Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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– Die Ver­wechs­lung zwei­er gänz­lich ver­schie­de­ner Zu­stän­de: z.B. die Ruhe der Stär­ke, wel­che we­sent­lich Ent­hal­tung der Re­ak­ti­on ist (der Ty­pus der Göt­ter, wel­che nichts be­wegt), – und die Ru­he der Er­schöp­fung, die Starr­heit, bis zur Anäs­the­sie. Alle phi­lo­so­phisch-as­ke­ti­schen Pro­ce­du­ren stre­ben nach der zwei­ten, aber mei­nen in der That die ers­te … denn sie le­gen dem er­reich­ten Zu­stan­de die Prä­di­ka­te bei, wie als ob ein gött­li­cher Zu­stand er­reicht sei.

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48

Das ge­fähr­lichs­te Miß­ver­ständ­nis. – Es giebt einen Be­griff, der an­schei­nend kei­ne Ver­wechs­lung, kei­ne Zwei­deu­tig­keit zu­läßt: das ist der der Er­schöp­fung. Die­se kann er­wor­ben sein; sie kann er­erbt sein, – in je­dem Fal­le ver­än­dert sie den Aspekt der Din­ge, den Werth der Din­ge

Im Ge­gen­satz zu Dem, der aus der Fül­le, wel­che er dar­stellt und fühlt, un­frei­wil­lig ab­gieb­t an die Din­ge, sie vol­ler, mäch­ti­ger, zu­kunfts­rei­cher sieht, – der je­den­falls schen­ken kann –, ver­klei­nert und ver­hunzt der

(Nr. 49. folgt wei­ter un­ten. Re.)

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Theo­rie der Er­schöp­fung. – Das Las­ter, die Geis­tes­kran­ken (resp. die Ar­tis­ten …), die Ver­bre­cher, die An­ar­chis­ten – das sind nicht die un­ter­drück­ten Klas­sen, son­dern der Aus­wur­f der bis­he­ri­gen Ge­sell­schaft al­ler Klas­sen …

Mit der Ein­sicht, daß alle uns­re Stän­de durch­drun­gen sind von die­sen Ele­men­ten, ha­ben wir be­grif­fen, daß die mo­der­ne Ge­sell­schaft kei­ne »Ge­sell­schaft«, kein »Kör­per« ist, son­dern ein kran­kes Con­glo­me­rat von Tschan­dala’s, – eine Ge­sell­schaft, die die Kraft nicht mehr hat, zu ex­kre­ti­ren.

In­wie­fern durch das Zu­sam­men­le­ben seit Jahr­hun­der­ten die Krank­haf­tig­keit viel tiefer geht:

 -------------------------- ------------------------ die mo­der­ne Tu­gend, als Krank­heits-For­men. die mo­der­ne Geis­tig­keit, uns­re Wis­sen­schaft

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Der Zu­stand der Cor­rup­tion. – Die Zu­sam­men­ge­hö­rig­keit al­ler Cor­rup­ti­ons-For­men zu be­grei­fen; und da­bei nicht die christ­li­che Cor­rup­ti­on zu ver­ges­sen (Pas­cal als Ty­pus); eben­so die so­cia­lis­tisch-kom­mu­nis­ti­sche Cor­rup­ti­on (eine Fol­ge der christ­li­chen; – na­tur­wis­sen­schaft­lich ist die höchs­te So­cie­täts-Con­cep­ti­on der So­cia­lis­ten die nied­rigs­te in der Rang­ord­nung der So­cie­tä­ten); die »Jen­seits«-Cor­rup­ti­on: wie als ob es au­ßer der wirk­li­chen Welt, der des Wer­dens, eine Welt des Sei­en­den gäbe.

Hier darf es kei­nen Ver­trag ge­ben: hier muß man aus­mer­zen, ver­nich­ten, Krieg füh­ren, – man muß das christ­lich-ni­hi­lis­ti­sche Wert­h­maaß über­all noch her­aus­ziehn und es un­ter je­der Mas­ke be­kämp­fen … z. B. aus der jet­zi­gen So­cio­lo­gie, aus der jet­zi­gen Mu­si­k, aus dem jet­zi­gen Pes­si­mis­mus (– Al­les For­men des christ­li­chen Wert­h­ideals –).

Ent­we­der Eins o­der das An­de­re ist wahr: wahr, das heißt hier den Ty­pus Mensch em­por­he­bend …

Der Pries­ter, der Seel­sor­ger, als ver­werf­li­che Da­seins­for­men. Die ge­samm­te Er­zie­hung bis­her hül­f­los, halt­los, ohne Schwer­ge­wicht, mit dem Wi­der­spruch der Wert­he be­haf­tet –

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52.

Nicht die Na­tur ist un­mo­ra­lisch, wenn sie ohne Mit­leid für die De­ge­ner­ir­ten ist: das Wachst­hum der phy­sio­lo­gi­schen und mo­ra­li­schen Übel im mensch­li­chen Ge­schlecht ist um­ge­kehrt die Fol­ge ei­ner krank­haf­ten und un­na­tür­li­chen Moral. Die Sen­si­bi­li­tät der Mehr­zahl der Men­schen ist krank­haft und un­na­tür­lich.

Woran hängt es, daß die Mensch­heit cor­rup­t ist in mo­ra­li­scher und phy­sio­lo­gi­scher Be­zie­hung? – Der Leib geht zu Grun­de, wenn ein Or­gan al­ter­ir­t ist. Man kann nicht das Recht des Al­truis­mus auf die Phy­sio­lo­gie zu­rück­füh­ren, eben­so­we­nig das Recht auf Hül­fe, auf Gleich­heit der Loo­se: das sind al­les Prä­mi­en für die De­ge­ner­ir­ten und Schlecht­weg­ge­kom­me­nen.

Es giebt k­ei­ne So­li­da­ri­tät in ei­ner Ge­sell­schaft, wo es un­frucht­ba­re, un­pro­duk­ti­ve und zer­stö­re­ri­sche Ele­men­te giebt: die üb­ri­gens noch ent­ar­te­te­re Nach­kom­men ha­ben wer­den, als sie selbst sind.

Er­schöpf­te Al­les, was er sieht, – er ver­arm­t den Werth: er ist schäd­lich …

Hier­über scheint kein Fehl­griff mög­lich: trotz­dem ent­hält die Ge­schich­te die schau­er­li­che That­sa­che, daß die Er­schöpf­ten im­mer ver­wech­sel­t wor­den sind mit den Volls­ten – und die Volls­ten mit den Schäd­lichs­ten.

Der Arme an Le­ben, der Schwa­che, ver­armt noch das Le­ben: der Rei­che an Le­ben, der Star­ke, be­rei­chert es. Der Ers­te ist des­sen Pa­ra­sit: der Zwei­te ein Hin­zu-Schen­ken­der … Wie ist eine Ver­wechs­lung mög­lich? …

Wenn der Er­schöpf­te mit der Ge­bär­de der höchs­ten Ak­ti­vi­tät und Ener­gie auf­trat (wenn die Ent­ar­tung einen Ex­ceß der geis­ti­gen oder ner­vö­sen Ent­la­dung be­ding­te), dann ver­wech­sel­te man ihn mit dem Rei­chen … Er er­reg­te Furcht … Der Cul­tus des Nar­ren ist im­mer auch der Cul­tus des An-Le­ben-Rei­chen, des Mäch­ti­gen. Der Fa­na­ti­ker, der Be­ses­se­ne, der re­li­gi­öse Epi­lep­ti­ker, alle Ex­zen­tri­schen sind als höchs­te Ty­pen der Macht emp­fun­den wor­den: als gött­lich.

Die­se Art Stär­ke, die Furcht er­regt, galt vor Al­lem als gött­lich: von hier nahm die Au­to­ri­tät ih­ren Aus­gangs­punkt, hier in­ter­pre­tir­te, hör­te, such­te man Weis­heit … Hieraus ent­wi­ckel­te sich, über­all bei­na­he, ein Wil­le zur »Ver­gött­li­chung«, d. h. zur ty­pi­schen Ent­ar­tung von Geist, Leib und Ner­ven: ein Ver­such, den Weg zu die­ser hö­he­ren Art Sein zu fin­den. Sich krank, sich toll ma­chen, die Sym­pto­me der Zer­rüt­tung pro­vo­ci­ren – das hieß stär­ker, über­mensch­li­cher, furcht­ba­rer, wei­ser wer­den. Man glaub­te da­mit so reich an Macht zu wer­den, daß man ab­ge­ben konn­te. Über­all, wo an­ge­be­tet wor­den ist, such­te man Ei­nen, der ab­ge­ben kann.

Hier war ir­re­füh­rend die Er­fah­rung des Rau­sches, Die­ser ver­mehr­t im höchs­ten Gra­de das Ge­fühl der Macht, folg­lich, naiv be­urt­heilt, die Macht. Auf der höchs­ten Stu­fe der Macht muß­te der Berausch­tes­te stehn, der Ek­sta­ti­sche. (– Es giebt zwei Aus­gangs­punk­te des Rau­sches: die über­große Fül­le des Le­bens und einen Zu­stand von krank­haf­ter Er­näh­rung des Ge­hirns.)

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49.

Er­wor­be­ne, nicht er­erb­te Er­schöp­fung: 1) un­zu­rei­chen­de Er­näh­rung, oft aus Un­wis­sen­heit über Er­näh­rung, z. B. bei Ge­lehr­ten; 2) die ero­ti­sche Prä­co­ci­tät: der Fluch vor­nehm­lich der fran­zö­si­schen Ju­gend, der Pa­ri­ser vor­an: wel­che aus den Ly­ceen be­reits ver­hunzt und be­schmutzt in die Welt tritt – und nicht wie­der von der Ket­te ver­ächt­li­cher Nei­gun­gen los­kommt, ge­gen sich selbst iro­nisch und schnö­de – Ga­lee­renskla­ven, mit al­ler Ver­fei­ne­rung (– üb­ri­gens in den häu­figs­ten Fäl­len be­reits Sym­ptom der Ras­sen- und Fa­mi­li­en- dé­ca­dence, wie alle Hy­per-Reiz­bar­keit; ins­glei­chen als Con­ta­gi­um des Mi­lieu’s –: auch be­stimm­bar zu sein durch die Um­ge­bung, ge­hört zur dé­ca­dence –); 3) der Al­ko­ho­lis­mus, nicht der In­stinkt, son­dern die Ge­wöh­nung, die stu­pi­de Nach­ah­mung, die fei­ge oder eit­le An­pas­sung an ein herr­schen­des ré­gi­me: – Wel­che Wohl­that ist ein Jude un­ter Deut­schen! Wie viel Stumpf­heit, wie fläch­sern der Kopf, wie blau das Auge; der Man­gel an e­sprit in Ge­sicht, Wort, Hal­tung; das fau­le Sich-stre­cken, das deut­sche Er­ho­lungs-Be­dürf­nis;, das nicht aus Über­ar­bei­tung, son­dern aus der wid­ri­gen Rei­zung und Über­rei­zung durch Al­ko­ho­li­ka her­kommt …

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53.

Es giebt eine tie­fe und voll­kom­men un­be­wuß­te Wir­kung der dé­ca­dence selbst auf die Idea­le der Wis­sen­schaft: un­se­re gan­ze So­cio­lo­gie ist der Be­weis für die­sen Satz. Ihr bleibt vor­zu­wer­fen, daß sie nur das Ver­falls-Ge­bil­de der So­cie­tät aus Er­fah­rung kennt und un­ver­meid­lich die ei­ge­nen Ver­falls-In­stink­te als Norm des so­cio­lo­gi­schen Urt­heils nimmt.

Das nie­der­sin­ken­de Le­ben im jet­zi­gen Eu­ro­pa for­mu­lirt in ih­nen sei­ne Ge­sell­schafts-Idea­le: sie se­hen alle zum Ver­wech­seln dem Ide­al al­ter über­leb­ter Ras­sen ähn­lich …

Der He­er­den­in­stink­t so­dann – eine jetzt sou­ve­rän ge­wor­de­ne Macht – ist et­was Grund­ver­schie­de­nes vom In­stinkt ei­ner a­ri­sto­kra­ti­schen So­cie­tät: und es kommt auf den Werth der Ein­hei­ten an, was die Sum­me zu be­deu­ten hat … Uns­re gan­ze So­cio­lo­gie kennt gar kei­nen an­dern In­stinkt als den der He­er­de, d. h. der sum­mir­ten Nul­len, – wo jede Null »glei­che Rech­te« hat, wo es tu­gend­haft ist, Null zu sein …

Die Wer­thung, mit der heu­te die ver­schie­de­nen For­men der So­cie­tät be­urt­heilt wer­den, ist ganz und gar Eins mit je­ner, wel­che dem Frie­den einen hö­he­ren Werth zu­ert­heilt als dem Krieg: aber dies Urt­heil ist an­ti­bio­lo­gisch, ist selbst eine Aus­ge­burt der dé­ca­dence des Le­bens … Das Le­ben ist eine Fol­ge des Kriegs, die Ge­sell­schaft selbst ein Mit­tel zum Krieg … Herr Her­bert Spencer ist als Bio­lo­ge ein dé­ca­dent, – er ist es auch als Mora­list (er steht im Sieg des Al­truis­mus et­was Wün­schens­wer­tes!!!).

 

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54.

Ich habe das Glück, nach gan­zen Jahr­tau­sen­den der Ver­ir­rung und Ver­wir­rung den Weg wie­der­ge­fun­den zu ha­ben, der zu ei­nem Ja und ei­nem Nein führt.

Ich leh­re das Nein zu Al­lem, was schwach macht, – was er­schöpft.

Ich leh­re das Ja zu Al­lem, was stärkt, was Kraft auf­spei­chert, was das Ge­fühl der Kraft recht­fer­tigt.

Man hat we­der das Eine noch das And­re bis­her ge­lehrt: man hat Tu­gend, Ent­selbs­tung, Mit­lei­den, man hat selbst Ver­nei­nung des Le­bens ge­lehrt. Dies Al­les sind Wert­he der Er­schöpf­ten.

Ein lan­ges Nach­den­ken über die Phy­sio­lo­gie der Er­schöp­fung zwang mich zu der Fra­ge, wie­weit die Urt­hei­le Er­schöpf­ter in die Welt der Wert­he ein­ge­drun­gen sei­en.

Mein Er­geb­niß war so über­ra­schend wie mög­lich, selbst für mich, der in man­cher frem­den Welt schon zu Hau­se war: ich fand alle obers­ten Wer­thurt­hei­le, alle, die Herr ge­wor­den sind über die Mensch­heit, min­des­tens zahm ge­wor­de­ne Mensch­heit, zu­rück­führ­bar auf die Urt­hei­le Er­schöpf­ter.

Un­ter den hei­ligs­ten Na­men zog ich die zer­stö­re­ri­schen Ten­den­zen her­aus; man hat Gott ge­nannt, was schwächt, Schwä­che lehrt, Schwä­che in­fi­cirt … ich fand, daß der »gute Mensch« eine Selbst­be­ja­hungs­form der dé­ca­dence ist.

Jene Tu­gend, von der noch Scho­pen­hau­er ge­lehrt hat, daß sie die obers­te, die ein­zi­ge und das Fun­da­ment al­ler Tu­gen­den sei: eben je­nes Mit­lei­den er­kann­te ich als ge­fähr­li­cher, als ir­gend ein Las­ter. Die Aus­wahl in der Gat­tung, ihre Rei­ni­gung vom Ab­fall grund­sätz­lich kreu­zen – das hieß bis­her Tu­gend par ex­cel­lence

Man soll das Ver­häng­nis; in Ehren hal­ten; das Ver­häng­nis;, das zum Schwa­chen sagt »geh zu Grun­de!«…

Man hat es Got­t ge­nannt, daß man dem Ver­häng­niß wi­der­streb­te, – daß man die Mensch­heit verd­arb und ver­fau­len mach­te… Man soll den Na­men Got­tes nicht un­nütz­lich füh­ren…

Die Ras­se ist ver­dor­ben – nicht durch ihre Las­ter, son­dern ihre Igno­ranz: sie ist ver­dor­ben, weil sie die Er­schöp­fung nicht als Er­schöp­fung ver­stand: die phy­sio­lo­gi­schen Ver­wechs­lun­gen sind die Ur­sa­che al­les Übels…

Die Tu­gend ist un­ser großes Miß­ver­ständ­niß.

Pro­blem: wie ka­men die Er­schöpf­ten dazu, die Ge­set­ze der Wert­he zu ma­chen? An­ders ge­fragt: wie ka­men Die zur Macht, die die Letz­ten sind?… Wie kam der In­stinkt des Thie­res Mensch auf den Kopf zu stehn?…

4. Die Krisis: Nihilismus und Wiederkunftsgedanke.

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55.

Ex­tre­me Po­si­tio­nen wer­den nicht durch er­mä­ßig­te ab­ge­löst, son­dern wie­der­um durch ex­tre­me, aber um­ge­kehr­te. Und so ist der Glau­be an die ab­so­lu­te Im­mo­ra­li­tät der Na­tur, an die Zweck- und Sinn­lo­sig­keit der psy­cho­lo­gisch-nothwen­di­ge Af­fek­t, wenn der Glau­be an Gott und eine es­sen­ti­ell mo­ra­li­sche Ord­nung nicht mehr zu hal­ten ist. Der Ni­hi­lis­mus er­scheint jetzt, nicht weil die Un­lust am Da­sein grö­ßer wäre als frü­her, son­dern weil man über­haupt ge­gen einen »Sinn« im Übel, ja im Da­sein miß­trau­isch ge­wor­den ist. Ei­ne In­ter­pre­ta­ti­on gieng zu Grun­de: weil sie aber als die In­ter­pre­ta­ti­on galt, er­scheint es, als ob es gar kei­nen Sinn im Da­sein gebe, als ob Al­les um­sonst sei.

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Daß dies »Um­sonst!« der Cha­rak­ter un­se­res ge­gen­wär­ti­gen Ni­hi­lis­mus ist, bleibt nach­zu­wei­sen. Das Miß­trau­en ge­gen un­se­re frü­he­ren Wert­schät­zun­gen stei­gert sich bis zur Fra­ge: »sind nicht alle ›Wert­he‹ Lock­mit­tel, mit de­nen die Ko­mö­die sich in die Län­ge zieht, aber durch­aus nicht ei­ner Lö­sung nä­her­kommt?« Die Dau­er, mit ei­nem »Um­sonst«, ohne Ziel und Zweck, ist der läh­mends­te Ge­dan­ke, na­ment­lich noch wenn man be­greift, daß man gefoppt wird und doch ohne Macht ist, sich nicht fop­pen zu las­sen.

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Den­ken wir die­sen Ge­dan­ken in sei­ner furcht­bars­ten Form: das Da­sein; so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber un­ver­meid­lich wie­der­keh­rend, ohne ein Fina­le in’s Nichts: »die ewi­ge Wie­der­kehr«.

Das ist die ex­trems­te Form des Ni­hi­lis­mus: das Nichts (das »Sinn­lo­se«) ewig!

Eu­ro­päi­sche Form des Bud­dhis­mus: Ener­gie des Wis­sens und der Kraft zwingt zu ei­nem sol­chen Glau­ben. Es ist die wis­sen­schaft­lichs­te al­ler mög­li­chen Hy­po­the­sen. Wir leug­nen Schluß-Zie­le: hät­te das Da­sein eins, so müß­te es er­reicht sein.

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Da be­greift man, daß hier ein Ge­gen­satz zum Pan­the­is­mus an­ge­strebt wird: denn »Al­les voll­kom­men, gött­lich, ewig« zwingt e­ben­falls zu ei­nem Glau­ben an die »ewi­ge Wie­der­kunft«. Fra­ge: ist mit der Moral auch die­se pan­theis­ti­sche Ja-Stel­lung zu al­len Din­gen un­mög­lich ge­macht? Im Grun­de ist ja nur der mo­ra­li­sche Gott über­wun­den. Hat es einen Sinn, sich einen Gott »jen­seits von Gut und Böse« zu den­ken? Wäre ein Pan­the­is­mus in die­sem Sin­ne mög­lich? Brin­gen wir die Zweck­vor­stel­lung aus dem Pro­ces­se weg und be­ja­hen wir trotz­dem den Pro­ceß? – Das wäre der Fall, wenn Et­was in­ner­halb je­nes Pro­ces­ses in je­dem Mo­men­te des­sel­ben er­reicht wür­de – und im­mer das Glei­che. Spi­no­za ge­wann eine sol­che be­ja­hen­de Stel­lung, in­so­fern je­der Mo­ment eine lo­gi­sche No­thwen­dig­keit hat: und er tri­um­phir­te mit sei­nem lo­gi­schen Grund­in­stink­te über eine sol­che Welt­be­schaf­fen­heit.

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Aber sein Fall ist nur ein Ein­zel-Fall. Je­der Grund­cha­rak­ter­zug, der je­dem Ge­sche­hen zu Grun­de liegt, der sich in je­dem Ge­sche­hen aus­drückt, müß­te, wenn er von ei­nem In­di­vi­du­um als sein Grund­cha­rak­ter­zug emp­fun­den wür­de, die­ses In­di­vi­du­um dazu trei­ben, tri­um­phi­rend je­den Au­gen­blick des all­ge­mei­nen Da­seins gut­zu­hei­ßen. Es käme eben dar­auf an, daß man die­sen Grund­cha­rak­ter­zug bei sich als gut, wert­h­voll, mit Lust emp­fin­det.

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Nun hat die Moral das Le­ben vor der Verzweif­lung und dem Sprung in’s Nichts bei sol­chen Men­schen und Stän­den ge­schützt, wel­che von Men­schen ver­ge­waltt­hä­tigt und nie­der­ge­drückt wur­den: denn die Ohn­macht ge­gen Men­schen, nicht die Ohn­macht ge­gen die Na­tur, er­zeugt die de­spe­ra­tes­te Ver­bit­te­rung ge­gen das Da­sein. Die Moral hat die Ge­walt­ha­ber, die Ge­waltt­hä­ti­gen, die »Her­ren« über­haupt als die Fein­de be­han­delt, ge­gen wel­che der ge­mei­ne Mann ge­schützt, das heißt zu­nächst er­muthigt, ge­stärk­t wer­den muß. Die Moral hat folg­lich am tiefs­ten has­sen und ver­ach­ten ge­lehrt was der Grund­cha­rak­ter­zug der Herr­schen­den ist: ih­ren Wil­len zur Macht. Die­se Moral ab­schaf­fen, leug­nen, zer­set­zen: das wäre den best­ge­haß­ten Trieb mit ei­ner um­ge­kehr­ten Emp­fin­dung und Wer­thung an­se­hen. Wenn der Lei­den­de, Un­ter­drück­te den Glau­ben ver­lö­re, ein Recht zu sei­ner Ver­ach­tung des Wil­lens zur Macht zu ha­ben, so trä­te er in das Sta­di­um der hoff­nungs­lo­sen De­s­pe­ra­ti­on. Dies wäre der Fall, wenn die­ser Zug dem Le­ben es­sen­ti­ell wäre, wenn sich er­gä­be, daß selbst in je­nem Wil­len zur Moral nur die­ser »Wil­le zur Macht« ver­kappt sei, daß auch je­nes Has­sen und Ver­ach­ten noch ein Macht­wil­le ist. Der Un­ter­drück­te sähe ein, daß er mit dem Un­ter­drücker auf glei­chem Bo­den steht und daß er kein Vor­recht, kei­nen hö­he­ren Rang vor Je­nem habe.

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Viel­mehr um­ge­kehr­t! Es giebt Nichts am Le­ben, was Werth hat, au­ßer dem Gra­de der Macht – ge­setzt eben, daß Le­ben selbst der Wil­le zur Macht ist. Die Moral be­hü­te­te die Schlecht­weg­ge­kom­me­nen vor Ni­hi­lis­mus, in­dem sie Je­dem einen un­end­li­chen Werth, einen me­ta­phy­si­schen Werth bei­maß und in eine Ord­nung ein­reih­te, die mit der der welt­li­chen Macht und Rang­ord­nung nicht stimmt: sie lehr­te Er­ge­bung, De­muth u. s. w. Ge­setzt, daß der Glau­be an die­se Moral zu Grun­de geht, so wür­den die Schlecht­weg­ge­kom­me­nen ih­ren Trost nicht mehr ha­ben – und zu Grun­de gehn.

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Das Zu-Grun­de-ge­hen prä­sen­tirt sich als ein Sich-zu-Grun­de-rich­ten, als ein in­stink­ti­ves Aus­le­sen Des­sen, was zer­stö­ren muß. Sym­pto­me die­ser Selbst­zer­stö­rung der Schlecht­weg­ge­kom­me­nen: die Selbst­vi­vi­sek­ti­on, die Ver­gif­tung, Berau­schung, Ro­man­tik, vor Al­lem die in­stink­ti­ve Nö­thi­gung zu Hand­lun­gen, mit de­nen man die Mäch­ti­gen zu Tod­fein­den macht (– gleich­sam sich sei­ne Hen­ker selbst züch­tend), der Wil­le zur Zer­stö­rung als Wil­le ei­nes noch tiefe­ren In­stinkts, des In­stinkts der Selbst­zer­stö­rung, des Wil­lens in’s Nichts.

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Ni­hi­lis­mus, als Sym­ptom da­von, daß die Schlecht­weg­ge­kom­me­nen kei­nen Trost mehr ha­ben: daß sie zer­stö­ren, um zer­stört zu wer­den, daß sie, von der Moral ab­ge­löst, kei­nen Grund mehr ha­ben, »sich zu er­ge­ben«, – daß sie sich auf den Bo­den des ent­ge­gen­ge­setz­ten Prin­cips stel­len und auch ih­rer­seits Macht wol­len, in­dem sie die Mäch­ti­gen zwin­gen, ihre Hen­ker zu sein. Dies ist die eu­ro­päi­sche Form des Bud­dhis­mus, das Nein-thun, nach­dem al­les Da­sein sei­nen »Sinn« ver­lo­ren hat.

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Die »Noth« ist nicht etwa grö­ßer ge­wor­den: im Ge­gent­heil! »Gott, Moral, Er­ge­bung« wa­ren Heil­mit­tel, auf furcht­bar tie­fen Stu­fen des Elends: der ak­ti­ve Ni­hi­lis­mus tritt bei re­la­tiv viel güns­ti­ger ge­stal­te­ten Ver­hält­nis­sen auf. Schon daß die Moral als über­wun­den emp­fun­den wird, setzt einen ziem­li­chen Grad geis­ti­ger Cul­tur vor­aus; die­se wie­der ein re­la­ti­ves Wohl­le­ben. Eine ge­wis­se geis­ti­ge Er­mü­dung, durch den lan­gen Kampf phi­lo­so­phi­scher Mei­nun­gen bis zur hoff­nungs­lo­ses­ten Skep­sis ge­gen Phi­lo­so­phie ge­bracht, kenn­zeich­net eben­falls den kei­nes­wegs nie­de­ren Stand je­ner Ni­hi­lis­ten. Man den­ke an die Lage, in der Bud­dha auf­trat. Die Leh­re der ewi­gen Wie­der­kunft wür­de ge­lehr­te Voraus­set­zun­gen ha­ben (wie die Leh­re Bud­dha’s sol­che hat­te, zum Bei­spiel Be­griff der Cau­sa­li­tät u. s. w.).

Was heißt jetzt »schlecht­weg­ge­kom­men«? Vor Al­lem phy­sio­lo­gisch: nicht mehr po­li­tisch. Die un­ge­sun­des­te Art Mensch in Eu­ro­pa (in al­len Stän­den) ist der Bo­den die­ses Ni­hi­lis­mus: sie wird den Glau­ben an die ewi­ge Wie­der­kunft als einen Fluch emp­fin­den, von dem ge­trof­fen man vor kei­ner Hand­lung mehr zu­rück­scheut: nicht pas­siv aus­lö­schen, son­dern Al­les aus­lö­schen ma­chen, was in die­sem Gra­de sinn- und ziel­los ist: ob­wohl es nur ein Krampf, ein blin­des Wüthen ist bei der Ein­sicht, daß Al­les seit Ewig­kei­ten da war – auch die­ser Mo­ment von Ni­hi­lis­mus und Zer­stö­rungs­lust. – Der Wert­h ei­ner sol­chen Kri­sis ist, daß sie rei­nig­t, daß sie die ver­wand­ten Ele­men­te zu­sam­mendrängt und sich an ein­an­der ver­der­ben macht, daß sie den Men­schen ent­ge­gen­ge­setz­ter Denk­wei­sen ge­mein­sa­me Auf­ga­ben zu­weist – auch un­ter ih­nen die schwä­che­ren, un­sich­re­ren an’s Licht brin­gend und so zu ei­ner Rang­ord­nung der Kräf­te, vom Ge­sichts­punkt der Ge­sund­heit, den An­stoß giebt: Be­feh­len­de als Be­feh­len­de er­ken­nend. Ge­hor­chen­de als Ge­hor­chen­de. Na­tür­lich ab­seits von al­len be­ste­hen­den Ge­sell­schafts­ord­nun­gen.

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Wel­che wer­den sich als die Stärks­ten da­bei er­wei­sen? Die Mä­ßigs­ten, Die, wel­che kei­ne ex­tre­men Glau­bens­sät­ze nö­thig ha­ben, Die, wel­che einen gu­ten Theil Zu­fall, Un­sinn nicht nur zu­ge­stehn, son­dern lie­ben, Die, wel­che vom Men­schen mit ei­ner be­deu­ten­den Er­mä­ßi­gung sei­nes Wert­hes den­ken kön­nen, ohne da­durch klein und schwach zu wer­den: die Reichs­ten an Ge­sund­heit, die den meis­ten Mal­heurs ge­wach­sen sind und des­halb sich vor den Mal­heurs nicht so fürch­ten – Men­schen, die ih­rer Macht si­cher sin­d und die die er­reich­te Kraft des Men­schen mit be­wuß­tem Stol­ze re­prä­sen­ti­ren.

Wie däch­te ein sol­cher Mensch an die ewi­ge Wie­der­kunft?

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56.

Pe­ri­oden des eu­ro­päi­schen Ni­hi­lis­mus

 

Die Pe­ri­ode der Un­klar­heit, der Ten­ta­ti­ven al­ler Art, das Alte zu con­ser­vi­ren und das Neue nicht fah­ren zu las­sen.

Die Pe­ri­ode der Klar­heit: man be­greift, daß Al­tes und Neu­es Grund­ge­gen­sät­ze sind: die al­ten Wert­he aus dem nie­der­ge­hen­den, die neu­en aus dem auf­stei­gen­den Le­ben ge­bo­ren –, daß al­le al­ten Idea­le le­bens­feind­li­che Idea­le sind (aus der dé­ca­dence ge­bo­ren und die dé­ca­dence be­stim­mend, wie sehr auch im pracht­vol­len Sonn­tags-Auf­putz der Moral). Wir ver­ste­hen das Alte und sind lan­ge nicht stark ge­nug zu ei­nem Neu­en.

Die Pe­ri­ode der drei großen Af­fek­te: der Ver­ach­tung, des Mit­leids, der Zer­stö­rung.

Die Pe­ri­ode der Ka­ta­stro­phe: die Her­auf­kunft ei­ner Leh­re, wel­che die Men­schen aus­sieb­t … wel­che die Schwa­chen zu Ent­schlüs­sen treibt und eben­so die Star­ken –