Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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209.

Das Evan­ge­li­um: die Nach­richt, daß den Nied­ri­gen und Ar­men ein Zu­gang zum Glück of­fen steht, – daß man Nichts zu thun hat als sich von der In­sti­tu­ti­on, der Tra­di­ti­on, der Be­vor­mun­dung der obe­ren Stän­de los­zu­ma­chen: in­so­fern ist die Her­auf­kunft des Chris­ten­tums Nichts wei­ter, als die ty­pi­sche So­cia­lis­ten-Leh­re. Ei­gent­hum, Er­werb, Va­ter­land, Stand und Rang, Tri­bu­na­le, Po­li­zei, Staat, Kir­che, Un­ter­richt, Kunst, Mi­li­tär­we­sen: Al­les eben­so vie­le Ver­hin­de­run­gen des Glücks, Irr­t­hü­mer, Ver­stri­ckun­gen, Teu­fels­wer­ke, de­nen das Evan­ge­li­um das Ge­richt an­kün­digt – Al­les ty­pisch für die So­cia­lis­ten-Leh­re.

Im Hin­ter­grun­de der Aufruhr, die Ex­plo­si­on ei­nes auf­ge­stau­ten Wi­der­wil­lens ge­gen die »Her­ren«, der In­stinkt da­für, wie viel Glück nach so lan­gem Dru­cke schon im Frei-sich-füh­len lie­gen könn­te… (Meis­tens ein Sym­ptom da­von, daß die un­te­ren Schich­ten zu men­schen­freund­lich be­han­delt wor­den sind, daß sie ein ih­nen ver­bo­te­nes Glück be­reits auf der Zun­ge schme­cken … Nicht der Hun­ger er­zeugt Re­vo­lu­tio­nen, son­dern daß das Volk en man­geant Ap­pe­tit be­kom­men hat …)

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210.

Man lese ein­mal das neue Te­sta­ment als Ver­füh­rungs-Buch: die Tu­gen­d wird in Be­schlag ge­nom­men, im In­stinkt, daß man mit ihr die öf­fent­li­che Mei­nung für sich ein­nimmt, – und zwar die al­ler­be­schei­dens­te Tu­gen­d, wel­che das idea­le He­er­den­schaf an­er­kennt und Nichts wei­ter (den Schaf­hir­ten ein­ge­rech­net –): eine klei­ne, zärt­li­che, wohl­wol­len­de, hül­f­rei­che und schwär­me­risch-ver­gnüg­te Art Tu­gend, wel­che nach Au­ßen hin ab­so­lut an­spruchs­los ist, – wel­che »die Welt« ge­gen sich ab­grenzt. Der un­sin­nigs­te Dün­kel, als ob sich das Schick­sal der Mensch­heit der­ge­stalt um sie dre­he, daß die Ge­mein­de auf der einen Sei­te das Rech­te und die Welt auf der an­dern Sei­te das Fal­sche, das ewig-Ver­werf­li­che und Ver­wor­fe­ne sei. Der un­sin­nigs­te Haß ge­gen Al­les, was in der Macht ist: aber ohne dar­an zu rüh­ren! Eine Art von in­ner­li­cher Los­lö­sung, wel­che äu­ßer­lich Al­les beim Al­ten läßt (Dienst­bar­keit und Skla­ve­rei! aus Al­lem sich ein Mit­tel zum Diens­te Got­tes und der Tu­gend zu ma­chen wis­sen)

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211.

Das Chris­ten­tum ist mög­lich als pri­va­tes­te Da­seins­form; es setzt eine enge, ab­ge­zo­ge­ne, voll­kom­men un­po­li­ti­sche Ge­sell­schaft vor­aus, – es ge­hört in’s Con­ven­ti­kel. Ein »christ­li­cher Staat«, eine »christ­li­che Po­li­tik« da­ge­gen ist eine Scham­lo­sig­keit, eine Lüge, etwa wie eine christ­li­che Heer­füh­rung, wel­che zu­letzt den »Gott der Heer­schaa­ren« als Ge­ne­ral­st­abs­chef be­han­delt. Auch das Papst­t­hum ist nie­mals im Stan­de ge­we­sen, christ­li­che Po­li­tik zu ma­chen …; und wenn Re­for­ma­to­ren Po­li­tik trei­ben, wie Luther, so weiß man, daß sie eben sol­che An­hän­ger Mac­chia­vell’s sind wie ir­gend wel­che Im­mo­ra­lis­ten oder Ty­ran­nen.

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212.

Das Chris­tent­hum ist je­den Au­gen­blick noch mög­lich, Es ist an kei­nes der un­ver­schäm­ten Dog­men ge­bun­den, wel­che sich mit sei­nem Na­men ge­schmückt ha­ben: es braucht we­der die Leh­re vom per­sön­li­chen Got­t, noch von der Sün­de, noch von der Uns­terb­lich­keit, noch von der Er­lö­sung, noch vom Glau­ben; es hat schlech­ter­dings kei­ne Me­ta­phy­sik nö­thig, noch we­ni­ger den As­ke­tis­mus, noch we­ni­ger eine christ­li­che »Na­tur­wis­sen­schaft«. Das Chris­tent­hum ist eine Pra­xis, kei­ne Glau­bens­leh­re. Es sagt uns wie wir han­deln, nicht was wir glau­ben sol­len.

Wer jetzt sag­te »ich will nicht Sol­dat sein«, »ich küm­me­re mich nicht um die Ge­rich­te«, »die Diens­te der Po­li­zei wer­den von mir nicht in An­spruch ge­nom­men«, »ich will Nichts thun, was den Frie­den in mir selbst stört: und wenn ich dar­an lei­den muß, Nichts wird mehr mir den Frie­den er­hal­ten als Lei­den« – der wäre Christ.

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213.

Zur Ge­schich­te des Chris­tent­hums. – Fort­wäh­ren­de Ver­än­de­rung des Mi­lieu’s: die christ­li­che Leh­re ver­än­dert da­mit fort­wäh­rend ihr Schwer­ge­wicht … Die Be­güns­ti­gung der Nie­de­ren und klei­nen Leu­te … Die Ent­wick­lung der ca­ri­tas … Der Ty­pus »Christ« nimmt schritt­wei­se Al­les wie­der an, was er ur­sprüng­lich ne­gir­te (in des­sen Ne­ga­ti­on er be­stand –). Der Christ wird Bür­ger, Sol­dat, Ge­richts­per­son, Ar­bei­ter, Han­dels­mann, Ge­lehr­ter, Theo­log, Pries­ter, Phi­lo­soph, Land­wirth, Künst­ler, Pa­tri­ot, Po­li­ti­ker, »Fürst« … er nimmt alle Thä­tig­kei­ten wie­der auf, die er ab­ge­schwo­ren hat (– die Selbst­vert­hei­di­gung, das Ge­richt­hal­ten, das Stra­fen, das Schwö­ren, das Un­ter­schei­den zwi­schen Volk und Volk, das Ge­ring­schät­zen, das Zür­nen …). Das gan­ze Le­ben des Chris­ten ist end­lich ge­nau das Le­ben, von dem Chris­tus bis Los­lö­sung pre­dig­te

Die Kir­che ge­hört so gut zum Tri­um­ph des An­ti­christ­li­chen, wie der mo­der­ne Staat, der mo­der­ne Na­tio­na­lis­mus … Die Kir­che ist die Bar­ba­ri­si­rung des Chris­tent­hums.

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214.

Über das Chris­tent­hum Herr ge­wor­den: der Ju­da­is­mus (Pau­lus); der Pla­to­nis­mus (Au­gus­tin); die Mys­te­ri­en­cul­te (Er­lö­sungs­leh­re, Sinn­bild des »Kreu­zes«); der As­ke­tis­mus (– Feind­schaft ge­gen die »Na­tur«, »Ver­nunft«, »Sin­ne«, – Ori­ent …).

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215.

Das Chris­tent­hum als eine Ent­na­tür­li­chung der He­er­dent­hier-Moral: un­ter ab­so­lu­tem Miß­ver­ständ­niß und Selbst­ver­blen­dung. Die De­mo­kra­ti­si­rung ist eine na­tür­li­che­re Ge­stalt der­sel­ben, eine we­ni­ger ver­lo­ge­ne.

That­sa­che: die Un­ter­drück­ten, die Nied­ri­gen, die gan­ze große Men­ge von Skla­ven und Halbs­kla­ven wol­len zur Macht.

Ers­te Stu­fe: sie ma­chen sich frei, – sie lö­sen sich aus, ima­gi­när zu­nächst, sie er­ken­nen sich un­ter ein­an­der an, sie set­zen sich durch.

Zwei­te Stu­fe: sie tre­ten in Kampf, sie wol­len Aner­ken­nung, glei­che Rech­te, »Ge­rech­tig­keit«.

Drit­te Stu­fe: sie wol­len die Vor­rech­te (– sie zie­hen die Ver­tre­ter der Macht zu sich hin­über).

Vier­te Stu­fe: sie wol­len die Macht al­lein, und sie ha­ben sie

Im Chris­tent­hum sind drei Ele­men­te zu un­ter­schei­den: a) die Un­ter­drück­ten al­ler Art, b) die Mit­tel­mä­ßi­gen al­ler Art, c) die Un­be­frie­dig­ten und Kran­ken al­ler Art. Mit dem ers­ten Ele­ment kämpft es ge­gen die po­li­tisch Vor­neh­men und de­ren Ide­al; mit dem zwei­ten Ele­ment ge­gen die Aus­nah­men und Pri­vi­le­gir­ten (geis­tig, sinn­lich –) je­der Art; mit dem drit­ten Ele­ment ge­gen den Na­tur-In­stink­t der Ge­sun­den und Glück­li­chen.

Wenn es zum Sie­ge kommt, so tritt das zwei­te Ele­ment in den Vor­der­grund; denn dann hat das Chris­tent­hum die Ge­sun­den und Glück­li­chen zu sich über­re­det (als Krie­ger für sei­ne Sa­che), ins­glei­chen die Mäch­ti­gen (als in­ter­es­sirt we­gen der Über­wäl­ti­gung der Men­ge), – und jetzt ist es der He­er­den-In­stink­t, die in je­dem Be­tracht wert­h­vol­le Mit­tel­maaß-Na­tur, die ihre höchs­te Sank­ti­on durch das Chris­tent­hum be­kommt. Die­se Mit­tel­maaß-Na­tur kommt end­lich so weit sich zum Be­wußt­sein (– ge­winnt den Muth zu sich –), daß sie auch po­li­tisch sich die Macht zu­ge­steht …

Die De­mo­kra­tie ist das ver­na­tür­lich­te Chris­tent­hum: eine Art »Rück­kehr zur Na­tur«, nach­dem es durch eine ex­tre­me An­ti­na­tür­lich­keit von der ent­ge­gen­ge­setz­ten Wer­thung über­wun­den wer­den konn­te. – Fol­ge: das ari­sto­kra­ti­sche Ide­al ent­na­tür­licht sich nun­mehr (»der hö­he­re Mensch«, »vor­nehm«, »Künst­ler«, »Lei­den­schaft«, »Er­kennt­niß«; Ro­man­tik als Cul­tus der Aus­nah­me, Ge­nie u. s. w.).

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216.

Wann auch die »Her­ren« Chris­ten wer­den kön­nen. – Es liegt in dem In­stinkt ei­ner Ge­mein­schaft (Stamm, Ge­schlecht, He­er­de, Ge­mein­de), die Zu­stän­de und Be­geh­run­gen, de­nen sie ihre Er­hal­tung ver­dankt, als an sich wert­h­voll zu emp­fin­den, z. B. Ge­hor­sam, Ge­gen­sei­tig­keit, Rück­sicht, Mä­ßig­keit, Mit­leid, – so­mit Al­les, was den­sel­ben im Wege steht oder wi­der­spricht, her­ab­zu­drücken.

Es liegt ins­glei­chen in dem In­stinkt der Herr­schen­den (sei­en es Ein­zel­ne, sei­en es Stän­de), die Tu­gen­den, auf wel­che hin die Un­ter­wor­fe­nen hand­lich und er­ge­ben sind, zu pa­tro­ni­si­ren und aus­zu­zeich­nen (– Zu­stän­de und Af­fek­te, die den eig­nen so fremd wie mög­lich sein kön­nen).

Der He­er­den­in­stink­t und der In­stinkt der Herr­schen­den kom­men im Lo­ben ei­ner ge­wis­sen An­zahl von Ei­gen­schaf­ten und Zu­stän­den über­ein, – aber aus ver­schie­de­nen Grün­den: der ers­te aus un­mit­tel­ba­rem Ego­is­mus, der zwei­te aus mit­tel­ba­rem Ego­is­mus.

Die Un­ter­wer­fung der Her­ren-Ras­sen un­ter das Chris­ten­tum ist we­sent­lich die Fol­ge der Ein­sicht, daß das Chris­tent­hum eine He­er­den­re­li­gion ist, daß es Ge­hor­sam lehrt: kurz, daß man Chris­ten leich­ter be­herrscht als Nicht­chris­ten. Mit die­sem Wink emp­fiehlt noch heu­te der Papst dem Kai­ser von Chi­na die christ­li­che Pro­pa­gan­da.

Es kommt hin­zu, daß die Ver­füh­rungs­kraft des christ­li­chen Ideals am stärks­ten viel­leicht auf sol­che Na­tu­ren wirkt, wel­che die Ge­fahr, das Aben­teu­er und das Ge­gen­sätz­li­che lie­ben, wel­che Al­les lie­ben, wo­bei sie sich ris­ki­ren, wo­bei aber ein non plus ul­tra von Macht­ge­fühl er­reicht wer­den kann. Man den­ke sich die hei­li­ge The­resa, in­mit­ten der he­ro­i­schen In­stink­te ih­rer Brü­der: – das Chris­tent­hum er­scheint da als eine Form der Wil­lens-Aus­schwei­fung, der Wil­lens­stär­ke, als eine Don­qui­xo­te­rie des He­ro­is­mus…

 

3. Christliche Ideale.

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217.

Krieg ge­gen das christ­li­che Ideal, ge­gen die Leh­re von der »Se­lig­keit« und dem »Heil« als Ziel des Le­bens, ge­gen die Su­pre­ma­tie der Ein­fäl­ti­gen, der rei­nen Her­zen, der Lei­den­den und Miß­glück­ten.

Wann und wo hat je ein Mensch, der in Be­tracht komm­t, je­nem christ­li­chen Ide­al ähn­lich ge­se­hen? We­nigs­tens für sol­che Au­gen, wie sie ein Psy­cho­log und Nie­ren­prü­fer ha­ben muß! – man blät­te­re alle Hel­den Plut­ar­ch’s durch.

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218.

Un­ser Vor­rang: wir le­ben im Zeit­al­ter der Ver­glei­chung, wir kön­nen nach­rech­nen, wie nie nach­ge­rech­net wor­den ist: wir sind das Selbst­be­wußt­sein der His­to­rie über­haupt. Wir ge­nie­ßen an­ders, wir lei­den an­ders: die Ver­glei­chung ei­nes un­er­hört Viel­fa­chen ist uns­re in­stink­tivs­te Thä­tig­keit. Wir ver­ste­hen Al­les, wir le­ben Al­les, wir ha­ben kein feind­se­li­ges Ge­fühl mehr in uns. Ob wir selbst da­bei schlecht weg­kom­men, uns­re ent­ge­gen­kom­men­de und bei­na­he lie­be­vol­le Neu­gier­de geht un­ge­scheut auf die ge­fähr­lichs­ten Din­ge los …

»Al­les ist gut« – es kos­tet uns Mühe, zu ver­nei­nen. Wir lei­den, wenn wir ein­mal so un­in­tel­li­gent wer­den, Par­tei ge­gen Et­was zu neh­men … Im Grun­de er­fül­len wir Ge­lehr­ten heu­te am bes­ten die Leh­re Chris­ti – –

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219.

Iro­nie ge­gen Die, wel­che das Chris­tent­hum durch die mo­der­nen Na­tur­wis­sen­schaf­ten über­wun­den glau­ben. Die christ­li­chen Wer­thurt­hei­le sind da­mit ab­so­lut nicht über­wun­den. »Chris­tus am Kreu­ze« ist das er­ha­bens­te Sym­bol – im­mer noch. –

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220.

Die bei­den großen ni­hi­lis­ti­schen Be­we­gun­gen: a) der Bud­dhis­mus, b) das Chris­tent­hum. Letz­te­res hat erst jetzt un­ge­fähr Cul­tur-Zu­stän­de er­reicht, in de­nen es sei­ne ur­sprüng­li­che Be­stim­mung er­fül­len kann – ein Ni­veau, zu dem es ge­hör­t, – in dem es sich rein zei­gen kann…

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221.

Wir ha­ben das christ­li­che Ide­al wie­der her­ge­stell­t: es bleibt üb­rig, sei­nen Werth zu be­stim­men:

1) Wel­che Wert­he wer­den durch das­sel­be ne­gir­t? Was ent­hält das Ge­gen­satz-Ideal? – Stolz, Pa­thos der Di­stanz, die große Verant­wor­tung, den Über­muth, die pracht­vol­le Ani­ma­li­tät, die krie­ge­ri­schen und er­obe­rungs­lus­ti­gen In­stink­te, die Ver­gött­li­chung der Lei­den­schaft, der Ra­che, der List, des Zorns, der Wol­lust, des Aben­teu­ers, der Er­kennt­niß; –; das vor­neh­me Ideal wird ne­girt: Schön­heit, Weis­heit, Macht, Pracht und Ge­fähr­lich­keit des Ty­pus Mensch: der Zie­le set­zen­de, der »zu­künf­ti­ge« Mensch (–hier er­giebt sich die Christ­lich­keit als Schluß­fol­ge­rung des Ju­dent­hums–).

2) Ist es rea­li­sir­bar? –Ja, doch kli­ma­tisch be­dingt, ähn­lich wie das in­di­sche. Bei­den fehlt die Ar­beit. – Es löst her­aus aus Volk, Staat, Cul­tur-Ge­mein­schaft, Ge­richts­bar­keit, es lehnt den Un­ter­richt, das Wis­sen, die Er­zie­hung zu gu­ten Ma­nie­ren, den Er­werb, den Han­del ab .. es löst Al­les ab, was den Nut­zen und Werth des Men­schen aus­macht – es schließt ihn durch eine Ge­fühls-Idio­syn­kra­sie ab. Un­po­li­tisch, an­ti­na­tio­nal, we­der ag­gres­siv noch de­fen­siv, – nur mög­lich in­ner­halb des fest­ge­ord­nets­ten Staats- und Ge­sell­schafts­le­bens, wel­ches die­se hei­li­gen Pa­ra­si­ten auf all­ge­mei­ne Un­kos­ten wu­chern läßt …

3) Es bleibt eine Con­se­quenz des Wil­lens zur Lust – und zu Nichts wei­ter! Die »Se­lig­keit« gilt als Et­was, das sich selbst be­weist, das kei­ne Recht­fer­ti­gung mehr braucht, – al­les Üb­ri­ge (die Art le­ben und le­ben las­sen) ist nur Mit­tel zum Zweck …

Aber das ist nied­rig ge­dacht: die Furcht vor dem Schmerz, vor der Ve­run­rei­ni­gung, vor der Ver­derb­niß selbst als aus­rei­chen­des Mo­tiv, Al­les fah­ren zu las­sen… Dies ist eine ar­me Denk­wei­se, Zei­chen ei­ner er­schöpf­ten Ras­se; man soll sich nicht täu­schen las­sen. (»Wer­det wie die Kin­der« –. Die ver­wand­te Na­tur: Franz von As­si­si, neu­ro­tisch, epi­lep­tisch, Vi­sio­när, wie Je­sus.)

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222.

Der hö­he­re Mensch un­ter­schei­det sich von dem nie­de­ren in Hin­sicht auf die Furcht­lo­sig­keit und die Her­aus­for­de­rung des Un­glücks: es ist ein Zei­chen von Rück­gang, wenn eu­dä­mo­nis­ti­sche Wert­h­maa­ße als obers­te zu gel­ten an­fan­gen (– phy­sio­lo­gi­sche Er­mü­dung, Wil­lens-Ver­ar­mung –). Das Chris­tent­hum mit sei­ner Per­spek­ti­ve auf »Se­lig­keit« ist eine ty­pi­sche Denk­wei­se für eine lei­den­de und ver­arm­te Gat­tung Mensch. Eine vol­le Kraft will schaf­fen, lei­den, un­ter­gehn: ihr ist das christ­li­che Mu­cker-Heil eine schlech­te Mu­sik und hie­ra­ti­sche Ge­bär­den ein Ver­druß.

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223.

Ar­muth, De­muth und Keusch­heit –ge­fähr­li­che und ver­leum­de­ri­sche Idea­le, aber, wie Gif­te in ge­wis­sen Krank­heits­fäl­len, nütz­li­che Heil­mit­tel, z. B. in der rö­mi­schen Kai­ser­zeit.

Alle Idea­le sind ge­fähr­lich: weil sie das That­säch­li­che er­nied­ri­gen und brand­mar­ken; alle sind Gif­te, aber als zeit­wei­li­ge Heil­mit­tel un­ent­behr­lich.

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224.

Gott schuf den Men­schen glück­lich, mü­ßig, un­schul­dig und un­s­terb­lich: un­ser wirk­li­ches Le­ben ist ein falsches, ab­ge­fal­le­nes, sünd­haf­tes Da­sein, eine Straf-Exis­tenz … Das Lei­den, der Kampf, die Ar­beit, der Tod wer­den als Ein­wän­de und Fra­ge­zei­chen ge­gen das Le­ben ab­ge­schätzt, als et­was Un­na­tür­li­ches, Et­was, das nicht dau­ern soll; ge­gen das man Heil­mit­tel braucht – und hat! …

Die Mensch­heit hat von Adam an bis jetzt sich in ei­nem un­nor­ma­len Zu­stan­de be­fun­den: Gott selbst hat sei­nen Sohn für die Schuld Adam’s her­ge­ge­ben, um die­sem un­nor­ma­len Zu­stan­de ein Ende zu ma­chen: der na­tür­li­che Cha­rak­ter des Le­bens ist ein Fluch; Chris­tus giebt Dem, der an ihn glaubt, den Nor­mal-Zu­stand zu­rück: er macht ihn glück­lich, mü­ßig und un­schul­dig. – Aber die Erde hat nicht an­ge­fan­gen, frucht­bar zu sein ohne Ar­beit; die Wei­ber ge­bä­ren nicht ohne Schmer­zen Kin­der; die Krank­heit hat nicht auf­ge­hört; die Gläu­bigs­ten be­fin­den sich hier so schlecht wie die Ungläu­bigs­ten. Nur daß der Mensch vom To­de und von der Sün­de be­freit ist– Be­haup­tun­gen, die kei­ne Con­trol­le zu­las­sen –, das hat die Kir­che umso be­stimm­ter be­haup­tet. »Er ist frei von Sün­de« – nicht durch sein Thun, nicht durch einen ri­go­ro­sen Kampf sei­ner­seits, son­dern durch die That der Er­lö­sung frei­ge­kauf­t – folg­lich voll­kom­men, un­schul­dig, pa­ra­die­sisch … Das wah­re Le­ben nur ein Glau­be (d. h. ein Selbst­be­trug, ein Irr­sinn). Das gan­ze rin­gen­de, kämp­fen­de, wirk­li­che Da­sein voll Glanz und Fins­ter­niß nur ein schlech­tes, falsches Da­sein: von ihm er­löst wer­den ist die Auf­ga­be.

»Der Mensch un­schul­dig, mü­ßig, un­s­terb­lich, glück­lich« – die­se Con­cep­ti­on der »höchs­ten Wünsch­bar­keit« ist vor Al­lem zu kri­ti­si­ren. Wa­rum ist die Schuld, die Ar­beit, der Tod, das Lei­den ( un­d, christ­lich ge­re­det, die Er­kennt­niß …) wi­der die höchs­te Wünsch­bar­keit? – Die fau­len christ­li­chen Be­grif­fe »Se­lig­keit«, »Un­schuld«, »Uns­terb­lich­keit« – – –

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225.

Es fehlt der ex­cen­tri­sche Be­griff der »Hei­lig­keit«, – »Gott« und »Mensch« sind nicht aus­ein­an­der­ge­ris­sen. Das »Wun­der« fehlt – es giebt gar nicht jene Sphä­re: die ein­zi­ge, die in Be­tracht kommt, ist die »geist­li­che« (d. h. sym­bo­lisch-psy­cho­lo­gi­sche). Als dé­ca­dence: Sei­ten­stück zum »Epi­ku­reis­mus« … Das Pa­ra­dies, nach grie­chi­schem Be­griff, auch nur der »Gar­ten Epi­kur’s«.

Es fehlt die Auf­ga­be in ei­nem sol­chen Le­ben: – es will Nichts; – eine Form der »epi­ku­ri­schen Göt­ter«; – es fehlt al­ler Grun­d, noch Zie­le zu set­zen, – Kin­der zu ha­ben: – Al­les ist er­reicht.

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226.

Sie ver­ach­te­ten den Leib: sie lie­ßen ihn au­ßer Rech­nung: mehr noch, sie be­han­del­ten ihn wie einen Feind. Ihr Wahn­witz war, zu glau­ben, man kön­ne eine »schö­ne See­le« in ei­ner Miß­ge­burt von Ca­da­ver her­um­tra­gen … Um das auch An­dern be­greif­lich zu ma­chen, hat­ten sie nö­thig, den Be­griff »schö­ne See­le« an­ders an­zu­set­zen, den na­tür­li­chen Werth um­zu­wert­hen, bis end­lich ein blei­ches, krank­haf­tes, idio­tisch-schwär­me­ri­sches We­sen als Voll­kom­men­heit, als »eng­lisch«, als Ver­klä­rung, als hö­he­rer Mensch emp­fun­den wur­de.

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227.

Die Un­wis­sen­heit in psy­cho­lo­gics – der Christ hat kein Ner­ven­sys­tem –; die Ver­ach­tung und das Will­kür­li­che Weg­se­hen-wol­len von den For­de­run­gen des Lei­bes, von der Ent­de­ckung des Lei­bes; die Voraus­set­zung, daß es so der hö­he­ren Na­tur des Men­schen ge­mäß sei, – daß es der See­le nothwen­dig zu Gute kom­me –; die grund­sätz­li­che Re­duk­ti­on al­ler Ge­sammt-Ge­füh­le des Lei­bes auf mo­ra­li­sche Wert­he; die Krank­heit selbst be­dingt ge­dacht durch die Moral, etwa als Stra­fe oder als Prü­fung oder auch als Heils-Zu­stand, in dem der Mensch voll­kom­me­ner wird, als er es in der Ge­sund­heit sein könn­te (– der Ge­dan­ke Pas­cal’s), un­ter Um­stän­den das frei­wil­li­ge Sich-krank-ma­chen –

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228.

Was ist denn das, die­ser Kampf des Chris­ten »wi­der die Na­tur«? Wir wer­den uns ja durch sei­ne Wor­te und Aus­le­gun­gen nicht täu­schen las­sen! Es ist Na­tur wi­der Et­was, das auch Na­tur ist. Furcht bei Vie­len, Ekel bei Man­chen, eine ge­wis­se Geis­tig­keit bei An­de­ren, die Lie­be zu ei­nem Ide­al ohne Fleisch und Be­gier­de, zu ei­nem »Aus­zug der Na­tur« bei den Höchs­ten – die­se wol­len es ih­rem Idea­le gleicht­hun. Es ver­steht sich, daß De­müthi­gung an Stel­le des Selbst­ge­fühls, ängst­li­che Vor­sicht vor den Be­gier­den, die Lost­ren­nung von den ge­wöhn­li­chen Pf­lich­ten (wo­durch wie­der ein hö­he­res Rang­ge­fühl ge­schaf­fen wird), die Auf­re­gung ei­nes be­stän­di­gen Kamp­fes um un­ge­heu­re Din­ge, die Ge­wohn­heit der Ge­fühls-Ef­fu­si­on – al­les einen Ty­pus zu­sam­men­setzt: in ihm über­wiegt die Reiz­bar­keit ei­nes ver­küm­mern­den Lei­bes, aber die Ner­vo­si­tät und ihre In­spi­ra­ti­on wird an­ders in­ter­pre­tir­t. Der Ge­schmack die­ser Art Na­tu­ren geht ein­mal 1) auf das Spitz­fin­di­ge, 2) auf das Blu­mi­ge, 3) auf die ex­tre­men Ge­füh­le. – Die na­tür­li­chen Hän­ge be­frie­di­gen sich doch, aber un­ter ei­ner neu­en Form der In­ter­pre­ta­ti­on, z. B. als »Recht­fer­ti­gung vor Gott«, »Er­lö­sungs­ge­fühl in der Gna­de« (– je­des un­ab­weis­ba­re Wohl­ge­fühl wird so in­ter­pre­tiert! –), der Stolz, die Wol­lust usw. – All­ge­mei­nes Pro­blem: was wird aus dem Men­schen, der sich das Na­tür­li­che ver­läs­tert und prak­tisch ver­leug­net und ver­küm­mert? That­säch­lich er­weist sich der Christ als eine über­trei­ben­de Form der Selbst­be­herr­schung: um sei­ne Be­gier­den zu bän­di­gen, scheint er nö­thig zu ha­ben, sie zu ver­nich­ten oder zu kreu­zi­gen.

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229.

Der Mensch kann­te sich nicht phy­sio­lo­gisch, die gan­ze Ket­te der Jahr­tau­sen­de ent­lang: er kennt sich auch heu­te noch nicht. Zu wis­sen z. B., daß man ein Ner­ven­sys­tem habe (– aber kei­ne »See­le« –), bleibt im­mer noch das Vor­recht der Un­ter­rich­tets­ten. Aber der Mensch be­gnügt sich nicht, hier nicht zu wis­sen. Man muß sehr hu­man sein, um zu sa­gen »ich weiß das nicht«, um sich Igno­ran­zen zu gön­nen.

Ge­setzt, er lei­det oder er ist in gu­ter Lau­ne, so zwei­felt er nicht, den Grund da­für zu fin­den, wenn er nur sucht. Also sucht er ihn … In Wahr­heit kann er den Grund nicht fin­den, weil er nicht ein­mal arg­wöhnt, wo er zu su­chen hät­te … Was ge­schieht? … Er nimmt eine Fol­ge sei­nes Zu­stan­des als des­sen Ur­sa­che, z. B. ein Werk in gu­ter Lau­ne un­ter­nom­men (im Grun­de un­ter­nom­men, weil schon die gute Lau­ne den Muth dazu gab) ge­räth: ec­co, das Werk ist der Grun­d, zur gu­ten Lau­ne … That­säch­lich war wie­der­um das Ge­lin­gen be­dingt durch Das­sel­be, was die gute Lau­ne be­ding­te, – durch die glück­li­che Coor­di­na­ti­on der phy­sio­lo­gi­schen Kräf­te und Sys­te­me.

 

Er be­fin­det sich schlecht: und folg­lich wird er mit ei­ner Sor­ge, ei­nem Skru­pel, ei­ner Selbst­kri­tik nicht fer­tig … In Wahr­heit glaubt der Mensch, sein schlech­ter Zu­stand sei die Fol­ge sei­nes Skru­pels, sei­ner »Sün­de«, sei­ner »Selbst­kri­tik« …

Aber der Zu­stand der Wie­der­her­stel­lung, oft nach ei­ner tie­fen Er­schöp­fung und Pro­stra­ti­on, kehrt zu­rück. »Wie ist das mög­lich, daß ich so frei, so er­löst bin? Das ist ein Wun­der; das kann nur Gott mir gethan ha­ben.« – Schluß: »er hat mir mei­ne Sün­de ver­ge­ben« …

Daraus er­giebt sich eine Prak­tik: um Sün­den­ge­füh­le an­zu­re­gen, um Zer­knir­schun­gen vor­zu­be­rei­ten, hat man den Kör­per in einen krank­haf­ten und ner­vö­sen Zu­stand zu brin­gen. Die Metho­dik da­für ist be­kannt. Wie bil­lig, arg­wöhnt man nicht die cau­sa­le Lo­gik der That­sa­che: man hat eine re­li­gi­öse Deu­tung für die Kas­tei­ung des Flei­sches, sie er­scheint als Zweck an sich, wäh­rend sie sich nur als Mit­tel er­giebt, um jene krank­haf­te In­di­ge­s­ti­on der Reue mög­lich zu ma­chen (die »idée fixe« der Sün­de, die Hyp­no­ti­si­rung der Hen­ne durch den Strich »Sün­de«). Die Miß­hand­lung des Lei­bes er­zeugt den Bo­den für die Rei­he der »Schuld­ge­füh­le«, d. h. ein all­ge­mei­nes Lei­den, das er­klärt sein will

And­rer­seits er­giebt sich eben­so die Metho­dik der »Er­lö­sung«: man hat jede Aus­schwei­fung des Ge­fühls durch Ge­be­te, Be­we­gun­gen, Ge­bär­den, Schwü­re her­aus­ge­for­dert, – die Er­schöp­fung folgt, oft jäh, oft un­ter epi­lep­ti­scher Form. Und – hin­ter dem Zu­stand tiefer Som­no­lenz kommt der Schein der Ge­ne­sung –, re­li­gi­ös ge­re­det: »Er­lö­sung«.

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230.

Ehe­dem hat man jene Zu­stän­de und Fol­gen der phy­sio­lo­gi­schen Er­schöp­fung, weil sie reich an Plötz­li­chem, Schreck­li­chem, Un­er­klär­li­chem und Un­be­re­chen­ba­rem sind, für wich­ti­ger ge­nom­men, als die ge­sun­den Zu­stän­de und de­ren Fol­gen. Man fürch­te­te sich: man setz­te hier eine hö­he­re Welt an. Man hat den Schlaf und Traum, man hat den Schat­ten, die Nacht, den Na­tur­schre­cken ver­ant­wort­lich ge­macht für das Ent­ste­hen zwei­er Wel­ten: vor Al­lem soll­te man die Sym­pto­me der phy­sio­lo­gi­schen Er­schöp­fung dar­auf­hin be­trach­ten. Die al­ten Re­li­gio­nen dis­ci­pli­ni­ren ganz ei­gent­lich den From­men zu ei­nem Zu­stan­de der Er­schöp­fung, wo er sol­che Din­ge er­le­ben muß … Man glaub­te in eine hö­he­re Ord­nung ein­ge­tre­ten zu sein, wo Al­les auf­hört, be­kannt zu sein. – Der Schein ei­ner hö­he­ren Macht …

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225.

Der Schlaf als Fol­ge je­der Er­schöp­fung, die Er­schöp­fung als Fol­ge je­der über­mä­ßi­gen Rei­zung …

Das Be­dürf­nis; nach Schlaf, die Ver­gött­li­chung und Adora­ti­on selbst des Be­grif­fes »Schlaf« in al­len pes­si­mis­ti­schen Re­li­gio­nen und Phi­lo­so­phien –

Die Er­schöp­fung ist in die­sem Fall eine Ras­sen-Er­schöp­fung; der Schlaf, psy­cho­lo­gisch ge­nom­men, nur ein Gleich­nis; ei­nes viel tiefe­ren und län­ge­ren Ru­hen­müs­sensIn pra­xi ist es der Tod, der hier un­ter dem Bil­de sei­nes Bru­ders, des Schla­fes, so ver­füh­re­risch wirkt …

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232.

Der gan­ze christ­li­che Buß- und Er­lö­sungs- trai­ning kann auf­ge­faßt wer­den als eine will­kür­lich er­zeug­te fo­lie cir­cu­lai­re: wie bil­lig nur in be­reits prä­des­ti­nir­ten, näm­lich mor­bid an­ge­leg­ten In­di­vi­du­en er­zeug­bar.

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233.

Ge­gen Reue und ihre rein psy­cho­lo­gi­sche Be­hand­lung. – Mit ei­nem Er­leb­nis; nicht fer­tig wei­den ist be­reits ein Zei­chen von déda­dence. Die­ses Wie­der-Auf­rei­ßen al­ter Wun­den, das Sich-Wäl­zen in Selbst­ver­ach­tung und Zer­knir­schung ist eine Krank­heit mehr, aus der nim­mer­mehr das »Heil der See­le«, son­dern im­mer nur eine neue Krank­heits­form der­sel­ben ent­ste­hen kann …

Die­se »Er­lö­sungs-Zu­stän­de« im Chris­ten sind blo­ße Wech­sel ei­nes und des­sel­ben krank­haf­ten Zu­stan­des, – Aus­le­gun­gen der epi­lep­ti­schen Kri­se un­ter ei­ner be­stimm­ten For­mel, wel­che nicht die Wis­sen­schaft, son­dern der re­li­gi­öse Wahn giebt.

Man ist auf eine krank­haf­te Ma­nier gut, wenn man krank ist … Wir rech­nen jetzt den größ­ten Theil des psy­cho­lo­gi­schen Ap­pa­ra­tes, mit dem das Chris­tent­hum ge­ar­bei­tet hat, un­ter die For­men der Hys­te­rie und der Epi­lep­soi­dis.

Die gan­ze Pra­xis der see­li­schen Wie­der­her­stel­lung muß auf eine phy­sio­lo­gi­sche Grund­la­ge zu­rück­ge­stellt wer­den: der »Ge­wis­sens­biß« als sol­cher ist ein Hin­der­niß der Ge­ne­sung, – man muß Al­les auf­zu­wie­gen su­chen durch neue Hand­lun­gen, um mög­lichst schnell dem Siecht­hum der Selbst­tor­tur zu ent­gehn … Man soll­te die rein psy­cho­lo­gi­sche Prak­tik der Kir­che und der Sek­ten als ge­sund­heits­ge­fähr­lich in Ver­ruf brin­gen… Man heilt einen Kran­ken nicht durch Ge­be­te und Be­schwö­run­gen bö­ser Geis­ter: die Zu­stän­de der »Ruhe«, die un­ter sol­chen Ein­wir­kun­gen ein­tre­ten, sind fern da­von, im psy­cho­lo­gi­schen Sin­ne Ver­trau­en zu er­we­cken …

Man ist ge­sun­d, wenn man sich über sei­nen Ernst und Ei­fer lus­tig macht, mit dem ir­gend eine Ein­zel­heit uns­res Le­bens der­ge­stalt uns hyp­no­ti­sir­t hat, wenn man beim Ge­wis­sens­biß Et­was fühlt wie beim Biß ei­nes Hun­des wi­der einen Stein, – wenn man sich sei­ner Reue schämt, –

Die bis­he­ri­ge Pra­xis, die rein psy­cho­lo­gi­sche und re­li­gi­öse, war nur aus eine Ver­än­de­rung der Sym­pto­me aus: sie hielt einen Men­schen für wie­der­her­ge­stellt, wenn er vor dem Kreu­ze sich er­nied­rig­te und Schwü­re that, ein gu­ter Mensch zu sein … Aber ein Ver­bre­cher, der mit ei­nem ge­wis­sen düs­tern Ernst sein Schick­sal fest­hält und nicht sei­ne That hin­ter­drein ver­leum­det, hat mehr Ge­sund­heit der See­le … Die Ver­bre­cher, mit de­nen Do­stoiew­sky zu­sam­men im Zucht­hau­se leb­te, wa­ren sammt und son­ders un­ge­bro­che­ne Na­tu­ren, – sind sie nicht hun­dert­mal mehr werth als ein »ge­bro­che­ner« Christ?

(– Ich emp­feh­le die Be­hand­lung des Ge­wis­sens­bis­ses mit der Mit­chell-Cur – –)

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234.

Der Ge­wis­sens­biß: Zei­chen, daß der Cha­rak­ter der That nicht ge­wach­sen ist. Es giebt Ge­wis­sens­bis­se auch nach gu­ten Wer­ken: ihr Un­ge­wöhn­li­ches, das was aus dem al­ten Mi­lieu her­aus­hebt. –

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235.

Ge­gen die Reu­e. – Ich lie­be die­se Art Feig­heit ge­gen die ei­ge­ne That nicht; man soll sich selbst nicht im Stich las­sen un­ter dem An­sturz un­er­war­te­ter Schan­de und Be­dräng­niß. Ein ex­tre­mer Stolz ist da eher am Platz. Zu­letzt, was hilft es! Kei­ne That wird da­durch, daß sie be­reut wird, un­gethan; eben­so­we­nig da­durch, daß sie »ver­ge­ben« oder daß sie »ge­sühnt« wird. Man müß­te Theo­lo­ge sein, um an eine schul­den­til­gen­de Macht zu glau­ben: wir Im­mo­ra­lis­ten zie­hen es vor, nicht an »Schuld« zu glau­ben. Wir hal­ten da­für, daß jed­we­der­lei Hand­lung in der Wur­zel werth-iden­tisch ist, – ins­glei­chen daß Hand­lun­gen, wel­che sich ge­gen uns wen­den, eben­da­rum im­mer noch, öko­no­misch ge­rech­net, nütz­li­che, all­ge­mein-wünsch­ba­re Hand­lun­gen sein kön­nen. – Im ein­zel­nen Fall wer­den wir zu­ge­ste­hen, daß eine That uns leicht hät­te er­spar­t blei­ben kön­nen, – nur die Um­stän­de ha­ben uns zu ihr be­güns­tigt. Wer von uns hät­te nicht, von den Um­stän­den be­güns­tig­t, schon die gan­ze Ska­la der Ver­bre­chen durch­ge­macht? … Man soll des­halb nie sa­gen: »das und das hät­test du nicht thun sol­len«, son­dern im­mer nur: »wie selt­sam, daß ich das nicht schon hun­dert­mal gethan habe!« – Zu­letzt sind die we­nigs­ten Hand­lun­gen ty­pi­sche Hand­lun­gen und wirk­lich Ab­bre­via­tu­ren ei­ner Per­son; und in An­be­tracht, wie we­nig Per­son die Meis­ten sind, wird sel­ten ein Mensch durch eine ein­zel­ne That cha­rak­te­ri­sir­t. That der Um­stän­de, bloß epi­der­mal, bloß re­flex­ma­ßig als Aus­lö­sung auf einen Reiz er­fol­gend: lan­ge be­vor die Tie­fe un­se­res Seins da­von be­rührt, dar­über be­fragt wor­den ist. Ein Zorn, ein Griff, ein Mes­ser­stich: was ist dar­an von Per­son! – Die That bringt häu­fig eine Art Starr­blick und Un­frei­heit mit sich: so­daß der Thä­ter durch ihre Erin­ne­rung wie ge­bannt ist und sich selbst bloß als Zu­be­hör zu ihr noch fühlt. Die­se geis­ti­ge Stö­rung, eine Form von Hv­p­no­ti­si­rung, hat man vor Al­lem zu be­kämp­fen: eine ein­zel­ne That, sie sei wel­che sie sei, ist doch im Ver­gleich mit Al­lem, was man thut, gleich Null und darf weg­ge­rech­net wer­den, ohne daß die Rech­nung falsch wür­de. Das un­bil­li­ge In­ter­es­se, wel­ches die Ge­sell­schaft ha­ben kann, uns­re gan­ze Exis­tenz nur in Ei­ner Rich­tung nach­zu­rech­nen, wie als ob ihr Sinn sei, eine ein­zel­ne That her­aus­zu­trei­ben, soll­te den Thä­ter selbst nicht an­ste­cken: lei­der ge­schieht es fast be­stän­dig. Das hängt dar­an, daß je­der That mit un­ge­wöhn­li­chen Fol­gen eine geis­ti­ge Stö­rung folgt: gleich­gül­tig selbst, ob die­se Fol­gen gute oder schlim­me sind. Man sehe einen Ver­lieb­ten an, dem ein Ver­spre­chen zu Theil ge­wor­den; einen Dich­ter, dem ein Thea­ter Bei­fall klatscht: sie un­ter­schei­den sich, was den tor­por in­tel­lec­tua­lis be­trifft, in Nichts von dem An­ar­chis­ten, den man mit ei­ner Haus­su­chung über­fällt.