ge, Et­was, das für den Ge­sammt-Cha­rak­ter der Erde be­lang­los bleibt; die Erde selbst, wie je­des Gestirn, ein Hia­tus zwi­schen zwei Nicht­sen, ein Er­eigniß ohne Plan, Ver­nunft, Wil­le, Selbst­be­wußt­sein, die schlimms­te Art des Not­wen­di­gen, die dum­me No­thwen­dig­keit … Ge­gen die­se Be­trach­tung em­pört sich Et­was in uns; die Schlan­ge Ei­tel­keit re­det uns zu »das Al­les muß falsch sein: denn es em­pört … Könn­te das nicht Al­les nur Schein sein? Und der Mensch trotz­al­le­dem, mit Kant zu re­den – –«

4. Wie man die Tugend zur Herrschaft bringt.

*

304

Vom Ide­al des Mora­lis­ten. – Die­ser Trak­tat han­delt von der großen Po­li­ti­k der Tu­gend. Wir ha­ben ihn De­nen zum Nut­zen be­stimmt, wel­chen dar­an lie­gen muß, zu ler­nen, nicht wie man tu­gend­haft wird, son­dern wie man tu­gend­haft macht, – wie man die Tu­gend zur Herr­schaft bring­t. Ich will so­gar be­wei­sen, daß, um dies Eine zu wol­len – die Herr­schaft der Tu­gend – man grund­sätz­lich das An­de­re nicht wol­len darf; eben da­mit ver­zich­tet man dar­auf, tu­gend­haft zu wer­den. Dies Op­fer ist groß: aber ein sol­ches Ziel lohnt viel­leicht solch ein Op­fer. Und selbst noch grö­ße­re!… Und ei­ni­ge von den be­rühm­tes­ten Mora­lis­ten ha­ben so viel ris­kirt. Von die­sen näm­lich wur­de be­reits die Wahr­heit er­kannt und vor­weg­ge­nom­men, wel­che mit die­sem Trak­tat zum ers­ten Male ge­lehrt wer­den soll: daß man die Herr­schaft der Tu­gen­d schlech­ter­dings nur durch die­sel­ben Mit­tel er­rei­chen kann, mit de­nen man über­haupt eine Herr­schaft er­reicht, je­den­falls nicht durch die Tu­gend …

Die­ser Trak­tat han­delt, wie ge­sagt, von der Po­li­tik der Tu­gend: er setzt ein Ide­al die­ser Po­li­tik an, er be­schreibt sie so, wie sie sein müß­te, wenn Et­was auf die­ser Erde voll­kom­men sein könn­te. Nun wird kein Phi­lo­soph dar­über in Zwei­fel sein, was der Ty­pus der Voll­kom­men­heit in der Po­li­tik ist; näm­lich der Mac­chia­vel­lis­mus. Aber der Mac­chia­vel­lis­mus, pur, sans mélan­ge, cru, vert, dans tou­te sa for­ce, dans tou­te son âpreté ist über­mensch­lich, gött­lich, transscen­dent, er wird von Men­schen nie er­reicht, höchs­tens ge­streift. Auch in die­ser en­ge­ren Art von Po­li­tik, in der Po­li­tik der Tu­gend, scheint das Ide­al nie er­reicht wor­den zu sein. Auch Pla­to hat es nur ge­streift. Man ent­deckt, ge­setzt daß man Au­gen für ver­steck­te Din­ge hat, selbst noch an den un­be­fan­gens­ten und be­wuß­tes­ten Mora­lis­ten (und das ist ja der Name für sol­che Po­li­ti­ker der Moral, für jede Art Be­grün­der neu­er Moral-Ge­wal­ten) Spu­ren da­von, daß auch sie der mensch­li­chen Schwä­che ih­ren Tri­but ge­zollt ha­ben. Sie alle aspir­ir­ten, zum Min­des­ten in ih­rer Er­mü­dung, auch für sich selbst zur Tu­gen­d: ers­ter und ca­pi­ta­ler Feh­ler ei­nes Mora­lis­ten, – als wel­cher Im­mo­ra­list der That zu sein hat. Daß er ge­ra­de Das nicht schei­nen dar­f, ist eine an­de­re Sa­che. Oder viel­mehr, es ist nicht eine an­de­re Sa­che: es ge­hört eine sol­che grund­sätz­li­che Selbst­ver­leug­nung (mo­ra­lisch aus­ge­drückt, Ver­stel­lung) mit hin­ein in den Ka­non des Mora­lis­ten und sei­ner ei­gens­ten Pf­lich­ten­leh­re: ohne sie wird er nie­mals zu sei­ner Art Voll­kom­men­heit ge­lan­gen. Frei­heit von der Moral, auch von der Wahr­heit, um je­nes Zie­les wil­len, das je­des Op­fer auf­wiegt: um der Herr­schaft der Moral wil­len, – so lau­tet je­ner Ka­non. Die Mora­lis­ten ha­ben die At­ti­tü­de der Tu­gen­d nö­thig, auch die At­ti­tü­de der Wahr­heit; ihr Feh­ler be­ginnt erst, wo sie der Tu­gend nach­ge­ben, wo sie die Herr­schaft über die Tu­gend ver­lie­ren, wo sie selbst mo­ra­lisch wer­den, wahr wer­den. Ein großer Mora­list ist, un­ter An­de­rem, nothwen­dig auch ein großer Schau­spie­ler; sei­ne Ge­fahr ist, daß sei­ne Ver­stel­lung un­ver­se­hens Na­tur wird, wie es sein Ide­al ist, sein es­se und sein ope­ra­ri auf eine gött­li­che Wei­se aus­ein­an­der zu hal­ten; Al­les, was er thut, muß er sub spe­cie bo­ni thun, – ein ho­hes, fer­nes, an­spruchs­vol­les Ide­al! Ein gött­li­ches Ide­al! Und in der That geht die Rede, daß der Mora­list da­mit kein ge­rin­ge­res Vor­bild nach­ahmt, als Gott selbst: Gott, die­sen größ­ten Im­mo­ra­lis­ten der That, den es giebt, der aber nichts­de­sto­we­ni­ger zu blei­ben ver­steht, was er ist, der gu­te Got­t…

*

305.

Mit der Tu­gend selbst grün­det man nicht die Herr­schaft der Tu­gend; mit der Tu­gend selbst ver­zich­tet man auf Macht, ver­liert den Wil­len zur Macht.

*

306.

Der Sieg ei­nes mo­ra­li­schen Ideals wird durch die­sel­ben »un­mo­ra­li­schen« Mit­tel er­run­gen wie je­der Sieg: Ge­walt, Lüge, Ver­leum­dung, Un­ge­rech­tig­keit.

*

307.

Wer weiß, wie al­ler Ruhm ent­steht, wird einen Arg­wohn auch ge­gen den Ruhm ha­ben, den die Tu­gend ge­nießt.

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308.

Die Moral ist ge­ra­de so »un­mo­ra­lisch« wie jed­we­des and­re Ding auf Er­den; die Mora­li­tät selbst ist eine Form der Un­mo­ra­li­tät.

Gro­ße Be­frei­ung, wel­che die­se Ein­sicht bringt. Der Ge­gen­satz ist aus den Din­gen ent­fernt, die Ein­ar­tig­keit in al­lem Ge­sche­hen ist ge­ret­tet – –

*

309.

Es giebt Sol­che, die da­nach su­chen, wo Et­was un­mo­ra­lisch ist. Wenn sie urt­hei­len: »das ist Un­recht«, so glau­ben sie, man müs­se es ab­schaf­fen und än­dern. Um­ge­kehrt habe ich nir­gends Ruhe, so lan­ge ich bei ei­ner Sa­che noch nicht über ihre Un­mo­ra­li­tät im Kla­ren bin. Habe ich die­se her­aus, so ist mein Gleich­ge­wicht wie­der her­ge­stellt.

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310.

A. Die Wege zur Macht: die neue Tu­gend un­ter dem Na­men ei­ner al­ten ein­füh­ren, – für sie das »In­ter­es­se« auf­re­gen (»Glück« als ihre Fol­ge und um­ge­kehrt), – die Kunst der Ver­leum­dung ge­gen ihre Wi­der­stän­de, – die Vort­hei­le und Zu­fäl­le aus­nüt­zen zu ih­rer Ver­herr­li­chung, – ihre An­hän­ger durch Op­fer, Se­pa­ra­ti­on zu ih­ren Fa­na­ti­kern ma­chen; – die große Sym­bo­li­k.

B. Die er­reich­te Macht: 1. Zwangs­mit­tel der Tu­gend; 2. Ver­füh­rungs­mit­tel der Tu­gend; 3. die Eti­ket­te (der Hof­staat) der Tu­gend.

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311.

Mit wel­chen Mit­teln eine Tu­gend zur Macht komm­t? – Genau mit den Mit­teln ei­ner po­li­ti­schen Par­tei: Ver­leum­dung, Ver­däch­ti­gung, Un­ter­mi­nirung der ent­ge­gen­stre­ben­den Tu­gen­den, die schon in der Macht sind, Um­tau­fung ih­res Na­mens, sys­te­ma­ti­sche Ver­fol­gung und Ver­höh­nung. Also: durch lau­ter »Im­mo­ra­li­tä­ten«.

Was eine Be­gier­de mit sich sel­ber macht, um zur Tu­gen­d zu wer­den? – Die Um­tau­fung; die prin­ci­pi­el­le Ver­leug­nung ih­rer Ab­sich­ten; die Übung im Sich-Miß­ver­stehn; die Al­lian­ce mit be­ste­hen­den und an­er­kann­ten Tu­gen­den; die af­fi­chir­te Feind­schaft ge­gen de­ren Geg­ner. Wo­mög­lich den Schutz hei­li­gen­der Mäch­te er­kau­fen; be­rau­schen, be­geis­tern; die Tar­tüf­fe­rie des Idea­lis­mus; eine Par­tei ge­win­nen, die ent­we­der mit ihr oben­auf kommt o­der zu Grun­de geht …, un­be­wußt, nai­v wer­den …

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312.

Man hat die Grau­sam­keit zum tra­gi­schen Mit­lei­den ver­fei­nert, so­daß sie als sol­che ge­leug­net wird. Des­glei­chen die Ge­schlechts­lie­be in der Form der a­mour-pas­sion; die Skla­ven­ge­sin­nung als christ­li­cher Ge­hor­sam; die Er­bärm­lich­keit als De­muth; die Er­kran­kung des ner­vus sym­pa­thi­cus z. B. als Pes­si­mis­mus, Pas­ca­lis­mus oder Car­ly­lis­mus u. s. w.

 

*

313.

Es wür­de uns Zwei­fel ge­gen einen Men­schen ma­chen, zu hö­ren, daß er Grün­de nö­thig hat, um an­stän­dig zu blei­ben: ge­wiß ist, daß wir sei­nen Um­gang mei­den. Das Wört­chen »denn« com­pro­mit­tirt in ge­wis­sen Fäl­len; man wi­der­leg­t sich mit­un­ter so­gar durch ein ein­zi­ges »denn«. Hö­ren wir nun des Wei­te­ren, daß ein sol­cher Aspi­rant der Tu­gend schlech­te Grün­de nö­thig hat, um re­spek­ta­bel zu blei­ben, so giebt das noch kei­nen Grund ab, un­sern Re­spekt vor ihm zu stei­gern. Aber er geht wei­ter, er kommt zu uns, er sagt uns in’s Ge­sicht: »Sie stö­ren mei­ne Mora­li­tät mit Ihrem Un­glau­ben, mein Herr Ungläu­bi­ger; so­lan­ge Sie nicht an mei­ne schlech­ten Grün­de, will sa­gen an Gott, an ein stra­fen­des Jen­seits, an eine Frei­heit des Wil­lens glau­ben, ver­hin­dern Sie mei­ne Tu­gend … Moral: man muß die Ungläu­bi­gen ab­schaf­fen: sie ver­hin­dern die Mora­li­si­rung der Mas­sen

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314.

Uns­re hei­ligs­ten Über­zeu­gun­gen, un­ser Un­wan­del­ba­res in Hin­sicht auf obers­te Wert­he sind Urt­hei­le uns­rer Mus­keln.

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315.

Die Moral in der Wer­thung von Ras­sen und Stän­den. – In An­be­tracht, daß Af­fek­te und Grundtrie­be bei je­der Ras­se und bei je­dem Stan­de Et­was von ih­ren Exis­tenz­be­din­gun­gen aus­drücken (– zum Min­des­ten von den Be­din­gun­gen, un­ter de­nen sie die längs­te Zeit sich durch­ge­setzt ha­ben), heißt ver­lan­gen, daß sie »tu­gend­haft« sind:

daß sie ih­ren Cha­rak­ter wech­seln, aus der Haut fah­ren und ihre Ver­gan­gen­heit aus­wi­schen:

heißt, daß sie auf­hö­ren sol­len, sich zu un­ter­schei­den:

heißt, daß sie in Be­dürf­nis­sen und An­sprü­chen sich an­ähn­li­chen sol­len, – deut­li­cher: daß sie zu Grun­de gehn

Der Wil­le zu Ei­ner Moral er­weist sich so­mit als die Ty­ran­nei je­ner Art, der die­se Eine Moral auf den Leib ge­schnit­ten ist, über an­de­re Ar­ten: es ist die Ver­nich­tung oder die Uni­for­mirung zu Guns­ten der herr­schen­den (sei es, um ihr nicht mehr furcht­bar zu sein, sei es, um von ihr aus­ge­nutzt zu wer­den). »Auf­he­bung der Skla­ve­rei« – an­geb­lich ein Tri­but an die »Men­schen­wür­de«, in Wahr­heit eine Ver­nich­tung ei­ner grund­ver­schie­de­nen Spe­cies (– Un­ter­gra­bung ih­rer Wert­he und ih­res Glücks –).

Wo­rin eine geg­ne­ri­sche Ras­se oder ein geg­ne­ri­scher Stand sei­ne Stär­ke hat, das wird ihm als sein Bö­ses­tes, Schlimms­tes aus­ge­legt: denn da­mit scha­det er uns (– sei­ne »Tu­gen­den« wer­den ver­leum­det und um­ge­tauft).

Es gilt als Ein­wan­d ge­gen Mensch und Volk wenn er uns scha­det: aber von sei­nem Ge­sichts­punkt aus sind wir ihm er­wünscht, weil wir Sol­che sind, von de­nen man Nut­zen ha­ben kann.

Die For­de­rung der »Ver­mensch­li­chung« (wel­che ganz naiv sich im Be­sitz der For­mel »was ist mensch­lich?« glaubt) ist eine Tar­tüf­fe­rie, un­ter der sich eine ganz be­stimm­te Art Mensch zur Herr­schaft zu brin­gen sucht: ge­nau­er, ein ganz be­stimm­ter In­stinkt, der He­er­den­in­stink­t. – »Gleich­heit der Men­schen«: was sich ver­birg­t un­ter der Ten­denz, im­mer mehr Men­schen als Men­schen gleich zu set­zen.

Die »In­ter­es­sirt­heit« in Hin­sicht auf die ge­mei­ne Moral. (Kunst­griff: die großen Be­gier­den Herrsch­sucht und Hab­sucht zu Pro­tek­to­ren der Tu­gend zu ma­chen). In­wie­fern alle Art Ge­schäfts­män­ner und Hab­süch­ti­ge, Al­les, was Cre­dit ge­ben und in An­spruch neh­men muß, es nö­thig hat, auf glei­chen Cha­rak­ter und glei­chen Wert­h­be­griff zu drin­gen: der Welt- Han­del und - Aus­tausch je­der Art er­zwingt und kauf­t sich gleich­sam die Tu­gend.

Ins­glei­chen der Staat und jede Art Herr­schaft in Hin­sicht auf Be­am­te und Sol­da­ten; ins­glei­chen die Wis­sen­schaft, um mit Ver­trau­en und Spar­sam­keit der Kräf­te zu ar­bei­ten. – Ins­glei­chen die Pries­ter­schaft.

– Hier wird also die ge­mei­ne Moral er­zwun­gen, weil mit ihr ein Vort­heil er­run­gen wird; und um sie zum Sieg zu brin­gen, wird Krieg und Ge­walt ge­übt ge­gen die Un­mo­ra­li­tät – nach wel­chem »Rech­te«? Nach gar kei­nem Rech­te: son­dern ge­mäß dem Selbs­t­er­hal­tungs­in­stinkt. Die­sel­ben Klas­sen be­die­nen sich der Im­mo­ra­li­tät, wo sie ih­nen nützt.

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316.

Der heuch­le­ri­sche An­schein, mit dem alle bür­ger­li­chen Ord­nun­gen über­tüncht sind, wie als ob sie Aus­ge­bur­ten der Mora­li­tät wä­ren – z. B. die Ehe; die Ar­beit; der Be­ruf; das Va­ter­land; die Fa­mi­lie; die Ord­nung; das Recht. Aber da sie ins­ge­sammt auf die mit­tel­mä­ßigs­te Art Mensch hin be­grün­det sind, zum Schutz ge­gen Aus­nah­men und Aus­nah­me-Be­dürf­nis­se, so muß man es bil­lig fin­den, wenn hier viel ge­lo­gen wird.

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317.

Man soll die Tu­gen­d ge­gen die Tu­gend­pre­di­ger vert­hei­di­gen: das sind ihre schlimms­ten Fein­de. Denn sie leh­ren die Tu­gend als ein Ide­al für Al­le; sie neh­men der Tu­gend ih­ren Reiz des Sel­te­nen, des Un­nach­ahm­li­chen, des Aus­nahms­wei­sen und Un­durch­schnitt­li­chen, – ih­ren a­ri­sto­kra­ti­schen Zau­ber. Man soll ins­glei­chen Front ma­chen ge­gen die ver­stock­ten Idea­lis­ten, wel­che eif­rig an alle Töp­fe klop­fen und ihre Ge­nugt­hu­ung ha­ben, wenn es hohl klingt: wel­che Nai­ve­tät, Gro­ßes und Sel­te­nes zu for­dern und sei­ne Ab­we­sen­heit mit In­grimm und Men­schen­ver­ach­tung fest­stel­len! – Es liegt z. B. auf der Hand, daß eine Ehe so viel werth ist als Die, wel­che sie schlie­ßen, d. h. daß sie im großen Gan­zen et­was Er­bärm­li­ches und Un­schick­li­ches sein wird: kein Pfar­rer, kein Bür­ger­meis­ter kann et­was An­de­res dar­aus ma­chen.

Die Tu­gen­d hat alle In­stink­te des Durch­schnitts­men­schen ge­gen sich: sie ist un­vort­heil­haft, un­klug, sie iso­lirt; sie ist der Lei­den­schaft ver­wandt und der Ver­nunft schlecht zu­gäng­lich: sie verdirbt den Cha­rak­ter, den Kopf, den Sinn, – im­mer ge­mes­sen mit dem Maaß des Mit­tel­guts von Mensch; sie setzt in Feind­schaft ge­gen die Ord­nung, ge­gen die Lü­ge, wel­che in je­der Ord­nung, In­sti­tu­ti­on, Wirk­lich­keit ver­steckt liegt, – sie ist das schlimms­te Las­ter, ge­setzt, daß man sie nach der Schäd­lich­keit ih­rer Wir­kung auf die An­dern be­urt­heilt.

– Ich er­ken­ne die Tu­gend dar­an, daß sie 1) nicht ver­langt, er­kannt zu wer­den, 2) daß sie nicht Tu­gend über­all vor­aus­setzt, son­dern ge­ra­de et­was An­de­res, 3) daß sie an der Ab­we­sen­heit der Tu­gend nicht lei­det, son­dern um­ge­lehrt dies als das Di­stanz­ver­hält­niß be­trach­tet, auf Grund des­sen Et­was an der Tu­gend zu, eh­ren ist; sie theilt sich nicht mit, 4) daß sie nicht Pro­pa­gan­da macht … 5) daß sie Nie­man­dem er­laubt, den Rich­ter zu ma­chen, weil sie im­mer eine Tu­gend für sich ist, 6) daß sie ge­ra­de al­les Das thut, was sonst ver­bo­ten ist: Tu­gend, wie ich sie ver­ste­he, ist das ei­gent­li­che ve­ti­tum in­ner­halb al­ler He­er­den-Le­gis­la­tur, 7) kurz, daß sie Tu­gend im Re­naissance-Stil ist, vir­tù, mo­ra­lin­freie Tu­gend …

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318.

Vor Al­lem, mei­ne Her­ren Tu­gend­haf­ten, habt ihr kei­nen Vor­rang vor uns: wir wol­len euch die Be­schei­den­heit hübsch zu Ge­mü­the füh­ren: es ist ein er­bärm­li­cher Ei­gen­nutz und Klug­heit, wel­che euch eure Tu­gend an­räth. Und hät­tet ihr mehr Kraft und Muth im Lei­be, wür­det ihr euch nicht der­ge­stalt zu tu­gend­haf­ter Nul­li­tät her­ab­drücken. Ihr macht aus euch, was ihr könnt: theils was ihr müßt – wozu euch eure Um­stän­de zwin­gen –, theils was euch Ver­gnü­gen macht, theils was euch nütz­lich scheint. Aber wenn ihr thut, was nur eu­ren Nei­gun­gen ge­mäß ist oder was eure Not­wen­dig­keit von euch will oder was euch nützt, so sollt ihr euch da­rin we­der lo­ben dür­fen, noch lo­ben las­sen! … Man ist eine gründ­lich klei­ne Art Mensch, wenn man nur tu­gend­haft ist: dar­über soll Nichts in die Irre füh­ren! Men­schen, die ir­gend­wo­rin in Be­tracht kom­men, wa­ren noch nie­mals sol­che Tu­gend-Esel: ihr in­ners­ter In­stinkt, der ih­res Quan­tums Macht, fand da­bei nicht sei­ne Rech­nung: wäh­rend eure Mi­ni­ma­li­tät an Macht Nichts wei­ser er­schei­nen läßt als Tu­gend. Aber ihr habt die Zahl für euch: und in­so­fern ihr ty­ran­ni­sir­t, wol­len wir euch den Krieg ma­chen …

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319.

Ein tu­gend­haf­ter Mensch ist schon des­halb eine nied­ri­ge­re Spe­cies, weil er kei­ne »Per­son« ist, son­dern sei­nen Werth da­durch er­hält, ei­nem Sche­ma Mensch ge­mäß zu sein, das ein für alle Mal auf­ge­stellt ist. Er hat nicht sei­nen Werth a par­te: er kann ver­gli­chen wer­den, er hat sei­nes Glei­chen, er soll nicht ein­zeln sein.

Rech­net die Ei­gen­schaf­ten des gu­ten Men­schen nach, wes­halb thun sie uns wohl? Weil wir kei­nen Krieg nö­thig ha­ben, weil er kein Miß­trau­en, kei­ne Vor­sicht, kei­ne Samm­lung und Stren­ge uns auf­er­legt: uns­re Faul­heit, Gut­müthig­keit, Leicht­sin­nig­keit macht sich einen gu­ten Tag. Die­ses un­ser Wohl­ge­fühl ist es, das wir aus uns hin­auspro­ji­ci­ren und dem gu­ten Men­schen als Ei­gen­schaft, als Wert­h zu­rech­nen.

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320.

Die Tu­gend ist un­ter Um­stän­den bloß eine ehr­wür­di­ge Form der Dumm­heit: wer dürf­te ihr dar­um übel­wol­len? Und die­se Art Tu­gend ist auch heu­te noch nicht über­lebt. Eine Art von wa­cke­rer Bau­ern-Ein­falt, wel­che aber in al­len Stän­den mög­lich ist und der man nicht an­ders als mit Ver­eh­rung und Lä­cheln zu be­geg­nen hat, glaubt auch heu­te noch, daß Al­les in gu­ten Hän­den ist, näm­lich in der »Hand Got­tes«: und wenn sie die­sen Satz mit je­ner be­schei­de­nen Si­cher­heit auf­recht er­hal­ten, wie als ob sie sag­ten, daß zwei mal zwei vier ist, so wer­den wir An­dern uns hü­ten, zu wi­der­spre­chen. Wozu die­se rei­ne Thor­heit trü­ben? Wozu sie mit un­se­ren Sor­gen in Hin­sicht auf Mensch, Volk, Ziel, Zu­kunft ver­düs­tern? Und woll­ten wir es, wir könn­ten es nicht. Sie spie­geln ihre eig­ne ehr­wür­di­ge Dumm­heit und Güte in die Din­ge hin­ein (bei ih­nen lebt ja der alte Gott, de­us my­ops noch!); wir An­dern – wir se­hen et­was An­de­res in die Din­ge hin­ein: uns­re Räth­sel-Na­tur, uns­re Wi­der­sprü­che, uns­re tiefe­re, schmerz­li­che­re, arg­wöh­ni­sche­re Weis­heit.

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321.

Wem die Tu­gend leicht fällt, der macht sich auch noch über sie lus­tig. Der Ernst in der Tu­gend ist nicht auf­recht zu er­hal­ten: man er­reicht sie und hüpft über sie hin­aus – wo­hin? in die Teu­fe­lei.

Wie in­tel­li­gent sind in­zwi­schen alle uns­re schlim­men Hän­ge und Drän­ge ge­wor­den! wie viel wis­sen­schaft­li­che Neu­gier­de plagt sie! Lau­ter An­gel­ha­ken der Er­kennt­niß!

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322.

– Das Las­ter mit et­was ent­schie­den Pein­li­chem so ver­knüp­fen, daß zu­letzt man vor dem Las­ter flieht, um von Dem los­zu­kom­men, was mit ihm ver­knüpft ist. Das ist der be­rühm­te Fall Tann­häu­sers. Tann­häu­ser, durch Wa­gne­ri­sche Mu­sik um sei­ne Ge­duld ge­bracht, hält es selbst bei Frau Ve­nus nicht mehr aus: mit Ei­nem Male ge­winnt die Tu­gend Reiz: eine thü­rin­gi­sche Jung­frau steigt im Prei­se: und um das Stärks­te zu sa­gen, er gou­tirt so­gar die Wei­se Wol­f­rams von Eschen­bach …

*

323.

Das Pa­tro­nat der Tu­gend. – Hab­sucht, Herrsch­sucht, Faul­heit, Ein­falt, Furcht: alle ha­ben ein In­ter­es­se an der Sa­che der Tu­gend: dar­um steht sie so fest.

*

324.

Die Tu­gen­d fin­det jetzt kei­nen Glau­ben mehr, ihre An­zie­hungs­kraft ist da­hin; es müß­te sie denn Ei­ner etwa als eine un­ge­wöhn­li­che Form des Aben­teu­ers und der Aus­schwei­fung von Neu­em auf den Markt zu brin­gen ver­stehn. Sie ver­langt zu viel Ex­tra­va­ganz und Bor­nirt­heit von ih­ren Gläu­bi­gen, als daß sie heu­te nicht das Ge­wis­sen ge­gen sich hät­te. Frei­lich, für Ge­wis­sen­lo­se und gänz­lich Un­be­denk­li­che mag eben Das ihr neu­er Zau­ber sein: – sie ist nun­mehr, was sie bis­her noch nie­mals ge­we­sen ist, ein Las­ter.

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325.

Die Tu­gend bleibt das kost­spie­ligs­te Las­ter: sie soll es blei­ben!

 

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326.

Die Tu­gen­den sind so ge­fähr­lich als die Las­ter, in­so­fern man sie von Au­ßen her als Au­to­ri­tät und Ge­setz über sich herr­schen läßt und sie nicht aus sich selbst erst er­zeugt, wie es das Rech­te ist, als per­sön­lichs­te No­thwehr und No­th­durft, als Be­din­gung ge­ra­de un­se­res Da­seins und Wachst­hums, die wir er­ken­nen und an­er­ken­nen, gleich­gül­tig ob An­de­re mit uns un­ter glei­cher oder ver­schied­ner Be­din­gung wach­sen. Die­ser Satz von der Ge­fähr­lich­keit der un­per­sön­lich ver­stan­de­nen, ob­jek­ti­ven Tu­gend gilt auch von der Be­schei­den­heit: an ihr ge­hen vie­le der aus­ge­such­ten Geis­ter zu Grun­de. Die Mora­li­tät der Be­schei­den­heit ist die schlimms­te Ver­weich­li­chung für sol­che See­len, bei de­nen es al­lein Sinn hat, daß sie bei Zei­ten har­t wer­den.

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327.

Man soll das Reich der Mora­li­tät Schritt für Schritt ver­klei­nern und ein­gren­zen: man soll die Na­men für die ei­gent­li­chen hier ar­bei­ten­den In­stink­te an’s Licht zie­hen und zu Ehren brin­gen, nach­dem sie die längs­te Zeit un­ter heuch­le­ri­schen Tu­gend­na­men ver­steckt wur­den; man soll aus Scham vor sei­ner im­mer ge­bie­te­ri­scher re­den­den »Red­lich­keit« die Scham ver­ler­nen, wel­che die na­tür­li­chen In­stink­te ver­leug­nen und we­g­lü­gen möch­te. Es ist ein Maaß der Kraft, wie weit man sich der Tu­gend ent­schla­gen kann; und es wäre eine Höhe zu den­ken, wo der Be­griff »Tu­gend« so um­emp­fun­den wäre, daß er wie vir­tù klän­ge, Re­naissance-Tu­gend, mo­ra­lin­freie Tu­gend. Aber einst­wei­len – wie fern sind wir noch von die­sem Idea­le!

Die Ge­biets-Ver­klei­ne­rung der Moral: ein Zei­chen ih­res Fort­schritts. Über­all, wo man noch nicht cau­sal zu den­ken ver­mocht hat, dach­te man mo­ra­lisch.

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328.

Zu­letzt, was habe ich er­reicht? Ver­ber­gen wir uns dies wun­der­lichs­te Re­sul­tat nicht: ich habe der Tu­gend einen neu­en Reiz ert­heilt, – sie wirkt als et­was Ver­bo­te­nes. Sie hat uns­re feins­te Red­lich­keit ge­gen sich, sie ist ein­ge­sal­zen in das »cum gra­no sa­lis« des wis­sen­schaft­li­chen Ge­wis­sens­bis­ses; sie ist alt­mo­disch im Ge­ruch und an­ti­ki­si­rend, so­daß sie nun­mehr end­lich die Raf­fi­nir­ten an­lockt und neu­gie­rig macht; – kurz, sie wirkt als Las­ter. Erst nach­dem wir Al­les als Lüge, Schein er­kannt ha­ben, ha­ben wir auch die Er­laub­niß wie­der zu die­ser schöns­ten Falsch­heit, der der Tu­gend, er­hal­ten. Es giebt kei­ne In­stanz mehr, die uns die­sel­be ver­bie­ten dürf­te: erst in­dem wir die Tu­gend als eine Form der Im­mo­ra­li­tät auf­ge­zeigt ha­ben, ist sie wie­der ge­recht­fer­tig­t , – sie ist ein­ge­ord­net und gleich­ge­ord­net in Hin­sicht auf ihre Grund­be­deu­tung, sie nimmt Theil an der Grund-Im­mo­ra­li­tät al­les Da­seins, – als eine Lu­xus-Form ers­ten Ran­ges, die hoch­nä­sigs­te, theu­ers­te und sel­tens­te Form des Las­ters. Wir ha­ben sie ent­run­zelt und ent­kut­tet, wir ha­ben sie von der Zu­dring­lich­keit der Vie­len er­löst, wir ha­ben ihr die blöd­sin­ni­ge Starr­heit, das lee­re Auge, die stei­fe Haar­tour, die hie­ra­ti­sche Mus­ku­la­tur ge­nom­men.

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329.

Ob ich da­mit der Tu­gend ge­scha­det habe? … Eben­so we­nig, als die An­ar­chis­ten den Fürs­ten: erst seit­dem sie an­ge­schos­sen wer­den, sit­zen sie wie­der fest auf ih­rem Thron … Denn so stand es im­mer und wird es ste­hen: man kann ei­ner Sa­che nicht bes­ser nüt­zen, als in­dem man sie ver­folgt und mit al­len Hun­den hetzt … Dies – habe ich gethan.