Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Mu­sik von heu­te. – Die­se mo­d­erns­te Mu­sik, mit ih­ren star­ken Lun­gen und schwa­chen Ner­ven, erschrickt im­mer zu­erst vor sich sel­ber.

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Wo die Mu­sik hei­misch ist. – Die Mu­sik er­langt ihre große Macht nur un­ter Men­schen, wel­che nicht dis­ku­tie­ren kön­nen oder dür­fen. Ihre För­de­rer ers­ten Ran­ges sind des­halb Fürs­ten, wel­che wol­len, daß in ih­rer Nähe nicht viel kri­ti­siert, ja nicht ein­mal viel ge­dacht wer­de; so­dann Ge­sell­schaf­ten, wel­che un­ter ir­gend ei­nem Dru­cke (ei­nem fürst­li­chen oder re­li­gi­ösen) sich an das Schwei­gen ge­wöh­nen müs­sen, aber um so stär­ke­re Zau­ber­mit­tel ge­gen die Lan­ge­wei­le des Ge­fühls su­chen (ge­wöhn­lich die ewi­ge Ver­liebt­heit und die ewi­ge Mu­sik); drit­tens gan­ze Völ­ker, in de­nen es kei­ne "Ge­sell­schaft" gibt, aber um so mehr ein­zel­ne mit ei­nem Hang zur Ein­sam­keit, zu halb­dunklen Ge­dan­ken und zur Ver­eh­rung al­les Unaus­sprech­li­chen: es sind die ei­gent­li­chen Mu­sik­see­len. – Die Grie­chen, als ein red- und streit­lus­ti­ges Volk, ha­ben des­halb die Mu­sik nur als Zu­kost zu Küns­ten ver­tra­gen, über wel­che sich wirk­lich strei­ten und re­den läßt: wäh­rend über die Mu­sik sich kaum rein­lich den­ken läßt. Die Py­tha­go­re­er, jene Aus­nah­me-Grie­chen in vie­len Stücken, wa­ren, wie ver­lau­tet, auch große Mu­si­ker: die­sel­ben, wel­che das fünf­jäh­ri­ge Schwei­gen, aber nicht die Dia­lek­tik er­fun­den ha­ben.

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Sen­ti­men­ta­li­tät in der Mu­sik. – Man sei der erns­ten und rei­chen Mu­sik noch so ge­wo­gen, um so mehr viel­leicht wird man in ein­zel­nen Stun­den von dem Ge­gen­stück der­sel­ben über­wun­den, be­zau­bert und fast hin­weg­ge­schmol­zen; ich mei­ne: von je­nen al­le­rein­fachs­ten ita­lie­ni­schen Opern-Me­lis­men, wel­che, trotz al­ler rhyth­mi­schen Ein­för­mig­keit und har­mo­ni­schen Kin­de­rei, uns mit­un­ter wie die See­le der Mu­sik sel­ber an­zu­sin­gen schei­nen. Gebt es zu oder nicht, ihr Pha­ri­sä­er des gu­ten Ge­schmacks: es ist so, und mir liegt jetzt dar­an, die­ses Rät­sel, daß es so ist, zum Ra­ten auf­zu­ge­ben und sel­ber ein we­nig dar­an her­um­zu­ra­ten. – Als wir noch Kin­der wa­ren, ha­ben wir den Ho­nig­seim vie­ler Din­ge zum ers­ten­mal ge­kos­tet, nie­mals wie­der war der Ho­nig so gut wie da­mals, er ver­führ­te zum Le­ben, zum längs­ten Le­ben, in der Ge­stalt des ers­ten Früh­lings, der ers­ten Blu­men, der ers­ten Schmet­ter­lin­ge, der ers­ten Freund­schaft. Da­mals – es war viel­leicht um das neun­te Jahr un­se­res Le­bens – hör­ten wir die ers­te Mu­sik, und das war die, wel­che wir zu­erst ver­stan­den, die ein­fachs­te und kind­lichs­te also, wel­che nicht viel mehr als ein Wei­ter­spin­nen des Am­men­lie­des und der Spiel­manns­wei­se war. (Man muß näm­lich auch für die ge­rings­ten "Of­fen­ba­run­gen" der Kunst erst vor­be­rei­tet und ein­ge­lernt wer­den: es gibt durch­aus kei­ne "un­mit­tel­ba­re" Wir­kung der Kunst, so schön auch die Phi­lo­so­phen da­von ge­fa­belt ha­ben.) An jene ers­ten mu­si­ka­li­schen Ent­zückun­gen – die stärks­ten un­se­res Le­bens – knüpft un­se­re Emp­fin­dung an, wenn wir jene ita­lie­ni­schen Me­lis­men hö­ren: die Kin­des-Se­lig­keit und der Ver­lust der Kind­heit, das Ge­fühl des Un­wie­der­bring­lichs­ten als des köst­lichs­ten Be­sit­zes – das rührt da­bei die Sai­ten uns­rer See­le an, so stark wie es die reichs­te und erns­tes­te Ge­gen­wart der Kunst al­lein nicht ver­mag. – Die­se Mi­schung äs­the­ti­scher Freu­de mit ei­nem mo­ra­li­schen Kum­mer, wel­che man ge­mein­hin jetzt "Sen­ti­men­ta­li­tät" zu nen­nen pflegt, et­was gar zu hof­fär­tig, wie mir scheint – es ist die Stim­mung Faus­tens am Schlus­se der ers­ten Sze­ne – die­se "Sen­ti­men­ta­li­tät" der Hö­ren­den kommt der ita­lie­ni­schen Mu­sik zu­gu­te, wel­che sonst die er­fah­re­nen Fein­schme­cker der Kunst, die rei­nen "Äs­the­ti­ker", zu igno­rie­ren lie­ben. – Üb­ri­gens wirkt fast jede Mu­sik erst von da an zau­ber­haft, wo wir aus ihr die Spra­che der ei­ge­nen Ver­gan­gen­heit re­den hö­ren: und in­so­fern scheint dem Lai­en alle al­te Mu­sik im­mer bes­ser zu wer­den, und alle eben ge­bo­re­ne nur we­nig wert zu sein: denn sie er­regt noch kei­ne "Sen­ti­men­ta­li­tät", wel­che, wie ge­sagt, das we­sent­lichs­te Glücks-Ele­ment der Mu­sik für je­den ist, der nicht rein als Ar­tist sich an die­ser Kunst zu freu­en ver­mag.

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Als Freun­de der Mu­sik. – Zu­letzt sind und blei­ben wir der Mu­sik gut, wie wir dem Mond­licht gut blei­ben. Bei­de wol­len ja nicht die Son­ne ver­drän­gen, – sie wol­len nur, so gut sie es kön­nen, un­se­re Näch­te er­hel­len. Aber nicht wahr? scher­zen und la­chen dür­fen wir trotz­dem über sie? Ein we­nig we­nigs­tens? Und von Zeit zu Zeit! Über den Mann im Mon­de! Über das Weib in der Mu­sik!

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Die Kunst in der Zeit der Ar­beit. – Wir ha­ben das Ge­wis­sen ei­nes ar­beit­sa­men Zeit­al­ters: dies er­laubt uns nicht, die bes­ten Stun­den und Vor­mit­tage der Kunst zu ge­ben, und wenn die­se Kunst sel­ber die größ­te und wür­digs­te wäre. Sie gilt uns als Sa­che der Muße, der Er­ho­lung: wir wei­hen ihr die Res­te un­se­rer Zeit, un­se­rer Kräf­te. – Dies ist die all­ge­meins­te Tat­sa­che, durch wel­che die Stel­lung der Kunst zum Le­ben ver­än­dert ist: sie hat, wenn sie ihre großen Zeit- und Kraft-An­sprü­che an die Kunst-Empfan­gen­den macht, das Ge­wis­sen der Ar­beit­sa­men und Tüch­ti­gen ge­gen sich, sie ist auf die Ge­wis­sen­lo­sen und Läs­si­gen an­ge­wie­sen, wel­che aber, ih­rer Na­tur nach, ge­ra­de der großen Kunst nicht zu­ge­tan sind und ihre An­sprü­che als An­ma­ßun­gen emp­fin­den. Es dürf­te des­halb mit ihr zu Ende sein, weil ihr die Luft und der freie Atem fehlt: oder – die große Kunst ver­sucht, in ei­ner Art Ver­grö­be­rung und Ver­klei­dung, in je­ner an­de­ren Luft hei­misch zu wer­den (min­des­tens es in ihr aus­zu­hal­ten), die ei­gent­lich nur für die klei­ne Kunst, für die Kunst der Er­ho­lung, der er­götz­li­chen Zer­streu­ung das na­tür­li­che Ele­ment ist. Dies ge­schieht jetzt al­ler­wärts; auch die Künst­ler der großen Kunst ver­spre­chen Er­ho­lung und Zer­streu­ung, auch sie wen­den sich an den Er­mü­de­ten, auch sie bit­ten ihn um die Abend­stun­den sei­nes Ar­beits­ta­ges, – ganz wie die un­ter­hal­ten­den Künst­ler, wel­che zu­frie­den sind, ge­gen den schwe­ren Ernst der Stir­nen, das Ver­sun­ke­ne der Au­gen einen Sieg er­run­gen zu ha­ben. Wel­ches ist nun der Kunst­griff ih­rer grö­ße­ren Ge­nos­sen? Die­se ha­ben in ih­ren Büch­sen die ge­walt­sams­ten Er­re­gungs­mit­tel, bei de­nen selbst der Halb­to­te noch zu­sam­men­schre­cken muß; sie ha­ben Be­täu­bun­gen, Berau­schun­gen, Er­schüt­te­run­gen, Trä­nen­krämp­fe: mit die­sen über­wäl­ti­gen sie den Er­mü­de­ten und brin­gen ihn in eine über­näch­ti­ge Über­le­ben­dig­keit, in ein Au­ßer-sich-sein des Ent­zückens und des Schre­ckens. Dürf­te man, we­gen der Ge­fähr­lich­keit ih­rer Mit­tel, der großen Kunst, wie sie jetzt, als Oper, Tra­gö­die und Mu­sik, lebt, – dürf­te man ihr als ei­ner arg­lis­ti­gen Sün­de­rin zür­nen? Ge­wiß nicht, sie leb­te ja sel­ber hun­dert­mal lie­ber in dem rei­nen Ele­ment der mor­gend­li­chen Stil­le und wen­de­te sich an die er­war­ten­den, un­ver­brauch­ten, kraft­ge­füll­ten Mor­gen-See­len der Zuschau­er und Zu­hö­rer. Dan­ken wir ihr, daß sie es vor­zieht, so zu le­ben, als da­von­zu­flie­hen: aber ge­ste­hen wir uns auch ein, daß für ein Zeit­al­ter, wel­ches ein­mal wie­der freie, vol­le Fest- und Freu­den­ta­ge in das Le­ben ein­führt, un­se­re große Kunst un­brauch­bar sein wird.

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Die An­ge­stell­ten der Wis­sen­schaft und die an­de­ren. – Die ei­gent­lich tüch­ti­gen und er­folg­rei­chen Ge­lehr­ten könn­te man ins­ge­samt als "An­ge­stell­te" be­zeich­nen. Wenn, in jun­gen Jah­ren, ihr Scharf­sinn hin­rei­chend ge­übt, ihr Ge­dächt­nis ge­füllt ist, wenn Hand und Auge Si­cher­heit ge­won­nen ha­ben, so wer­den sie von ei­nem äl­te­ren Ge­lehr­ten auf eine Stel­le der Wis­sen­schaft an­ge­wie­sen, wo ihre Ei­gen­schaf­ten Nut­zen brin­gen kön­nen: spä­ter­hin, nach­dem sie sel­ber den Blick für die lücken­haf­ten und schad­haf­ten Stel­len ih­rer Wis­sen­schaft er­langt ha­ben, stel­len sie sich von sel­ber dort­hin, wo sie not tun. Die­se Na­tu­ren al­le­samt sind um der Wis­sen­schaft wil­len da: aber es gibt selt­ne­re, sel­ten ge­lin­gen­de und völ­lig aus­rei­fen­de Na­tu­ren, "um de­rent­wil­len die Wis­sen­schaft da ist" – we­nigs­tens scheint es ih­nen sel­ber so –: oft un­an­ge­neh­me, oft ein­ge­bil­de­te, oft quer­köp­fi­ge, fast im­mer aber bis zu ei­nem Gra­de zau­ber­haf­te Men­schen. Sie sind nicht An­ge­stell­te und auch nicht An­stel­ler, sie be­die­nen sich des­sen, was von je­nen er­ar­bei­tet und si­cher­ge­stellt wor­den ist, in ei­ner ge­wis­sen fürs­ten­haf­ten Ge­las­sen­heit und mit ge­rin­gem und sel­te­nem Lobe: gleich­sam als ob jene ei­ner nied­ri­ge­ren Gat­tung von We­sen an­ge­hör­ten. Und doch ha­ben sie eben nur die glei­chen Ei­gen­schaf­ten, wo­durch die­se an­de­ren sich aus­zeich­nen, und die­se mit­un­ter so­gar un­ge­nü­gen­der ent­wi­ckelt: oben­drein ist ih­nen eine Be­schränkt­heit ei­gen­tüm­lich, die je­nen fehlt, um de­rent­we­gen es un­mög­lich ist, sie an einen Pos­ten zu stel­len und in ih­nen nütz­li­che Werk­zeu­ge zu se­hen, – sie kön­nen nur in ih­rer ei­ge­nen Luft, auf ei­ge­nem Bo­den le­ben. Die­se Be­schränkt­heit gibt ih­nen ein, was al­les von ei­ner Wis­sen­schaft "zu ih­nen ge­hö­re", das heißt, was sie in ihre Luft und Woh­nung heim­tra­gen kön­nen; sie wäh­nen im­mer ihr zer­streu­tes "Ei­gen­tum" zu sam­meln. Ver­hin­dert man sie, an ih­rem ei­ge­nen Nes­te zu bau­en, so ge­hen sie wie ob­dach­lo­se Vö­gel zu­grun­de; Un­frei­heit ist für sie Schwind­sucht. Pfle­gen sie ein­zel­ne Ge­gen­den der Wis­sen­schaft in der Art je­ner an­de­ren, so sind es doch im­mer nur sol­che, wo ge­ra­de die ih­nen nö­ti­gen Früch­te und Sa­men ge­dei­hen; was geht es sie an, ob die Wis­sen­schaft, im gan­zen ge­se­hen, un­an­ge­bau­te oder schlecht ge­pfleg­te Ge­gen­den hat? Es fehlt ih­nen jede un­per­sön­li­che Teil­nah­me an ei­nem Pro­blem der Er­kennt­nis; wie sie sel­ber durch und durch Per­son sind, so wach­sen auch alle ihre Ein­sich­ten und Kennt­nis­se wie­der zu ei­ner Per­son zu­sam­men, zu ei­nem le­ben­di­gen Viel­fa­chen, des­sen ein­zel­ne Tei­le von­ein­an­der ab­hän­gen, in­ein­an­der grei­fen, ge­mein­sam er­nährt wer­den, das als Gan­zes eine eig­ne Luft und einen eig­nen Ge­ruch hat. – Sol­che Na­tu­ren brin­gen, mit die­sen ih­ren per­so­nen­haf­ten Er­kennt­nis-Ge­bil­den, jene Täu­schung her­vor, daß eine Wis­sen­schaft (oder gar die gan­ze Phi­lo­so­phie) fer­tig sei und am Zie­le ste­he; das Le­ben in ih­rem Ge­bil­de übt die­sen Zau­ber aus: als wel­cher zu­zei­ten sehr ver­häng­nis­voll für die Wis­sen­schaft und ir­re­füh­rend für jene vor­hin be­schrie­be­nen, ei­gent­lich tüch­ti­gen Ar­bei­ter des Geis­tes ge­we­sen ist, zu an­dern Zei­ten wie­der­um, als die Dür­re und die Er­mat­tung herrsch­ten, wie ein Lab­sal und gleich dem An­hau­che ei­ner küh­len, er­quick­li­chen Rast­stät­te ge­wirkt hat. – Ge­wöhn­lich nennt man sol­che Men­schen Phi­lo­so­phen.

 

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A­ner­ken­nung des Tal­ents. – Als ich durch das Dorf S. ging, fing ein Kna­be aus Lei­bes­kräf­ten an, mit der Peit­sche zu knal­len, – er hat­te es schon weit in die­ser Kunst ge­bracht und wuß­te es. Ich warf ihm einen Blick der Aner­ken­nung zu, – im Grun­de tat mir’s bit­ter wehe. – So ma­chen wir es bei der Aner­ken­nung vie­ler Ta­len­te. Wir tun ih­nen wohl, wenn sie uns wehe tun.

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La­chen und Lä­cheln. – Je freu­di­ger und si­che­rer der Geist wird, um so mehr ver­lernt der Mensch das lau­te Ge­läch­ter; da­ge­gen quillt ihm ein geis­ti­ges Lä­cheln fort­wäh­rend auf, ein Zei­chen sei­nes Ver­wun­derns über die zahl­lo­sen ver­steck­ten An­nehm­lich­kei­ten des gu­ten Da­seins.

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Un­ter­hal­tung der Kran­ken. – Wie man bei see­li­schem Kum­mer sich die Haa­re rauft, sich vor die Stirn schlägt, die Wan­ge zer­fleischt oder gar wie Ödi­pus die Au­gen aus­bohrt: so ruft man ge­gen hef­ti­ge kör­per­li­che Schmer­zen mit­un­ter eine hef­ti­ge bit­te­re Emp­fin­dung zu Hil­fe, durch Erin­ne­rung an Ver­leum­der und Ver­däch­ti­ger, durch Ver­düs­te­rung un­se­rer Zu­kunft, durch Bos­hei­ten und Dolch­sti­che, wel­che man im Geis­te ge­gen Ab­we­sen­de schleu­dert. Und es ist bis­wei­len da­bei wahr: daß ein Teu­fel den an­dern aus­treibt, – aber man hat dann den an­dern. – Da­rum sei den Kran­ken jene an­de­re Un­ter­hal­tung an­emp­foh­len, bei der sich die Schmer­zen zu mil­dern schei­nen: über Wohl­ta­ten und Ar­tig­kei­ten nach­zu­den­ken, wel­che man Freund und Feind er­wei­sen kann.

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Me­dio­kri­tät als Mas­ke. – Die Me­dio­kri­tät ist die glück­lichs­te Mas­ke, die der über­le­ge­ne Geist tra­gen kann, weil sie die große Men­ge, das heißt die Me­dio­kren, nicht an Mas­kie­rung den­ken läßt –: und doch nimmt er sie ge­ra­de ih­ret­we­gen vor, – um sie nicht zu rei­zen, ja nicht sel­ten aus Mit­leid und Güte.

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Die Ge­dul­di­gen. – Die Pi­nie scheint zu hor­chen, die Tan­ne zu war­ten: und bei­de ohne Un­ge­duld: – sie den­ken nicht an den klei­nen Men­schen un­ter sich, den sei­ne Un­ge­duld und sei­ne Neu­gier­de auf­fres­sen.

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Die bes­ten Scher­ze. – Der Scherz ist mir am will­kom­mens­ten, der an Stel­le ei­nes schwe­ren, nicht un­be­denk­li­chen Ge­dan­kens steht, zu­gleich als Wink mit dem Fin­ger und Blin­zeln des Au­ges.

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Zu­be­hör al­ler Ver­eh­rung. – Über­all, wo die Ver­gan­gen­heit ver­ehrt wird, soll man die Säu­ber­li­chen und Säu­bern­den nicht ein­las­sen. Der Pie­tät wird ohne ein we­nig Staub, Un­rat und Un­flat nicht wohl.

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Die große Ge­fahr der Ge­lehr­ten. – Gera­de die tüch­tigs­ten und gründ­lichs­ten Ge­lehr­ten sind in der Ge­fahr, ihr Le­bens­ziel im­mer nied­ri­ger ge­steckt zu se­hen und, im Ge­fühl da­von, in der zwei­ten Hälf­te ih­res Le­bens im­mer miß­mu­ti­ger und un­ver­träg­li­cher zu wer­den. Zu­erst schwim­men sie mit brei­ten Hoff­nun­gen in ihre Wis­sen­schaft hin­ein und mes­sen sich küh­ne­re Auf­ga­ben zu, de­ren Zie­le mit­un­ter durch ihre Phan­ta­sie schon vor­weg­ge­nom­men wer­den: dann gibt es Au­gen­bli­cke wie im Le­ben der großen ent­de­cken­den Schif­fah­rer, – Wis­sen, Ah­nung und Kraft he­ben ein­an­der im­mer hö­her, bis eine fer­ne neue Küs­te zum ers­ten Male dem Auge auf­däm­mert. Nun er­kennt aber der stren­ge Mensch von Jahr zu Jahr mehr, wie viel dar­an ge­le­gen ist, daß die Ein­zel­auf­ga­be des For­schers so be­schränkt wie mög­lich ge­nom­men wer­de, da­mit sie ohne Rest ge­löst wer­den kön­ne und jene un­er­träg­li­che Ver­geu­dung von Kraft ver­mie­den wer­de, an wel­cher frü­he­re Pe­ri­oden der Wis­sen­schaft lit­ten: alle Ar­bei­ten wur­den zehn­mal ge­macht, und dann hat­te im­mer noch der elf­te das letz­te und bes­te Wort zu sa­gen. Je mehr aber der Ge­lehr­te die­ses Rät­sel-Lö­sen ohne Rest ken­nen lernt und übt, um so grö­ßer wird auch sei­ne Lust dar­an: aber eben­so wächst auch die Stren­ge sei­ner An­sprü­che in be­zug auf das, was hier "ohne Rest" ge­nannt ist. Er legt al­les bei­sei­te, was in die­sem Sin­ne un­voll­stän­dig blei­ben muß, er ge­winnt einen Wi­der­wil­len und eine Wit­te­rung ge­gen das Halb-Lös­ba­re, – ge­gen al­les, was nur im Gan­zen und Un­be­stimm­te­ren eine Art Si­cher­heit er­ge­ben kann. Sei­ne Ju­gend­plä­ne zer­fal­len vor sei­nem Bli­cke: kaum blei­ben ei­ni­ge Kno­ten und Knöt­chen dar­aus üb­rig, an de­ren Ent­knüp­fung jetzt der Meis­ter sei­ne Lust hat, sei­ne Kraft zeigt. Und nun, mit­ten in die­ser so nütz­li­chen, so rast­lo­sen Tä­tig­keit über­fällt ihn, den Äl­ter­ge­wor­de­nen, plötz­lich und dann öf­ter wie­der ein tiefer Miß­mut, eine Art Ge­wis­sens-Qual: er sieht auf sich hin, wie auf einen Ver­wan­del­ten, als ob er ver­klei­nert, er­nied­rigt, zum kunst­fer­ti­gen Zwer­gen um­ge­schaf­fen wäre, er be­un­ru­higt sich dar­über, ob nicht das meis­ter­li­che Wal­ten im klei­nen eine Be­quem­lich­keit sei, eine Aus­flucht vor der Mah­nung zur Grö­ße des Le­bens und Ge­stal­tens. Aber er kann nicht mehr hin­über, – die Zeit ist um.

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Die Leh­rer im Zeit­al­ter der Bü­cher. – Da­durch, daß die Selbst-Er­zie­hung und Ver­brü­de­rungs- Er­zie­hung all­ge­mei­ner wird, muß der Leh­rer in sei­ner jetzt ge­wöhn­li­chen Form fast ent­behr­lich wer­den. Lern­be­gie­ri­ge Freun­de, die sich zu­sam­men ein Wis­sen an­eig­nen wol­len, fin­den in un­se­rer Zeit der Bü­cher einen kür­ze­ren und na­tür­li­che­ren Weg, als "Schu­le" und "Leh­rer" sind.

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Die Ei­tel­keit als die große Nütz­lich­keit. – Ur­sprüng­lich be­han­delt der star­ke Ein­zel­ne nicht nur die Na­tur, son­dern auch die Ge­sell­schaft und die schwä­che­ren Ein­zel­nen als Ge­gen­stand des Raub- Bau­es: er nützt sie aus, so viel er kann, und geht dann wei­ter. Weil er sehr un­si­cher lebt, wech­selnd zwi­schen Hun­ger und Über­fluß, so tö­tet er mehr Tie­re, als er ver­zeh­ren kann, und plün­dert und miß­han­delt die Men­schen mehr, als nö­tig wäre. Sei­ne Macht­äu­ße­rung ist eine Ra­che­äu­ße­rung zu­gleich ge­gen sei­nen pein- und angst­vol­len Zu­stand: so­dann will er für mäch­ti­ger gel­ten, als er ist, und miß­braucht des­halb die Ge­le­gen­hei­ten: der Furcht­zu­wachs, den er er­zeugt, ist sein Macht­zu­wachs. Er merkt zei­tig, daß nicht das, was er ist, son­dern das, was er gil­t, ihn trägt oder nie­der­wirft: hier ist der Ur­sprung der Ei­tel­keit. Der Mäch­ti­ge sucht mit al­len Mit­teln Ver­meh­rung des Glau­bens an sei­ne Macht. – Die Un­ter­wor­fe­nen, die vor ihm zit­tern und ihm die­nen, wis­sen wie­der­um, daß sie ge­nau so viel wert sind, als sie ihm gel­ten: wes­halb sie auf die­se Gel­tung hin­ar­bei­ten und nicht auf ihre ei­ge­ne Be­frie­di­gung an sich. Wir ken­nen die Ei­tel­keit nur in den ab­ge­schwäch­tes­ten For­men, in ih­ren Sub­li­mie­run­gen und klei­nen Do­sen, weil wir in ei­nem spä­ten und sehr ge­mil­der­ten Zu­stan­de der Ge­sell­schaft le­ben: ur­sprüng­lich ist sie die große Nütz­lich­keit, das stärks­te Mit­tel der Er­hal­tung. Und zwar wird die Ei­tel­keit um so grö­ßer sein, je klü­ger der ein­zel­ne ist: weil die Ver­meh­rung des Glau­bens an Macht leich­ter ist, als die Ver­meh­rung der Macht sel­ber, aber nur für den, der Geist hat – oder, wie es für Ur­zu­stän­de hei­ßen muß, der lis­tig und hin­ter­hal­tig ist.

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Wet­ter­zei­chen der Kul­tur. – Es gibt so we­nig ent­schei­den­de Wet­ter­zei­chen der Kul­tur, daß man froh sein muß, für sei­nen Haus- und Gar­ten­ge­brauch we­nigs­tens ein untrüg­li­ches in den Hän­den zu ha­ben. Um zu prü­fen, ob je­mand zu uns ge­hört oder nicht – ich mei­ne zu den frei­en Geis­tern –, so prü­fe man sei­ne Emp­fin­dung für das Chris­ten­tum. Steht er ir­gend­wie an­ders zu ihm als kri­tisch, so keh­ren wir ihm den Rücken: er bringt uns un­rei­ne Luft und schlech­tes Wet­ter. – Un­se­re Auf­ga­be ist es nicht mehr, sol­che Men­schen zu leh­ren, was ein Ski­rok­ko-Wind ist; sie ha­ben Mo­sen und die Pro­phe­ten des Wet­ters und der Auf­klä­rung: wol­len sie die­se nicht hö­ren, so –

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Zür­nen und stra­fen hat sei­ne Zeit. – Zür­nen und stra­fen ist un­ser An­ge­bin­de von der Tier­heit her. Der Mensch wird erst mün­dig, wenn er dies Wie­gen­ge­schenk den Tie­ren zu­rück­gibt. – Hier liegt ei­ner der größ­ten Ge­dan­ken ver­gra­ben, wel­che Men­schen ha­ben kön­nen, der Ge­dan­ke an einen Fort­schritt al­ler Fort­schrit­te. – Ge­hen wir ei­ni­ge Jahr­tau­sen­de mit­ein­an­der vor­wärts, mei­ne Freun­de! Es ist sehr viel Freu­de noch den Men­schen vor­be­hal­ten, wo­von den Ge­gen­wär­ti­gen noch kein Ge­ruch zu­ge­weht ist! Und zwar dür­fen wir uns die­se Freu­de ver­spre­chen, ja als et­was Not­wen­di­ges ver­hei­ßen und be­schwö­ren, im Fall nur die Ent­wick­lung der mensch­li­chen Ver­nunft nicht stil­le steht! Einst­mals wird man die lo­gi­sche Sün­de, wel­che im Zür­nen und Stra­fen, ein­zeln oder ge­sell­schafts­wei­se ge­übt, ver­bor­gen liegt, nicht mehr übers Herz brin­gen: einst­mals, wenn Herz und Kopf so nah bei­ein­an­der zu woh­nen ge­lernt ha­ben, wie sie jetzt noch ein­an­der fer­ne ste­hen. Daß sie sich nicht mehr so fer­ne ste­hen wie ur­sprüng­lich, ist beim Blick auf den gan­zen Gang der Mensch­heit ziem­lich er­sicht­lich; und der ein­zel­ne, der ein Le­ben in­ne­rer Ar­beit zu über­schau­en hat, wird mit stol­zer Freu­de sich der über­wun­de­nen Ent­fer­nung, der er­reich­ten An­nä­he­rung be­wußt wer­den, um dar­auf­hin noch grö­ße­re Hoff­nun­gen wa­gen zu dür­fen.