Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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103

Les­sing. – Les­sing hat eine echt fran­zö­si­sche Tu­gend und ist über­haupt als Schrift­stel­ler bei den Fran­zo­sen am flei­ßigs­ten in die Schu­le ge­gan­gen: er ver­steht sei­ne Din­ge im Schau­la­den gut zu ord­nen und auf­zu­stel­len. Ohne die­se wirk­li­che Kunst wür­den sei­ne Ge­dan­ken so­wie de­ren Ge­gen­stän­de ziem­lich im Dun­kel ge­blie­ben sein, und ohne daß die all­ge­mei­ne Ein­bu­ße groß wäre. An sei­ner Kunst ha­ben aber vie­le ge­lernt (na­ment­lich die letz­ten Ge­ne­ra­tio­nen deut­scher Ge­lehr­ten) und Un­zäh­li­ge sich er­freut. Frei­lich hät­ten jene Ler­nen­den nicht nö­tig ge­habt, wie so oft ge­sche­hen ist, ihm auch sei­ne un­an­ge­neh­me Ton-Ma­nier, in ih­rer Mi­schung von Zank­teu­fe­lei und Bie­der­keit, ab­zu­ler­nen. – Über den "Ly­ri­ker" Les­sing ist man jetzt ein­mü­tig: über den Dra­ma­ti­ker wird man es wer­den.

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U­ner­wünsch­te Le­ser. – Wie quä­len den Au­tor jene bra­ven Le­ser mit den dick­lich­ten, un­ge­schick­ten See­len, wel­che im­mer, wenn sie wor­an an­sto­ßen, auch um­fal­len und sich je­des­mal da­bei wehe tun!

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Dich­ter-Ge­dan­ken. – Die wirk­li­chen Ge­dan­ken ge­hen bei wirk­li­chen Dich­tern alle ver­schlei­ert ein­her wie die Ägyp­te­rin­nen: nur das tie­fe Au­ge des Ge­dan­kens blickt frei über den Schlei­er hin­weg. – Dich­ter-Ge­dan­ken sind im Durch­schnitt nicht so viel wert, als sie gel­ten: man be­zahlt eben für den Schlei­er und die ei­ge­ne Neu­gier­de mit.

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Schreibt ein­fach und nütz­lich. – Über­gän­ge, Aus­füh­run­gen, Far­ben­spie­le des Af­fekts, – al­les das schen­ken wir dem Au­tor, weil wir dies mit­brin­gen und sei­nem Bu­che zu­gu­te kom­men las­sen, falls er sel­ber uns et­was zu­gu­te tut.

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Wie­land. – Wie­land hat bes­ser als ir­gend je­mand deutsch ge­schrie­ben und da­bei sein rech­tes meis­ter­li­ches Ge­nü­gen und Un­ge­nü­gen ge­habt (sei­ne Über­set­zun­gen der Brie­fe Ci­ce­ros und des Lu­ci­an sind die bes­ten deut­schen Über­set­zun­gen); aber sei­ne Ge­dan­ken ge­ben uns nichts mehr zu den­ken. Wir ver­tra­gen sei­ne hei­te­ren Mora­li­tä­ten eben­so­we­nig wie sei­ne hei­te­ren Im­mo­ra­li­tä­ten: bei­de ge­hö­ren so gut zu ein­an­der. Die Men­schen, die an ih­nen ihre Freu­de hat­ten, wa­ren doch wohl im Grun­de bes­se­re Men­schen als wir, – aber auch um ein gut Teil schwer­fäl­li­ge­re, de­nen ein sol­cher Schrift­stel­ler eben not tat. – Goethe tat den Deut­schen nicht not, da­her sie auch von ihm kei­nen Ge­brauch zu ma­chen wis­sen. Man sehe sich die Bes­ten un­se­rer Staats­män­ner und Künst­ler dar­auf­hin an: sie alle ha­ben Goe­the nicht zum Er­zie­her ge­habt – nicht ha­ben kön­nen.

108

Sel­te­ne Fes­te. – Kör­ni­ge Ge­drängt­heit, Ruhe und Rei­fe – wo du die­se Ei­gen­schaf­ten bei ei­nem Au­tor fin­dest, da ma­che Halt und feie­re ein lan­ges Fest mit­ten in der Wüs­te: es wird dir lan­ge nicht wie­der so wohl wer­den.

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Der Schatz der deut­schen Pro­sa. – Wenn man von Goe­thes Schrif­ten ab­sieht und na­ment­lich von Goe­thes Un­ter­hal­tun­gen mit Ecker­mann, dem bes­ten deut­schen Bu­che, das es gibt: was bleibt ei­gent­lich von der deut­schen Pro­sa-Li­te­ra­tur üb­rig, das es ver­dien­te, wie­der und wie­der ge­le­sen zu wer­den? Lich­ten­bergs Apho­ris­men, das ers­te Buch von Jung-Stil­lings Le­bens­ge­schich­te, Adal­bert Stif­ters Nach­som­mer und Gott­fried Kel­lers Leu­te von Seld­wy­la, – und da­mit wird es einst­wei­len am Ende sein.

110

Schreib­stil und Sprech­stil. – Die Kunst zu schrei­ben ver­langt vor al­lem Er­satz­mit­tel für die Aus­drucks­ar­ten, wel­che nur der Re­den­de hat: also für Ge­bär­den, Ak­zen­te, Töne, Bli­cke. Des­halb ist der Schreib­stil ein ganz an­de­rer als der Sprech­stil, und et­was viel Schwie­ri­ge­res: – er will mit we­ni­ge­rem sich eben­so ver­ständ­lich ma­chen wie je­ner. De­mo­sthe­nes hielt sei­ne Re­den an­ders als wir sie le­sen: er hat sie zum Ge­le­sen­wer­den erst über­ar­bei­tet. – Ci­ce­ros Re­den soll­ten zum glei­chen Zwe­cke erst de­mo­sthe­ni­siert wer­den: jetzt ist viel mehr rö­mi­sches Forum in ih­nen, als der Le­ser ver­tra­gen kann.

111

Vor­sicht im Zi­tie­ren. – Die jun­gen Au­to­ren wis­sen nicht, daß der gute Aus­druck, der gute Ge­dan­ke sich nur un­ter sei­nes­glei­chen gut aus­nimmt, daß ein vor­züg­li­ches Zi­tat gan­ze Sei­ten, ja das gan­ze Buch ver­nich­ten kann, in­dem es den Le­ser warnt und ihm zu­zu­ru­fen scheint: "Gib acht, ich bin der Edel­stein und rings um mich ist Blei, blei­ches, schmäh­li­ches Blei!" Je­des Wort, je­der Ge­dan­ke will nur in sei­ner Ge­sell­schaft le­ben: das ist die Moral des ge­wähl­ten Stils.

112

Wie soll man Irr­tü­mer sa­gen? – Man kann strei­ten, ob es schäd­li­cher sei, wenn Irr­tü­mer schlecht ge­sagt wer­den oder gut wie die bes­ten Wahr­hei­ten. Ge­wiß ist, daß sie im ers­te­ren Fall auf dop­pel­te Wei­se dem Kop­fe scha­den und schwe­rer aus ihm zu ent­fer­nen sind; aber frei­lich wir­ken sie nicht so si­cher wie im zwei­ten Fal­le: sie sind we­ni­ger an­ste­ckend.

113

Be­schrän­ken und ver­grö­ßern. – Ho­mer hat den Um­fang des Stof­fes be­schränkt, ver­klei­nert, aber die ein­zel­nen Sze­nen aus sich wach­sen las­sen und ver­grö­ßert – und so ma­chen es spä­ter die Tra­gi­ker im­mer von neu­em: je­der nimmt den Stoff in noch klei­ne­ren Stücken als sein Vor­gän­ger, je­der aber er­zielt eine rei­che­re Blü­ten­fül­le in­ner­halb die­ser ab­ge­grenz­ten, um­frie­de­ten Gar­ten­he­cken.

114

Li­te­ra­tur und Mora­li­tät sich er­klä­rend. – Man kann an der grie­chi­schen Li­te­ra­tur zei­gen, durch wel­che Kräf­te der grie­chi­sche Geist sich ent­fal­te­te, wie er in ver­schie­de­ne Bah­nen ge­riet und wor­an er schwach wur­de. Al­les das gibt ein Bild da­von ab, wie es im Grun­de auch mit der grie­chi­schen Mora­li­tät zu­ge­gan­gen ist und wie es mit je­der Mora­li­tät zu­ge­hen wird: wie sie erst Zwang war, erst Här­te zeig­te, dann all­mäh­lich mil­der wur­de, wie end­lich Lust an ge­wis­sen Hand­lun­gen, an ge­wis­sen Kon­ven­tio­nen und For­men ent­stand, und dar­aus wie­der ein Hang zur al­lei­ni­gen Aus­übung, zum Al­lein­be­sitz der­sel­ben: wie die Bahn sich mit Wett­be­wer­ben­den füllt und über­füllt, wie Über­sät­ti­gung ein­tritt, neue Ge­gen­stän­de des Kamp­fes und Ehr­gei­zes auf­ge­sucht, ver­al­te­te ins Le­ben er­weckt wer­den, wie das Schau­spiel sich wie­der­holt und die Zuschau­er des Zuschau­ens über­haupt müde wer­den, weil nun der gan­ze Kreis durch­lau­fen scheint – – und dann kommt ein Still­ste­hen, ein Au­sat­men: die Bä­che ver­lie­ren sich im San­de. Es ist das Ende da, we­nigs­tens ein Ende.

115

Wel­che Ge­gen­den dau­ernd er­freu­en. – Die­se Ge­gend hat be­deu­ten­de Züge zu ei­nem Ge­mäl­de, aber ich kann die For­mel für sie nicht fin­den, als Gan­zes bleibt sie mir un­faß­bar. Ich be­mer­ke, daß alle Land­schaf­ten, die mir dau­ernd zu­sa­gen, un­ter al­ler Man­nig­fal­tig­keit ein ein­fa­ches geo­me­tri­sches Li­ni­en-Sche­ma ha­ben. Ohne ein sol­ches ma­the­ma­ti­sches Substrat wird kei­ne Ge­gend et­was künst­le­risch Er­freu­en­des. Und viel­leicht ge­stat­tet die­se Re­gel eine gleich­nis­haf­te An­wen­dung auf den Men­schen.

116

Vor­le­sen. – Vor­le­sen kön­nen setzt vor­aus, daß man vor­tra­gen kön­ne: man hat über­all blas­se Far­ben an­zu­wen­den, aber die Gra­de der Bläs­se in ge­nau­en Pro­por­tio­nen zu dem im­mer vor­schwe­ben­den und di­ri­gie­ren­den, voll und tief ge­färb­ten Grund­ge­mäl­de, das heißt nach dem Vor­tra­ge der­sel­ben Par­tie zu be­stim­men. Also muß man die­ses letz­te­ren mäch­tig sein.

117

Der dra­ma­ti­sche Sinn. – Wer die fei­ne­ren vier Sin­ne der Kunst nicht hat, sucht al­les mit dem gröbs­ten, dem fünf­ten zu ver­ste­hen: dies ist der dra­ma­ti­sche Sinn.

118

Her­der. – Her­der ist al­les das nicht, was er von sich wäh­nen mach­te (und sel­ber zu wäh­nen wünsch­te): kein großer Den­ker und Er­fin­der, kein neu­er trei­ben­der Frucht­bo­den mit ei­ner ur­wald­fri­schen un­aus­ge­nutz­ten Kraft. Aber er be­saß im höchs­ten Maße den Sinn der Wit­te­rung, er sah und pflück­te die Erst­lin­ge der Jah­res­zeit frü­her als alle an­de­ren, wel­che dann glau­ben konn­ten, er habe sie wach­sen las­sen: sein Geist war zwi­schen Hel­lem und Dunklem, Al­tem und Jun­gem und über­all dort wie ein Jä­ger auf der Lau­er, wo es Über­gän­ge, Sen­kun­gen, Er­schüt­te­run­gen, die An­zei­chen in­ne­ren Quel­lens und Wer­dens gab: die Un­ru­he des Früh­lings trieb ihn um­her, aber er sel­ber war der Früh­ling nicht! – Das ahn­te er wohl zu­zei­ten, und woll­te es doch sich sel­ber nicht glau­ben, er, der ehr­gei­zi­ge Pries­ter, der so gern der Geis­ter-Papst sei­ner Zeit ge­we­sen wäre! Dies ist sein Lei­den: er scheint lan­ge als Prä­ten­dent meh­re­rer Kö­nig­tü­mer, ja ei­nes Uni­ver­sal­rei­ches ge­lebt zu ha­ben und hat­te sei­nen An­hang, wel­cher an ihn glaub­te: der jun­ge Goe­the war un­ter ihm. Aber über­all, wo zu­letzt Kro­nen wirk­lich ver­ge­ben wur­den, ging er leer aus: Kant, Goe­the, so­dann die wirk­li­chen ers­ten deut­schen His­to­ri­ker und Phi­lo­lo­gen nah­men ihm weg, was er sich vor­be­hal­ten wähn­te, – oft aber auch im stills­ten und ge­heims­ten nicht wähn­te. Gera­de wenn er an sich zwei­fel­te, warf er sich gern die Wür­de und die Be­geis­te­rung um: dies wa­ren bei ihm all­zu­oft Ge­wän­der, die viel ver­ber­gen, ihn sel­ber täu­schen und trös­ten muß­ten. Er hat­te wirk­lich Be­geis­te­rung und Feu­er, aber sein Ehr­geiz war viel grö­ßer! Die­ser blies un­ge­dul­dig in das Feu­er, daß es fla­cker­te, knis­ter­te und rauch­te – sein Stil fla­ckert, knis­tert und raucht – aber er wünsch­te die große Flam­me, und die­se brach nie her­vor! Er saß nicht an der Ta­fel der ei­gent­lich Schaf­fen­den: und sein Ehr­geiz ließ nicht zu, daß er sich be­schei­den un­ter die ei­gent­lich Ge­nie­ßen­den setz­te. So war er ein un­ru­hi­ger Gast, der Vor­kos­ter al­ler geis­ti­gen Ge­rich­te, die sich die Deut­schen in ei­nem hal­b­en Jahr­hun­dert aus al­len Welt- und Zeitrei­chen zu­sam­men­hol­ten. Nie wirk­lich satt und froh, war Her­der über­dies all­zu häu­fig krank: da setz­te sich bis­wei­len der Neid an sein Bett, auch die Heu­che­lei mach­te ih­ren Be­such. Et­was Wun­des und Un­frei­es blieb an ihm haf­ten: und mehr als ir­gend ei­nem un­se­rer so­ge­nann­ten "Klas­si­ker" geht ihm die ein­fäl­ti­ge wa­cke­re Mann­haf­tig­keit ab.

 

119

Ge­ruch der Wor­te. – Je­des Wort hat sei­nen Ge­ruch: es gibt eine Har­mo­nie und Dis­har­mo­nie der Gerü­che und also der Wor­te.

120

Der ge­such­te Stil. – Der ge­fun­de­ne Stil ist eine Be­lei­di­gung für den Freund des ge­such­ten Stils.

121

Gelöb­nis. – Ich will kei­nen Au­tor mehr le­sen, dem man an­merkt, er woll­te ein Buch ma­chen: son­dern nur jene, de­ren Ge­dan­ken un­ver­se­hens ein Buch wur­den.

122

Die künst­le­ri­sche Kon­ven­ti­on. – Drei­vier­tel Ho­mer ist Kon­ven­ti­on; und ähn­lich steht es bei al­len grie­chi­schen Künst­lern, die zu der mo­der­nen Ori­gi­na­li­täts­wut kei­nen Grund hat­ten. Es fehl­te ih­nen alle Angst vor der Kon­ven­ti­on; durch die­se hin­gen sie ja mit ih­rem Pub­li­kum zu­sam­men. Kon­ven­tio­nen sind näm­lich die für das Ver­ständ­nis der Zu­hö­rer ero­ber­ten Kunst­mit­tel, die mü­he­voll er­lern­te ge­mein­sa­me Spra­che, mit wel­cher der Künst­ler sich wirk­lich mit­tei­len kann. Zu­mal wenn er, wie der grie­chi­sche Dich­ter und Mu­si­ker, mit je­dem sei­ner Kunst­wer­ke so­for­t sie­gen will – da er öf­fent­lich mit ei­nem oder zwei­en Ne­ben­buh­lern zu rin­gen ge­wöhnt ist –, so ist die ers­te Be­din­gung, daß er so­for­t auch ver­stan­den wer­de: was aber nur durch die Kon­ven­ti­on mög­lich ist. Das, was der Künst­ler über die Kon­ven­ti­on hin­aus er­fin­det, das gibt er aus frei­en Stücken dar­auf und wagt da­bei sich sel­ber dar­an, im bes­ten Fall mit dem Er­fol­ge, daß er eine neue Kon­ven­ti­on schafft. Für ge­wöhn­lich wird das Ori­gi­na­le an­ge­staunt, mit­un­ter so­gar an­ge­be­tet, aber sel­ten ver­stan­den; der Kon­ven­ti­on hart­nä­ckig aus­wei­chen heißt: nicht ver­stan­den wer­den wol­len. Worauf weist also die mo­der­ne Ori­gi­na­li­täts­wut hin?

123

Af­fek­ta­ti­on der Wis­sen­schaft­lich­keit bei Künst­lern. – Schil­ler glaub­te, gleich an­de­ren deut­schen Künst­lern, wenn man Geist habe, dür­fe man über al­ler­lei schwie­ri­ge Ge­gen­stän­de auch wohl mit der Fe­der im­pro­vi­sie­ren. Und nun ste­hen sei­ne Pro­sa-Auf­sät­ze da – in je­der Be­zie­hung ein Mus­ter, wie man wis­sen­schaft­li­che Fra­gen der Äs­the­tik und Moral nicht an­grei­fen dür­fe – und eine Ge­fahr für jun­ge Le­ser, wel­che, in ih­rer Be­wun­de­rung des Dich­ters Schil­ler, nicht den Mut ha­ben, vom Den­ker und Schrift­stel­ler Schil­ler ge­ring zu den­ken. – Die Ver­su­chung, wel­che den Künst­ler so leicht und so be­greif­li­cher­wei­se be­fällt, auch ein­mal über die ge­ra­de ihm ver­bo­te­ne Wie­se zu ge­hen und in der Wis­sen­schaft ein Wort mit­zu­spre­chen – der Tüch­tigs­te näm­lich fin­det zeit­wei­lig sein Hand­werk und sei­ne Werk­stät­te un­aus­steh­lich –, die­se Ver­su­chung bringt den Künst­ler so weit, al­ler Welt zu zei­gen, was sie gar nicht zu se­hen braucht, näm­lich daß es in sei­nem Denk­zim­mer­chen eng und un­or­dent­lich aus­sieht – warum auch nicht? er wohnt ja nicht dar­in! –, daß die Vor­ratsspei­cher sei­nes Wis­sens teils leer, teils mit Krims­krams ge­füllt sind – warum auch nicht? es steht dies so­gar im Grun­de dem Künst­ler-Kin­de nicht übel an –, na­ment­lich aber, daß selbst für die leich­tes­ten Hand­grif­fe der wis­sen­schaft­li­chen Metho­de, die selbst An­fän­gern ge­läu­fig sind, sei­ne Ge­len­ke zu un­ge­übt und schwer­fäl­lig sind – und auch des­sen braucht er sich wahr­lich nicht zu schä­men! – Da ge­gen ent­fal­tet er oft­mals kei­ne ge­rin­ge Kunst dar­in, alle die Feh­ler, Un­ar­ten und schlech­ten Ge­lehr­ten­haf­tig­kei­ten, wie sie in der wis­sen­schaft­li­chen Zunft vor­kom­men, nach­zuah­men, im Glau­ben, dies eben ge­hö­re, wenn nicht zur Sa­che, so doch zum Schein der Sa­che; und dies ge­ra­de ist das Lus­ti­ge an sol­chen Künst­ler-Schrif­ten, daß hier der Künst­ler, ohne es zu wol­len, doch tut, was sei­nes Am­tes ist: die wis­sen­schaft­li­chen und un­künst­le­ri­schen Na­tu­ren zu par­odie­ren. Eine an­de­re Stel­lung zur Wis­sen­schaft als die par­odi­sche soll­te er näm­lich nicht ha­ben, so­weit er eben der Künst­ler und nur der Künst­ler ist.

124

Die Faust-Idee. – Eine klei­ne Näh­te­rin wird ver­führt und un­glück­lich ge­macht; ein großer Ge­lehr­ter al­ler vier Fa­kul­tä­ten ist der Übel­tä­ter. Das kann doch nicht mit rech­ten Din­gen zu­ge­gan­gen sein? Nein, ge­wiß nicht! Ohne die Bei­hil­fe des leib­haf­ti­gen Teu­fels hät­te es der große Ge­lehr­te nicht zu­stan­de ge­bracht. – Soll­te dies wirk­lich der größ­te deut­sche "tra­gi­sche Ge­dan­ke" sein, wie man un­ter Deut­schen sa­gen hört? – Für Goe­the war aber auch die­ser Ge­dan­ke noch zu fürch­ter­lich; sein mil­des Herz konn­te nicht um­hin, die klei­ne Näh­te­rin, "die gute See­le, die nur ein­mal sich ver­ges­sen", nach ih­rem un­frei­wil­li­gen Tode in die Nähe der Hei­li­gen zu ver­set­zen; ja selbst den großen Ge­lehr­ten brach­te er, durch einen Pos­sen, der dem Teu­fel im ent­schei­den­den Au­gen­blick ge­spielt wird, noch zur rech­ten Zeit in den Him­mel, ihn, "den gu­ten Men­schen" mit dem "dunklen Dran­ge": – dort im Him­mel fin­den sich die Lie­ben­den wie­der. – Goe­the sagt ein­mal, für das ei­gent­lich Tra­gi­sche sei sei­ne Na­tur zu kon­zi­li­ant ge­we­sen.

125

Gibt es "deut­sche Klas­si­ker"? – Sain­te-Beu­ve be­merkt ein­mal, daß zu der Art ei­ni­ger Li­te­ra­tu­ren das Wort "Klas­si­ker" durch­aus nicht klin­gen wol­le: wer wer­de zum Bei­spiel so leicht von "deut­schen Klas­si­kern" re­den! – Was sa­gen uns­re deut­schen Buch­händ­ler dazu wel­che auf dem Wege sind, die fünf­zig deut­schen Klas­si­ker, an die wir schon glau­ben sol­len, noch um wei­te­re fünf­zig zu ver­meh­ren? Scheint es doch fast, als ob man eben nur 30 Jah­re lang tot zu sein und als er­laub­te Beu­te öf­fent­lich da­zu­lie­gen brau­che, um un­ver­se­hens plötz­lich als Klas­si­ker die Trom­pe­te der Au­fer­ste­hung zu hö­ren! Und dies in ei­ner Zeit und un­ter ei­nem Vol­ke, wo selbst von den sechs großen Stamm­vä­tern der Li­te­ra­tur fünf un­zwei­deu­tig ver­al­ten oder ver­al­tet sind, – oh­ne daß die­se Zeit und die­ses Volk sich ge­ra­de des­sen zu schä­men hät­ten! Denn jene sind vor den Stär­ken die­ser Zeit zu­rück­ge­wi­chen – man über­le­ge es sich nur mit al­ler Bil­lig­keit! – Von Goe­the, wie an­ge­deu­tet, sehe ich ab, er ge­hört in eine hö­he­re Gat­tung von Li­te­ra­tu­ren, als "Na­tio­nal-Li­te­ra­tu­ren" sind: des­halb steht er auch zu sei­ner Na­tion we­der im Ver­hält­nis des Le­bens, noch des Neus­eins, noch des Veral­tens. Nur für we­ni­ge hat er ge­lebt und lebt er noch: für die meis­ten ist er nichts als eine Fan­fa­re der Ei­tel­keit, wel­che man von Zeit zu Zeit über die deut­sche Gren­ze hin­über­bläst. Goe­the, nicht nur ein gu­ter und großer Mensch, son­dern eine Kul­tur, Goe­the ist in der Ge­schich­te der Deut­schen ein Zwi­schen­fall ohne Fol­gen: wer wäre im­stan­de, in der deut­schen Po­li­tik der letz­ten 70 Jah­re zum Bei­spiel ein Stück Goe­the auf­zu­zei­gen! (wäh­rend je­den­falls dar­in ein Stück Schil­ler, und viel­leicht so­gar ein Stück­chen Les­sing tä­tig ge­we­sen ist). Aber jene an­dern fünf! Klop­stock ver­al­te­te schon bei Leb­zei­ten auf eine sehr ehr­wür­di­ge Wei­se; und so gründ­lich, daß das nach­denk­li­che Buch sei­ner spä­te­ren Jah­re, die Ge­lehr­ten-Re­pu­blik, wohl bis heu­ti­gen Tag von nie­man­dem ernst ge­nom­men wor­den ist. Her­der hat­te das Un­glück, daß sei­ne Schrif­ten im­mer ent­we­der neu oder ver­al­tet wa­ren; für die fei­ne­ren und stär­ke­ren Köp­fe (wie für Lich­ten­berg) war zum Bei­spiel selbst Her­ders Haupt­werk, sei­ne Ide­en zur Ge­schich­te der Mensch­heit, so­fort beim Er­schei­nen et­was Veral­te­tes. Wie­land, der reich­lich ge­lebt und zu le­ben ge­ge­ben hat, kam als ein klu­ger Mann dem Schwin­den sei­nes Ein­flus­ses durch den Tod zu­vor. Les­sing lebt viel­leicht heu­te noch, – aber un­ter jun­gen und im­mer jün­ge­ren Ge­lehr­ten! Und Schil­ler ist jetzt aus den Hän­den der Jüng­lin­ge in die der Kna­ben, al­ler deut­schen Kna­ben ge­ra­ten! Es ist ja eine be­kann­te Art des Veral­tens, daß ein Buch zu im­mer un­rei­fe­ren Le­bensal­tern hin­ab­steigt. – Und was hat die­se fünf zu­rück­ge­drängt, so daß gut un­ter­rich­te­te und ar­beit­sa­me Män­ner sie nicht mehr le­sen? Der bes­se­re Ge­schmack, das bes­se­re Wis­sen, die bes­se­re Ach­tung vor dem Wah­ren und Wirk­li­chen: also lau­ter Tu­gen­den, wel­che ge­ra­de durch jene fünf (und durch zehn und zwan­zig an­de­re we­ni­ger lau­ten Na­mens) erst wie­der in Deutsch­land an­ge­pflanz­t wor­den sind, und wel­che jetzt als ho­her Wald über ih­ren Grä­bern ne­ben dem Schat­ten der Ehr­furcht auch et­was vom Schat­ten der Ver­ges­sen­heit brei­ten. – Aber Klas­si­ker sind nicht An­pflan­zer von in­tel­lek­tu­el­len und li­te­ra­ri­schen Tu­gen­den, son­dern Vol­len­der und höchs­te Licht­spit­zen der­sel­ben, wel­che über den Völ­kern ste­hen blei­ben, wenn die­se sel­ber zu­grun­de­ge­hen: denn sie sind leich­ter, frei­er, rei­ner als sie. Es ist ein ho­her Zu­stand der Mensch­heit mög­lich, wo das Eu­ro­pa der Völ­ker eine dunkle Ver­ges­sen­heit ist, wo Eu­ro­pa aber noch in drei­ßig sehr al­ten, nie ver­al­te­ten Bü­chern lebt: in den Klas­si­kern.