Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

46

Kloa­ken der See­le. – Auch die See­le muß ihre be­stimm­ten Kloa­ken ha­ben, wo­hin sie ih­ren Un­rat ab­flie­ßen läßt: dazu die­nen Per­so­nen, Ver­hält­nis­se, Stän­de oder das Va­ter­land oder die Welt oder end­lich – für die ganz Hof­fär­ti­gen (ich mei­ne un­se­re lie­ben mo­der­nen "Pes­si­mis­ten") – der lie­be Gott.

47

Ei­ne Art von Ruhe und Be­schau­lich­keit. – Hüte dich, daß dei­ne Ruhe und Be­schau­lich­keit nicht der des Hun­des vor ei­nem Flei­scher­la­den gleicht, den die Furcht nicht vor­wärts und die Be­gier­de nicht rück­wärts ge­hen läßt: und der die Au­gen auf­sperrt, als ob sie Mün­der wä­ren.

48

Das Ver­bot ohne Grün­de. – Ein Ver­bot, des­sen Grün­de wir nicht ver­ste­hen oder zu­ge­ben, ist nicht nur für den Trotz­kopf, son­dern auch für den Er­kennt­nis­durs­ti­gen fast ein Ge­heiß: man läßt es auf den Ver­such an­kom­men, um so zu er­fah­ren, wes­halb das Ver­bot ge­ge­ben ist. Mora­li­sche Ver­bo­te, wie die des De­ka­logs, pas­sen nur für Zeit­al­ter der un­ter­wor­fe­nen Ver­nunft: jetzt wür­de ein Ver­bot "du sollst nicht tö­ten", "du sollst nicht ehe­bre­chen", ohne Grün­de hin­ge­stellt, eher eine schäd­li­che als eine nütz­li­che Wir­kung ha­ben.

49

Cha­rak­ter­bild. – Was ist das für ein Mensch, der von sich sa­gen kann: "ich ver­ach­te sehr leicht, aber has­se nie. An je­dem Men­schen fin­de ich so­fort et­was her­aus, das zu eh­ren ist und des­sent­we­gen ich ihn ehre; die so­ge­nann­ten lie­bens­wür­di­gen Ei­gen­schaf­ten zie­hen mich we­nig an".

50

Mit­lei­den und Ver­ach­tung. – Mit­lei­den äu­ßern wird als ein Zei­chen der Ver­ach­tung emp­fun­den, weil man er­sicht­lich auf­ge­hört hat, ein Ge­gen­stand der Furcht zu sein, so­bald ei­nem Mit­lei­den er­wie­sen wird. Man ist un­ter das Ni­veau des Gleich­ge­wichts hin­ab­ge­sun­ken, wäh­rend schon je­nes der mensch­li­chen Ei­tel­keit nicht ge­nug­tut, son­dern erst das Her­vor­ra­gen und Furcht­ein­flö­ßen der See­le das er­wünsch­tes­te al­ler Ge­füh­le gibt. Des­halb ist es ein Pro­blem, wie die Schät­zung des Mit­leids auf­ge­kom­men ist, eben­so wie er­klärt wer­den muß, warum jetzt der Unei­gen­nüt­zi­ge ge­lob­t wird: ur­sprüng­lich wird er ver­ach­tet oder als tückisch ge­fürch­tet.

51

Klein sein kön­nen. – Man muß den Blu­men, Grä­sern und Schmet­ter­lin­gen auch noch so nah sein wie ein Kind, das nicht viel über sie hin­weg reicht. Wir Äl­te­ren da­ge­gen sind über sie hin­aus­ge­wach­sen und müs­sen uns zu ih­nen her­ab­las­sen; ich mei­ne, die Grä­ser has­sen uns, wenn wir un­se­re Lie­be für sie be­ken­nen. – Wer an al­lem Gu­ten teil­ha­ben will, muß auch zu Stun­den klein zu sein ver­ste­hen.

52

In­halt des Ge­wis­sens. – Der In­halt un­se­res Ge­wis­sens ist al­les, was in den Jah­ren der Kind­heit von uns ohne Grund re­gel­mä­ßig ge­for­der­t wur­de durch Per­so­nen, die wir ver­ehr­ten oder fürch­te­ten. Vom Ge­wis­sen aus wird also je­nes Ge­fühl des Müs­sens er­regt ("die­ses muß ich tun, die­ses las­sen"), wel­ches nicht fragt: warum muß ich? – In al­len Fäl­len, wo eine Sa­che mit "weil" und "warum" ge­tan wird, han­delt der Mensch oh­ne Ge­wis­sen; des­halb aber noch nicht wi­der das­sel­be. – Der Glau­be an Au­to­ri­tä­ten ist die Quel­le des Ge­wis­sens: es ist also nicht die Stim­me Got­tes in der Brust des Men­schen, son­dern die Stim­me ei­ni­ger Men­schen im Men­schen.

53

Ü­ber­win­dung der Lei­den­schaf­ten. – Der Mensch, der sei­ne Lei­den­schaf­ten über­wun­den hat, ist in den Be­sitz des frucht­bars­ten Erd­rei­ches ge­tre­ten: wie der Ko­lo­nist, der über die Wäl­der und Sümp­fe Herr ge­wor­den ist. Auf dem Bo­den der be­zwun­ge­nen Lei­den­schaf­ten den Sa­men der gu­ten geis­ti­gen Wer­ke sä­en, ist dann die drin­gen­de nächs­te Auf­ga­be. Die Über­win­dung sel­ber ist nur ein Mit­tel, kein Ziel; wenn sie nicht so an­ge­se­hen wird, so wächst schnell al­ler­lei Un­kraut und Teu­fels­zeug auf dem leer ge­wor­de­nen fet­ten Bo­den auf, und bald geht es auf ihm vol­ler und tol­ler zu als je vor­her.

54

Ge­schick zum Die­nen. – Alle so­ge­nann­ten prak­ti­schen Men­schen ha­ben ein Ge­schick zum Die­nen: das eben macht sie prak­tisch, sei es für an­de­re oder für sich sel­ber. Ro­bin­son be­saß noch einen bes­se­ren Die­ner, als Frei­tag war: das war Cru­soe.

55

Ge­fahr der Spra­che für die geis­ti­ge Frei­heit. – Je­des Wort ist ein Vor­ur­teil.

56

Geist und Lan­ge­wei­le. – Das Sprich­wort: "Der Magyar ist viel zu faul, um sich zu lang­wei­len" gibt zu den­ken. Die feins­ten und tä­tigs­ten Tie­re erst sind der Lan­ge­wei­le fä­hig. – Ein Vor­wurf für einen großen Dich­ter wäre die Lan­ge­wei­le Got­tes am sie­ben­ten Tage der Schöp­fung.

57

Im Ver­kehr mit den Tie­ren. – Man kann das Ent­ste­hen der Moral in un­se­rem Ver­hal­ten ge­gen die Tie­re noch be­ob­ach­ten. Wo nut­zen und Scha­den nicht in Be­tracht kom­men, ha­ben wir ein Ge­fühl der völ­li­gen Un­ver­ant­wort­lich­keit; wir tö­ten und ver­wun­den zum Bei­spiel In­sek­ten oder las­sen sie le­ben und den­ken für ge­wöhn­lich gar nichts da­bei. Wir sind so plump, daß schon un­se­re Ar­tig­kei­ten ge­gen Blu­men und klei­ne Tie­re fast im­mer mör­de­risch sind: was un­ser Ver­gün­gen an ih­nen gar nicht be­ein­träch­tigt. – Es ist heu­te das Fest der klei­nen Tie­re, der schwüls­te Tage des Jah­res: es wim­melt und krab­belt um uns, und wir zer­drücken, ohne es zu wol­len, a­ber auch ohne acht zu ge­ben, bald hier, bald dort ein Würm­chen und ge­fie­der­tes Kä­fer­chen. – Brin­gen die Tie­re uns Scha­den, so er­stre­ben wir auf jede Wei­se ihre Ver­nich­tung, die Mit­tel sind oft grau­sam ge­nug, ohne daß wir dies ei­gent­lich wol­len: es ist die Grau­sam­keit der Ge­dan­ken­lo­sig­keit. Nüt­zen sie, so beu­ten wir sie aus: bis eine fei­ne­re Klug­heit uns lehrt, daß ge­wis­se Tie­re für eine an­de­re Be­hand­lung, näm­lich für die der Pfle­ge und Zucht, reich­lich loh­nen. Da erst ent­steht Verant­wort­lich­keit. Ge­gen das Haus­tier wird die Quä­le­rei ge­mie­den; der eine Mensch em­pört sich, wenn ein an­de­rer un­barm­her­zig ge­gen sei­ne Kuh ist, ganz in Ge­mäß­heit der pri­mi­ti­ven Ge­mein­de-Moral, wel­che den ge­mein­sa­men Nut­zen in Ge­fahr sieht, so oft ein ein­zel­ner sich ver­geht. Wer in der Ge­mein­de ein Ver­ge­hen wahr­nimmt, fürch­tet den in­di­rek­ten Scha­den für sich: und wir fürch­ten für die Güte des Flei­sches, des Land­bau­es und der Ver­kehrs­mit­tel, wenn wir die Haus­tie­re nicht gut be­han­delt se­hen. Zu­dem er­weckt der, wel­cher roh ge­gen Tie­re ist, den Arg­wohn, auch roh ge­gen schwa­che, un­glei­che, der Ra­che un­fä­hi­ge Men­schen zu sein; er gilt als un­edel, des fei­ne­ren Stol­zes er­man­gelnd. So ent­steht ein An­satz von mo­ra­li­schem Ur­tei­len und Emp­fin­den: das bes­te tut nun der Aber­glau­be hin­zu. Man­che Tie­re rei­zen durch Bli­cke, Töne und Ge­bär­den den Men­schen an, sich in sie hin­ein­zu­dich­ten, und man­che Re­li­gio­nen leh­ren im Tie­re un­ter Um­stän­den den Wohn­sitz von Men­schen- und Göt­ter­see­len se­hen: wes­halb sie über­haupt ed­le­re Vor­sicht, ja ehr­fürch­ti­ge Scheu im Um­gan­ge mit den Tie­ren an­emp­feh­len. Auch nach dem Ver­schwin­den die­ses Aber­glau­bens wir­ken die von ihm er­weck­ten Emp­fin­dun­gen fort und rei­fen und blü­hen aus. – Das Chris­ten­tum hat sich be­kannt­lich in die­sem Punk­te als arme und zu­rück­bil­den­de Re­li­gi­on be­währt.

58

Neue Schau­spie­ler. – Es gibt un­ter den Men­schen kei­ne grö­ße­re Bana­li­tät als den Tod; zu zweit im Ran­ge steht die Ge­burt, weil nicht alle ge­bo­ren wer­den, wel­che doch ster­ben; dann folgt die Hei­rat. Aber die­se klei­nen ab­ge­spiel­ten Tra­gi­ko­mö­di­en wer­den bei je­der ih­rer un­ge­zähl­ten und un­zähl­ba­ren Auf­füh­run­gen im­mer wie­der von neu­en Schau­spie­lern dar­ge­stellt und hö­ren des­halb nicht auf, in­ter­es­sier­te Zuschau­er zu ha­ben: wäh­rend man glau­ben soll­te, daß die ge­sam­te Zuschau­er­schaft des Er­den­thea­ters sich längst aus Über­druß dar­an an al­len Bäu­men auf­ge­hängt hät­te. So­viel liegt an neu­en Schau­spie­lern, so­we­nig am Stück.

59

Was ist "obsti­nat"? – Der kür­zes­te Weg ist nicht der mög­lichst ge­ra­de, son­dern der, bei wel­chem die güns­tigs­ten Win­de un­se­re Se­gel schwel­len: so sagt die Leh­re der Schif­fah­rer. Ihr nicht zu fol­gen, das heißt obsti­nat sein: die Fes­tig­keit des Cha­rak­ters ist da durch Dumm­heit ver­un­rei­nigt.

60

Das Wort "Ei­tel­keit". – Es ist läs­tig, daß ein­zel­ne Wor­te, de­ren wir Mora­lis­ten schlech­ter­dings nicht ent­ra­ten kön­nen, schon eine Art Sit­ten­zen­sur in sich tra­gen aus je­nen Zei­ten her, in de­nen die nächs­ten und na­tür­lichs­ten Re­gun­gen des Men­schen ver­ket­zert wur­den. So wird jene Grund­über­zeu­gung, daß wir auf den Wel­len der Ge­sell­schaft viel mehr durch das, was wir gel­ten, als durch das, was wir sind, gu­tes Fahr­was­ser ha­ben oder Schiff­bruch lei­den – eine Über­zeu­gung, die für al­les Han­deln in be­zug auf die Ge­sell­schaft das Steu­er­ru­der sein muß – mit dem all­ge­meins­ten Wor­te "Ei­tel­keit", " va­ni­tas" ge­brand­markt: ei­nes der volls­ten und in­halt­reichs­ten Din­ge mit ei­nem Aus­druck, wel­cher das­sel­be als das ei­gent­lich Lee­re und Nich­ti­ge be­zeich­net, et­was Gro­ßes mit ei­nem Di­mi­nu­ti­vum, ja mit den Fe­der­stri­chen der Ka­ri­ka­tur. Es hilft nichts, wir müs­sen sol­che Wor­te ge­brau­chen, aber da­bei un­ser Ohr den Ein­flüs­te­run­gen al­ter Ge­wohn­heit ver­schlie­ßen.

 

61

Tür­ken­fa­ta­lis­mus. – Der Tür­ken­fa­ta­lis­mus hat den Grund­feh­ler, daß er den Men­schen und das Fa­tum als zwei ge­schie­de­ne Din­ge ein­an­der ge­gen­über­stellt: der Mensch, sagt er, kön­ne dem Fa­tum wi­der­stre­ben, es zu ver­ei­teln su­chen, aber schließ­lich be­hal­te es im­mer den Sieg, wes­halb das ver­nünf­tigs­te sei, zu re­si­gnie­ren oder nach Be­lie­ben zu le­ben. In Wahr­heit ist je­der Mensch sel­ber ein Stück Fa­tum; wenn er in der an­ge­ge­be­nen Wei­se dem Fa­tum zu wi­der­stre­ben meint, so voll­zieht sich eben dar­in auch das Fa­tum; der Kampf ist eine Ein­bil­dung, aber eben­so jene Re­si­gna­ti­on in das Fa­tum; alle die­se Ein­bil­dun­gen sind im Fa­tum ein­ge­schlos­sen. – Die Angst, wel­che die meis­ten vor der Leh­re der Un­frei­heit des Wil­lens ha­ben, ist die Angst vor dem Tür­ken­fa­ta­lis­mus: sie mei­nen, der Mensch wer­de schwäch­lich re­si­gniert und mit ge­fal­te­ten Hän­den vor der Zu­kunft ste­hen, weil er an ihr nichts zu än­dern ver­mö­ge: oder aber, er wer­de sei­ner vol­len Lau­nen­haf­tig­keit die Zü­gel schie­ßen las­sen, weil auch durch die­se das ein­mal Be­stimm­te nicht schlim­mer wer­den kön­ne. Die Tor­hei­ten des Men­schen sind eben­so ein Stück Fa­tum wie sei­ne Klug­hei­ten: auch jene Angst vor dem Glau­ben an das Fa­tum ist Fa­tum. Du sel­ber, ar­mer Ängst­li­cher, bist die un­be­zwing­li­che Moi­ra, wel­che noch über den Göt­tern thront, für al­les, was da kommt; du bist Se­gen oder Fluch und je­den­falls die Fes­sel, in wel­cher der Stärks­te ge­bun­den liegt; in dir ist alle Zu­kunft der Men­schen-Welt vor­her­be­stimmt, es hilft dir nichts, wenn dir vor dir sel­ber graut.

62

Ad­vo­kat des Teu­fels. – "Nur durch ei­ge­nen Scha­den wird man klug, nur durch frem­den Scha­den wird man gut" so lau­tet jene selt­sa­me Phi­lo­so­phie, wel­che alle Mora­li­tät aus dem Mit­lei­den und alle In­tel­lek­tua­li­tät aus der Iso­la­ti­on des Men­schen ab­lei­tet: da­mit ist sie un­be­wußt die Sach­wal­te­rin al­ler ir­di­schen Schad­haf­tig­keit. Denn das Mit­lei­den hat das Lei­den nö­tig und die Iso­la­ti­on die Ver­ach­tung der an­de­ren.

63

Die mo­ra­li­schen Cha­rak­ter­mas­ken. – In den Zei­ten, da die Cha­rak­ter­mas­ken der Stän­de für end­gül­tig fest, gleich den Stän­den sel­ber gel­ten, wer­den die Mora­lis­ten ver­führt sein, auch die mo­ra­li­schen Cha­rak­ter­mas­ken für ab­so­lut zu hal­ten und sie so zu zeich­nen. So ist Mo­liè­re als Zeit­ge­nos­se der Ge­sell­schaft Lud­wigs XIV. ver­ständ­lich; in un­se­rer Ge­sell­schaft der Über­gän­ge und Mit­tel­stu­fen wür­de er als ein ge­nia­ler Pe­dant er­schei­nen.

64

Die vor­nehms­te Tu­gend. – In der ers­ten Ära des hö­he­ren Men­schen­tums gilt die Tap­fer­keit als die vor­nehms­te der Tu­gen­den, in der zwei­ten die Ge­rech­tig­keit, in der drit­ten die Mä­ßi­gung, in der vier­ten die Weis­heit. In wel­cher Ära le­ben wir? In wel­cher lebst du?

65

Was vor­her nö­tig ist. – Ein Mensch, der über sei­nen Jäh­zorn, sei­ne Gall- und Rach­sucht, sei­ne Wol­lust nicht Meis­ter wer­den will und es ver­sucht, ir­gend­wo­rin sonst Meis­ter zu wer­den, ist so dumm wie der Acker­mann, der ne­ben ei­nem Wild­bach sei­ne Äcker an­legt, ohne sich ge­gen ihn zu schüt­zen.

66

Was ist Wahr­heit? – Schwar­zer­t (Me­lan­chthon): "Man pre­digt oft sei­nen Glau­ben, wenn man ihn ge­ra­de ver­lo­ren hat und auf al­len Gas­sen sucht, – und man pre­digt ihn dann nicht am schlech­tes­ten!" – Luther: Du re­dest heut’ wahr wie ein En­gel, Bru­der! Schwar­zert: "Aber es ist der Ge­dan­ke dei­ner Fein­de, und sie ma­chen auf dich die Nutz­an­wen­dung." – Luther: So wär’s eine Lüge aus des Teu­fels Hin­term.

67

Ge­wohn­heit der Ge­gen­sät­ze. – Die all­ge­mei­ne un­ge­naue Beo­b­ach­tung sieht in der Na­tur über­all Ge­gen­sät­ze (wie z. B. "warm und kalt"), wo kei­ne Ge­gen­sät­ze, son­dern nur Gr­ad­ver­schie­den­hei­ten sind. Die­se schlech­te Ge­wohn­heit hat uns ver­lei­tet, nun auch noch die in­ne­re Na­tur, die geis­tig-sitt­li­che Welt, nach sol­chen Ge­gen­sät­zen ver­ste­hen und zer­le­gen zu wol­len. Un­säg­lich viel Schmerz­haf­tig­keit, An­ma­ßung, Här­te, Ent­frem­dung, Er­käl­tung ist so in die mensch­li­che Emp­fin­dung hin­ein­ge­kom­men da­durch, daß man Ge­gen­sät­ze an Stel­le der Über­gän­ge zu se­hen mein­te.

68

Ob man ver­ge­ben kön­ne?--Wie kann man ih­nen über­haupt ver­ge­ben, wenn sie nicht wis­sen, was sie tun! Man hat gar nichts zu ver­ge­ben. –-Aber weiß ein Mensch je­mals völ­lig, was er tut? Und wenn dies im­mer min­des­tens frag­lich bleibt, so ha­ben also die Men­schen ein­an­der nie et­was zu ver­ge­ben, und Gna­de­ü­ben ist für den Ver­nünf­tigs­ten ein un­mög­li­ches Ding. Zu al­ler­letzt: wenn die Übel­tä­ter wirk­lich ge­wußt hät­ten, was sie ta­ten – so wür­den wir doch nur dann ein Recht zur Ver­ge­bung ha­ben, wenn wir ein Recht zur Be­schul­di­gung und zur Stra­fe hät­ten. Dies aber ha­ben wir nicht.

69

Ha­bi­tu­el­le Scham. – Wa­rum emp­fin­den wir Scham, wenn uns et­was Gu­tes und Aus­zeich­nen­des er­wie­sen wird, das wir, wie man sagt, "nicht ver­dient ha­ben"? Es scheint uns da­bei, daß wir uns in ein Ge­biet ein­ge­drängt ha­ben, wo wir nicht hin­ge­hö­ren, wo wir aus­ge­schlos­sen sein soll­ten, gleich­sam in ein Hei­li­ges oder Al­ler­hei­ligs­tes, wel­ches für un­sern Fuß un­be­tret­bar ist. Durch den Irr­tum an­de­rer sind wir doch hin­ein­ge­langt: und nun über­wäl­tigt uns teils Furcht, teils Ehr­furcht, teils Über­ra­schung, wir wis­sen nicht, ob wir flie­hen, ob wir des ge­seg­ne­ten Au­gen­blickes und sei­ner Gna­den-Vor­tei­le ge­nie­ßen sol­len. Bei al­ler Scham ist ein Mys­te­ri­um, wel­ches durch uns ent­weiht oder in der Ge­fahr der Ent­wei­hung zu sein scheint; alle Gna­de er­zeugt Scham. – Er­wägt man aber, daß wir über­haupt nie­mals et­was "ver­dient ha­ben", so wird, im Fall man die­ser An­sicht in­ner­halb ei­ner christ­li­chen Ge­samt-Be­trach­tung der Din­ge sich hin­gibt, das Ge­fühl der Scham ha­bi­tu­ell: weil ei­nem Sol­chen Gott fort­wäh­ren­d zu seg­nen und Gna­de zu üben scheint. Ab­ge­se­hen von die­ser christ­li­chen Aus­le­gung wäre aber auch für den völ­lig gott­lo­sen Wei­sen, der an der gründ­li­chen Un­ver­ant­wort­lich­keit und Un­ver­dienst­lich­keit al­les Wir­kens und We­sens fest­hält, je­ner Zu­stand der ha­bi­tu­el­len Scham mög­lich: wenn man ihn be­han­delt, als ob er dies und je­nes ver­dient habe, so scheint er sich in eine hö­he­re Ord­nung von We­sen ein­ge­drängt zu ha­ben, wel­che über­haupt et­was ver­die­nen, wel­che frei sind und ih­res ei­ge­nen Wol­lens und Kön­nens Verant­wor­tung wirk­lich zu tra­gen ver­mö­gen. Wer zu ihm sagt "du hast es ver­dient", scheint ihm zu­zu­ru­fen "du bist kein Mensch, son­dern ein Gott".

70

Der un­ge­schick­tes­te Er­zie­her. – Bei die­sem sind auf dem Bo­den sei­nes Wi­der­spruchs­geis­tes alle sei­ne wirk­li­chen Tu­gen­den an­ge­pflanzt, bei je­nem auf sei­ner Un­fä­hig­keit, nein zu sa­gen, also auf sei­nem Zu­stim­mungs­geis­te; ein drit­ter hat alle sei­ne Mora­li­tät aus sei­nem ein­sa­men Stol­ze, ein vier­ter die sei­ne aus sei­nem star­ken Ge­sel­lig­keit­strie­be auf­wach­sen las­sen. Ge­setzt nun, durch un­ge­schick­te Er­zie­her und Zu­fäl­le wä­ren bei die­sen vie­ren die Sa­men­kör­ner der Tu­gen­den nicht auf den Bo­den ih­rer Na­tur aus­ge­sä­et wor­den, wel­cher bei ih­nen die meis­te und fet­tes­te Erd­kru­me hat: so wä­ren sie ohne Mora­li­tät und schwa­che un­er­freu­li­che Men­schen. Und wer wür­de ge­ra­de der un­ge­schick­tes­te al­ler Er­zie­her und das böse Ver­häng­nis die­ser vier Men­schen ge­we­sen sein? Der mo­ra­li­sche Fa­na­ti­ker, wel­cher meint, daß das Gute nur aus dem Gu­ten, auf dem Gu­ten wach­sen kön­ne.

71

Schreibart der Vor­sicht. – A: Aber, wenn al­le dies wüß­ten, so wür­de es den meis­ten schäd­lich sein! Du sel­ber nennst die­se Mei­nun­gen ge­fähr­lich für die Ge­fähr­de­ten, und doch teilst du sie öf­fent­lich mit? B: Ich schrei­be so, daß we­der der Pö­bel, noch die po­pu­li, noch die Par­tei­en al­ler Art mich le­sen mö­gen. Folg­lich wer­den die­se Mei­nun­gen nie öf­fent­li­che sein. A.: Aber wie schreibst du denn? B.: We­der nütz­lich noch an­ge­nehm – für die ge­nann­ten drei.

72

Gött­li­che Mis­sio­näre. – Auch So­kra­tes fühlt sich als gött­li­cher Mis­sio­när: aber ich weiß nicht, was für ein An­flug von at­ti­scher Iro­nie und Lust am Spa­ßen auch selbst hier­bei noch zu spü­ren ist, wo­durch je­ner fa­ta­le und an­ma­ßen­de Be­griff ge­mil­dert wird. Er re­det ohne Sal­bung da­von: sei­ne Bil­der, von der Brem­se und dem Pferd, sind schlicht und un­pries­ter­lich, und die ei­gent­lich re­li­gi­öse Auf­ga­be, wie er sie sich ge­stellt fühlt, den Gott auf hun­der­ter­lei Wei­se auf die Pro­be zu stel­len, ob er die Wahr­heit ge­re­det habe, läßt auf eine küh­ne und frei­mü­ti­ge Ge­bär­de schlie­ßen, mit der hier der Mis­sio­när sei­nem Got­te an die Sei­te tritt. Je­nes Auf-die-Pro­be-Stel­len des Got­tes ist ei­ner der feins­ten Kom­pro­mis­se zwi­schen Fröm­mig­keit und Frei­heit des Geis­tes, wel­che je er­dacht wor­den sind. – Jetzt ha­ben wir auch die­sen Kom­pro­miß nicht mehr nö­tig.

73

Ehr­li­ches Maler­tum. – Raf­fa­el, dem viel an der Kir­che (so­fern sie zah­lungs­fä­hig war), aber we­nig, gleich den Bes­ten sei­ner Zeit, an den Ge­gen­stän­den des kirch­li­chen Glau­bens ge­le­gen war, ist der an­spruchs­vol­len ek­sta­ti­schen Fröm­mig­keit man­cher sei­ner Be­stel­ler nicht einen Schritt weit nach­ge­gan­gen: er hat sei­ne Ehr­lich­keit be­wahrt, selbst in je­nem Aus­nah­me-Bild, das ur­sprüng­lich für eine Pro­zes­si­ons-Fah­ne be­stimmt war, in der Six­ti­ni­schen Ma­don­na. Hier woll­te er ein­mal eine Vi­si­on ma­len: aber eine sol­che, wie sie edle jun­ge Män­ner ohne "Glau­ben" auch ha­ben dür­fen und ha­ben wer­den, die Vi­si­on der zu­künf­ti­gen Gat­tin, ei­nes klu­gen, see­lisch-vor­neh­men, schweig­sa­men und sehr schö­nen Wei­bes, das ih­ren Erst­ge­bo­re­nen im Arme trägt. Mö­gen die Al­ten, die an das Be­ten und An­be­ten ge­wöhnt sind, hier, gleich dem ehr­wür­di­gen Grei­se zur Lin­ken, et­was Über­mensch­li­ches ver­eh­ren: wir Jün­ge­ren wol­len es, so scheint Raf­fa­el uns zu­zu­ru­fen, mit dem schö­nen Mäd­chen zur Rech­ten hal­ten, wel­che mit ih­rem auf­for­dern­den, durch­aus nicht de­vo­ten Bli­cke den Be­trach­tern des Bil­des sagt: "Nicht wahr? Die­se Mut­ter und ihr Kind – das ist ein an­ge­neh­mer ein­la­den­der An­blick?" Dies Ge­sicht und die­ser Blick strahlt von der Freu­de in den Ge­sich­tern der Be­trach­ter wie­der; der Künst­ler, der dies al­les er­fand, ge­nießt sich auf die­se Wei­se sel­ber und gibt sei­ne ei­ge­ne Freu­de zur Freu­de der Kunst-Empfan­gen­den hin­zu. – In be­treff des "hei­land­haf­ten" Aus­drucks im Kop­fe ei­nes Kin­des hat Raf­fa­el, der Ehr­li­che, der kei­nen See­len­zu­stand ma­len woll­te, an des­sen Exis­tenz er nicht glaub­te, sei­ne gläu­bi­gen Be­trach­ter auf eine ar­ti­ge Wei­se über­lis­tet; er mal­te je­nes Na­tur­spiel, das nicht sel­ten vor­kommt, das Män­ne­r­au­ge im Kinds­kop­fe, und zwar das Auge des wa­cke­ren, hil­fe­rei­chen Man­nes, der einen Not­stand sieht. Zu die­sem Auge ge­hört ein Bart; daß die­ser fehlt und daß zwei ver­schie­de­ne Le­bensal­ter hier aus ei­nem Ge­sich­te spre­chen, dies ist die an­ge­neh­me Pa­ra­do­xie, wel­che die Gläu­bi­gen sich im Sin­ne ih­res Wun­der­glau­bens ge­deu­tet ha­ben: so wie es der Künst­ler von ih­rer Kunst des Deu­tens und Hin­ein­le­gens auch er­war­ten durf­te.