Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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5.

Dem Künst­ler der dé­ca­dence – da steht das Wort. Und da­mit be­ginnt mein Ernst. Ich bin fer­ne da­von, harm­los zu­zu­schau­en, wenn die­ser dé­ca­dent uns die Ge­sund­heit verdirbt – und die Mu­sik dazu! Ist Wa­gner über­haupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krank­heit? Er macht Al­les krank, wor­an er rührt, – er hat die Mu­sik krank ge­macht –

Ein ty­pi­scher dé­ca­dent, der sich nothwen­dig in sei­nem ver­derb­ten Ge­schmack fühlt, der mit ihm einen hö­he­ren Ge­schmack in An­spruch nimmt, der sei­ne Ver­derb­niss als Ge­setz, als Fort­schritt, als Er­fül­lung in Gel­tung zu brin­gen weiss.

Und man wehrt sich nicht. Sei­ne Ver­füh­rungs­kraft steigt in’s Un­ge­heu­re, es qualmt um ihn von Weih­rauch, das Miss­ver­ständ­niss über ihn heisst sich "Evan­ge­li­um" – er hat durch­aus nicht bloss die Ar­men des Geis­tes zu sich über­re­det!

Ich habe Lust, ein we­nig die Fens­ter auf­zu­ma­chen. Luft! Mehr Luft! – –

Dass man sich in Deutsch­land über Wa­gner be­trügt, be­frem­det mich nicht. Das Ge­gent­heil wür­de mich be­frem­den. Die Deut­schen ha­ben sich einen Wa­gner zu­recht ge­macht, den sie ver­eh­ren kön­nen: sie wa­ren noch nie Psy­cho­lo­gen, sie sind da­mit dank­bar, dass sie miss­ver­stehn. Aber dass man sich auch in Pa­ris über Wa­gner be­trügt! wo man bei­na­he nichts Andres mehr ist als Psy­cho­log. Und in Sankt-Pe­ters­burg! wo man Din­ge noch er­räth, die selbst in Pa­ris nicht er­rat­hen wer­den. Wie ver­wandt muss Wa­gner der ge­samm­ten eu­ro­päi­schen dé­ca­dence sein, dass er von ihr nicht als dé­ca­dent emp­fun­den wird! Er ge­hört zu ihr: er ist ihr Pro­tago­nist, ihr grös­ster Name … Man ehrt sich, wenn man ihn in die Wol­ken hebt. – Denn dass man nicht ge­gen ihn sich wehrt, das ist selbst schon ein Zei­chen von dé­ca­dence. Der In­stinkt ist ge­schwächt. Was man zu scheu­en hät­te, das zieht an. Man setzt an die Lip­pen, was noch schnel­ler in den Ab­grund treibt. – Will man ein Bei­spiel? Aber man hat nur das ré­gime zu be­ob­ach­ten, das sich Anämi­sche oder Gich­ti­sche oder Dia­be­ti­ker selbst ver­ord­nen. De­fi­ni­ti­on des Ve­ge­ta­ri­ers: ein We­sen, das eine cor­ro­bor­i­ren­de Diät nö­thig hat. Das Schäd­li­che als schäd­lich emp­fin­den, sich et­was Schäd­li­ches ver­bie­ten kön­nen ist ein Zei­chen noch von Ju­gend, von Le­bens­kraft. Den Er­schöpf­ten lockt das Schäd­li­che: den Ve­ge­ta­ri­er das Ge­mü­se. Die Krank­heit selbst kann ein Sti­mu­lans des Le­bens sein: nur muss man ge­sund ge­nug für dies Sti­mu­lans sein! – Wa­gner ver­mehrt die Er­schöp­fung: des­halb zieht er die Schwa­chen und Er­schöpf­ten an. Oh über das Klap­per­schlan­gen-Glück des al­ten Meis­ters, da er ge­ra­de im­mer "die Kind­lein" zu sich kom­men sah! –

Ich stel­le die­sen Ge­sichts­punkt vor­an: Wa­gner’s Kunst ist krank. Die Pro­ble­me, die er auf die Büh­ne bringt – lau­ter Hys­te­ri­ker-Pro­ble­me –, das Con­vul­si­vi­sche sei­nes Af­fekts, sei­ne über­reiz­te Sen­si­bi­li­tät, sein Ge­schmack, der nach im­mer schär­fern Wür­zen ver­lang­te, sei­ne In­sta­bi­li­tät, die er zu Prin­ci­pi­en ver­klei­de­te, nicht am we­nigs­ten die Wahl sei­ner Hel­den und Hel­din­nen, die­se als phy­sio­lo­gi­sche Ty­pen be­trach­tet (– eine Kran­ken-Ga­le­rie! –): Al­les zu­sam­men stellt ein Krank­heits­bild dar, das kei­nen Zwei­fel lässt. Wa­gner est une névro­se. Nichts ist viel­leicht heu­te bes­ser be­kannt, Nichts je­den­falls bes­ser stu­dirt als der Pro­teus-Cha­rak­ter der De­ge­ne­re­scenz, der hier sich als Kunst und Künst­ler ver­puppt. Uns­re Aerz­te und Phy­sio­lo­gen ha­ben in Wa­gner ih­ren in­ter­essan­tes­ten Fall, zum Min­des­ten einen sehr voll­stän­di­gen. Gera­de, weil Nichts mo­der­ner ist als die­se Ge­samm­ter­kran­kung, die­se Spät­heit und Über­reizt­heit der ner­vö­sen Ma­schi­ne­rie, ist Wa­gner der mo­der­ne Künst­ler par ex­cel­lence, der Cagliostro der Mo­der­ni­tät. In sei­ner Kunst ist auf die ver­füh­re­ri­sche­s­te Art ge­mischt, was heu­te alle Welt am nö­thigs­ten hat, – die drei gros­sen Sti­mu­lan­tia der Er­schöpf­ten, das Bru­ta­le, das Künst­li­che und das Un­schul­di­ge (Idio­ti­sche).

Wa­gner ist ein gros­ser Ver­derb für die Mu­sik. Er hat in ihr das Mit­tel er­rat­hen, müde Ner­ven zu rei­zen, – er hat die Mu­sik da­mit krank ge­macht. Sei­ne Er­fin­dungs­ga­be ist kei­ne klei­ne in der Kunst, die Er­schöpf­tes­ten wie­der auf­zu­sta­cheln, die Halb­tod­ten in’s Le­ben zu ru­fen. Er ist der Meis­ter hyp­no­ti­scher Grif­fe, er wirft die Stärks­ten noch wie Stie­re um. Der Er­folg Wa­gner’s – sein Er­folg bei den Ner­ven und folg­lich bei den Frau­en – hat die gan­ze ehr­gei­zi­ge Mu­si­ker-Welt zu Jün­gern sei­ner Ge­heim­kunst ge­macht. Und nicht nur die ehr­gei­zi­ge, auch die klu­ge … Man macht heu­te nur Geld mit kran­ker Mu­sik; uns­re gros­sen Thea­ter le­ben von Wa­gner.

6.

– Ich ge­stat­te mir wie­der eine Er­hei­te­rung. Ich set­ze den Fall, dass der Er­folg Wa­gner’s leib­haft wür­de, Ge­stalt an­näh­me, dass er, ver­klei­det zum men­schen­freund­li­chen Mu­sik­ge­lehr­ten, sich un­ter jun­ge Künst­ler misch­te. Wie mei­nen Sie wohl, dass er sich da ver­laut­bar­te? –

Mei­ne Freun­de, wür­de er sa­gen, re­den wir fünf Wor­te un­ter uns. Es ist leich­ter, schlech­te Mu­sik zu ma­chen als gute. Wie? wenn es aus­ser­dem auch noch vort­heil­haf­ter wäre? wir­kungs­vol­ler, über­re­den­der, be­geis­tern­der, zu­ver­läs­si­ger? wag­ne­ri­scher? … Pulchrum est pau­corum ho­mi­num. Schlimm ge­nug! Wir ver­stehn La­tein, wir ver­stehn viel­leicht auch un­sern Vort­heil. Das Schö­ne hat sei­nen Ha­ken: wir wis­sen das. Wozu also Schön­heit? Wa­rum nicht lie­ber das Gros­se, das Er­hab­ne, das Gi­gan­ti­sche, Das, was die Mas­sen be­wegt? – Und noch­mals: es ist leich­ter, gi­gan­tisch zu sein als schön; wir wis­sen das …

Wir ken­nen die Mas­sen, wir ken­nen das Thea­ter. Das Bes­te, was dar­in sitzt, deut­sche Jüng­lin­ge, ge­hörn­te Sieg­frie­de und and­re Wa­gne­ria­ner, be­darf des Er­ha­be­nen, des Tie­fen, des Über­wäl­ti­gen­den. So viel ver­mö­gen wir noch. Und das And­re, das auch noch dar­in sitzt, die Bil­dungs-Cre­tins, die klei­nen Bla­sir­ten, die Ewig-Weib­li­chen, die Glück­lich-Ver­dau­en­den, kurz das Volk – be­darf eben­falls des Er­ha­be­nen, des Tie­fen, des Über­wäl­ti­gen­den. Das hat Al­les ei­ner­lei Lo­gik. "Wer uns um­wirft, der ist stark; wer uns er­hebt, der ist gött­lich; wer uns ah­nen macht, der ist tief." – Ent­sch­lies­sen wir uns, mei­ne Herrn Mu­si­ker: wir wol­len sie um­wer­fen, wir wol­len sie er­he­ben, wir wol­len sie ah­nen ma­chen. So viel ver­mö­gen wir noch.

Was das Ah­nen-ma­chen be­trifft: so nimmt hier un­ser Be­griff "Stil" sei­nen Aus­gangs­punkt. Vor Al­lem kein Ge­dan­ke! Nichts ist com­pro­mit­ti­ren­der als ein Ge­dan­ke! Son­dern der Zu­stand vor dem Ge­dan­ken, das Ge­dräng der noch nicht ge­bo­re­nen Ge­dan­ken, das Ver­spre­chen zu­künf­ti­ger Ge­dan­ken, die Welt, wie sie war, be­vor Gott sie schuf, – eine Re­cru­de­scenz des Cha­os … Das Cha­os macht ah­nen …

In der Spra­che des Meis­ters ge­re­det: Unend­lich­keit, aber ohne Me­lo­die.

Was, zu­zweit, das Um­wer­fen an­geht, so ge­hört dies zum Theil schon in die Phy­sio­lo­gie. Stu­di­ren wir vor Al­lem die In­stru­men­te. Ei­ni­ge von ih­nen über­re­den selbst noch die Ein­ge­wei­de (– sie öff­nen die Tho­re, mit Hän­del zu re­den), and­re be­zau­bern das Rücken­mark. Die Far­be des Klangs ent­schei­det hier; was er­klingt, ist bei­na­he gleich­gül­tig. Raf­fi­ni­ren wir in die­se in Punk­te! Wozu uns sonst ver­schwen­den? Sei­en wir im Klang cha­rak­te­ris­tisch bis zur Narr­heit! Man rech­net es un­serm Geis­te zu, wenn wir mit Klän­gen viel zu rat­hen ge­ben! Agaçi­ren wir die Ner­ven, schla­gen wir sie todt, hand­ha­ben wir Blitz und Don­ner, – das wirft um …

Vor Al­lem aber wirft die Lei­den­schaft um. – Ver­ste­hen wir uns über die Lei­den­schaft. Nichts ist wohl­fei­ler als die Lei­den­schaft! Man kann al­ler Tu­gen­den des Con­tra­punk­tes ent­rat­hen, man braucht Nichts ge­lernt zu ha­ben, – die Lei­den­schaft kann man im­mer! Die Schön­heit ist schwie­rig: hü­ten wir uns vor der Schön­heit! … Und gar die Me­lo­die! Ver­leum­den wir, mei­ne Freun­de, ver­leum­den wir, wenn an­ders es uns ernst ist mit dem Idea­le, ver­leum­den wir die Me­lo­die! Nichts ist ge­fähr­li­cher als eine schö­ne Me­lo­die! Nichts verdirbt si­che­rer den Ge­schmack! Wir sind ver­lo­ren, mei­ne Freun­de, wenn man wie­der schö­ne Me­lo­di­en liebt! …

Grund­satz: die Me­lo­die ist un­mo­ra­lisch. Be­weis: Pa­le­stri­na. Nutz­an­wen­dung: Par­si­fal. Der Man­gel an Me­lo­die hei­ligt selbst …

Und dies ist die De­fi­ni­ti­on der Lei­den­schaft. Lei­den­schaft – oder die Gym­nas­tik des Häss­li­chen auf dem Sei­le der En­har­mo­nik. – Wa­gen wir es, mei­ne Freun­de, häss­lich zu sein! Wa­gner hat es ge­wagt! Wäl­zen wir un­ver­zagt den Schlamm der wid­rigs­ten Har­mo­ni­en vor uns her! Scho­nen wir uns­re Hän­de nicht! Erst da­mit wer­den wir na­tür­lich…

Ei­nen letz­ten Rath! Vi­el­leicht fasst er Al­les in Eins. – Sei­en wir Idea­lis­ten! – Dies ist, wenn nicht das Klügs­te, so doch das Wei­ses­te, was wir thun kön­nen. Um die Men­schen zu er­he­ben, muss man selbst er­ha­ben sein. Wan­deln wir über Wol­ken, ha­ran­gui­ren wir das Unend­li­che, stel­len wir die gros­sen Sym­bo­le um uns her­um! Sur­sum! Bum­bum! – es giebt kei­nen bes­se­ren Rath. Der "ge­ho­be­ne Bu­sen" sei un­ser Ar­gu­ment, das "schö­ne Ge­fühl" un­ser Für­spre­cher. Die Tu­gend be­hält Recht noch ge­gen den Con­tra­punkt. "Wer uns ver­bes­sert, wie soll­te der nicht selbst gut sein?" so hat die Mensch­heit im­mer ge­schlos­sen. Ver­bes­sern wir also die Mensch­heit! – da­mit wird man gut (da­mit wird man selbst "Klas­si­ker": – Schil­ler wur­de "Klas­si­ker"). Das Ha­schen nach nie­de­rem Sin­nes­reiz, nach der so­ge­nann­ten Schön­heit hat den Ita­liä­ner ent­nervt: blei­ben wir deutsch! Selbst Mo­zar­t’s Ver­hält­niss zur Mu­sik – Wa­gner hat es uns zum Trost ge­sagt! – war im Grun­de fri­vol … Las­sen wir nie­mals zu, dass die Mu­sik "zur Er­ho­lung die­ne"; dass sie "er­hei­te­re"; dass sie "Ver­gnü­gen ma­che". Ma­chen wir nie Ver­gnü­gen! – wir sind ver­lo­ren, wenn man von der Kunst wie­der he­do­nis­tisch denkt … Das ist schlech­tes acht­zehn­tes Jahr­hun­dert … Nichts da­ge­gen dürf­te räth­li­cher sein, bei Sei­te ge­sagt, als eine Do­sis – Mu­cker thum, sit ve­nia ver­bo. Das giebt Wür­de. – Und wäh­len wir die Stun­de, wo es sich schickt, schwarz zu bli­cken, öf­fent­lich zu seuf­zen, christ­lich zu seuf­zen, das gros­se christ­li­che Mit­lei­den zur Schau zu stel­len. Der Mensch ist ver­derbt: wer er­löst ihn? "was er­löst ihn?" – Ant­wor­ten wir nicht. Sei­en wir vor­sich­tig. Be­kämp­fen wir un­sern Ehr­geiz, wel­cher Re­li­gio­nen stif­ten möch­te. Aber Nie­mand darf zwei­feln, dass wir ihn er­lö­sen, dass uns­re Mu­sik al­lein er­löst … (Wa­gner’s Auf­satz "Re­li­gi­on und Kunst".)

 

7.

Ge­nug! Ge­nug! Man wird, fürch­te ich, zu deut­lich nur un­ter mei­nen hei­tern Stri­chen die si­nis­tre Wirk­lich­keit wie­der­er­kannt ha­ben – das Bild ei­nes Ver­falls der Kunst, ei­nes Ver­falls auch der Künst­ler. Der letz­te­re, ein Cha­rak­ter-Ver­fall, käme viel­leicht mit die­ser For­mel zu ei­nem vor­läu­fi­gen Aus­druck: der Mu­si­ker wird jetzt zum Schau­spie­ler, sei­ne Kunst ent­wi­ckelt sich im­mer mehr als ein Ta­lent zu lü­gen. Ich wer­de eine Ge­le­gen­heit ha­ben (in ei­nem Ca­pi­tel mei­nes Haupt­werks, das den Ti­tel führt "Zur Phy­sio­lo­gie der Kunst"), des Nä­he­ren zu zei­gen, wie die­se Ge­sammt­ver­wand­lung der Kunst in’s Schau­spie­le­ri­sche eben so be­stimmt ein Aus­druck phy­sio­lo­gi­scher De­ge­ne­re­scenz (ge­nau­er, eine Form des Hys­te­ris­mus) ist, wie jede ein­zel­ne Ver­derb­niss und Ge­brech­lich­keit der durch Wa­gner in­au­gur­ir­ten Kunst: zum Bei­spiel die Un­ru­he ih­rer Op­tik, die dazu nö­thigt, in je­dem Au­gen­blick die Stel­lung vor ihr zu wech­seln. Man ver­steht Nichts von Wa­gner, so lan­ge man in ihm nur ein Na­tur­spiel, eine Will­kür und Lau­ne, eine Zu­fäl­lig­keit sieht. Er war kein "lücken­haf­tes", kein "ver­un­glück­tes", kein "con­tra­dik­to­ri­sches" Ge­nie, wie man wohl ge­sagt hat. Wa­gner war et­was Voll­komm­nes, ein ty­pi­scher dé­ca­dent, bei dem je­der "freie Wil­le" fehlt, je­der Zug No­thwen­dig­keit hat. Wenn ir­gend Et­was in­ter­essant ist an Wa­gner, so ist es die Lo­gik, mit der ein phy­sio­lo­gi­scher Miss­stand als Prak­tik und Pro­ze­dur, als Neue­rung in den Prin­ci­pi­en, als Kri­sis des Ge­schmacks Schluss für Schluss, Schritt für Schritt macht.

Ich hal­te mich dies Mal nur bei der Fra­ge des Stils auf. – Wo­mit kenn­zeich­net sich jede lit­te­ra­ri­sche dé­ca­dence? Da­mit, dass das Le­ben nicht mehr im Gan­zen wohnt. Das Wort wird sou­ver­ain und springt aus dem Satz hin­aus, der Satz greift über und ver­dun­kelt den Sinn der Sei­te, die Sei­te ge­winnt Le­ben auf Un­kos­ten des Gan­zen – das Gan­ze ist kein Gan­zes mehr. Aber das ist das Gleich­niss für je­den Stil der dé­ca­dence: je­des Mal An­ar­chie der Ato­me, Dis­gre­ga­ti­on des Wil­lens, "Frei­heit des In­di­vi­du­ums", mo­ra­lisch ge­re­det, – zu ei­ner po­li­ti­schen Theo­rie er­wei­tert "glei­che Rech­te für Alle". Das Le­ben, die glei­che Le­ben­dig­keit, die Vi­bra­ti­on und Exu­be­ranz des Le­bens in die kleins­ten Ge­bil­de zu­rück­ge­drängt, der Rest arm an Le­ben. über­all Läh­mung, Müh­sal, Er­star­rung oder Feind­schaft und Cha­os: bei­des im­mer mehr in die Au­gen sprin­gend, in je hö­he­re For­men der Or­ga­ni­sa­ti­on man auf­steigt. Das Gan­ze lebt über­haupt nicht mehr: es ist zu­sam­men­ge­setzt, ge­rech­net, künst­lich, ein Ar­te­fakt. –

Bei Wa­gner steht im An­fang die Hal­lu­ci­na­ti­on: nicht von Tö­nen, son­dern von Ge­bär­den. Zu ih­nen sucht er erst die Ton-Se­mio­tik. Will man ihn be­wun­dern, so sehe man ihn hier an der Ar­beit: wie er hier trennt, wie er klei­ne Ein­hei­ten ge­winnt, wie er die­se be­lebt, her­aus­treibt, sicht­bar macht. Aber dar­an er­schöpft sich sei­ne Kraft: der Rest taugt Nichts. Wie arm­se­lig, wie ver­le­gen, wie lai­en­haft ist sei­ne Art zu "ent­wi­ckeln", sein Ver­such, Das, was nicht aus­ein­an­der ge­wach­sen ist, we­nigs­tens durch­ein­an­der zu ste­cken! Sei­ne Ma­nie­ren da­bei er­in­nern an die auch sonst für Wa­gner’s Stil her­an­zieh­ba­ren fréres de Gon­court: man hat eine Art Er­bar­men mit so­viel Noth­stand. Dass Wa­gner sei­ne Un­fä­hig­keit zum or­ga­ni­schen Ge­stal­ten in ein Prin­cip ver­klei­det hat, dass er einen dra­ma­ti­schen Stil" sta­tu­irt, wo wir bloss sein Un­ver­mö­gen zum Stil über­haupt sta­tu­i­ren, ent­spricht ei­ner küh­nen Ge­wohn­heit, die Wa­gnern durch­’s gan­ze Le­ben be­glei­tet hat: er setzt ein Prin­cip an, wo ihm ein Ver­mö­gen fehlt (– sehr ver­schie­den hier­in, an­bei ge­sagt, vom al­ten Kant, der eine and­re Kühn­heit lieb­te: näm­lich über­all, wo ihm ein Prin­cip fehl­te, ein "Ver­mö­gen" da­für im Men­schen an­zu­set­zen … ). Noch­mals ge­sagt: be­wun­de­rungs­wür­dig, lie­bens­wür­dig ist Wa­gner nur in der Er­fin­dung des Kleins­ten, in der Aus­dich­tung des De­tails, – man hat al­les Recht auf sei­ner Sei­te, ihn hier als einen Meis­ter ers­ten Ran­ges zu pro­kla­mi­ren, als un­sern gröss­ten Mi­nia­tu­ris­ten der Mu­sik, der in den kleins­ten Raum eine Unend­lich­keit von Sinn und Süs­se drängt. Sein Reicht­hum an Far­ben, an Halb­schat­ten, an Heim­lich­kei­ten ab­ster­ben­den Lichts ver­wöhnt der­ge­stalt, dass Ei­nem hin­ter­drein fast alle an­dern Mu­si­ker zu ro­bust vor­kom­men. – Will man mir glau­ben, so hat man den höchs­ten Be­griff Wa­gner nicht aus dem zu ent­neh­men, was heu­te von ihm ge­fällt. Das ist zur Über­re­dung von Mas­sen er­fun­den, da­vor springt Un­ser­eins wie vor ei­nem all­zu­fre­chen Affres­co zu­rück. Was geht uns die agaçan­te Bru­ta­li­tät der Tann­häu­ser-Ou­ver­tü­re an? Oder der Cir­cus Wal­kü­re? Al­les, was von Wa­gner’s Mu­sik auch ab­seits vom Thea­ter po­pu­lär ge­wor­den ist, ist zwei­fel­haf­ten Ge­schmacks und verdirbt den Ge­schmack. Der Tann­häu­ser-Marsch scheint mir der Bie­der­män­ne­rei ver­däch­tig; die Ou­ver­tü­re zum flie­gen­den Hol­län­der ist ein Lärm um Nichts; das Lo­hen­grin-Vor­spiel gab das ers­te, nur zu ver­fäng­li­che, nur zu gut ge­rat­he­ne Bei­spiel da­für, wie man auch mit Mu­sik hyp­no­ti­sirt (– ich mag alle Mu­sik nicht, de­ren Ehr­geiz nicht wei­ter geht als die Ner­ven zu über­re­den). Aber vom Ma­gnéti­seur und Affres­co-Ma­ler Wa­gner ab­ge­sehn giebt es noch einen Wa­gner, der klei­ne Kost­bar­kei­ten bei Sei­te legt: un­sern gröss­ten Me­lan­cho­li­ker der Mu­sik, voll von Bli­cken, Zärt­lich­kei­ten und Trost­wor­ten, die ihm Kei­ner vor­weg­ge­nom­men hat, den Meis­ter in Tö­nen ei­nes schwer­müthi­gen und schläf­ri­gen Glücks … Ein Le­xi­kon der in­tims­ten Wor­te Wa­gner’s, lau­ter kur­ze Sa­chen von fünf bis fünf­zehn Tak­ten, lau­ter Mu­sik, die Nie­mand kennt … Wa­gner hat­te die Tu­gend der dé­ca­dents, das Mit­lei­den – – –

8.

– Sehr gut! Aber wie kann man sei­nen Ge­schmack an die­sen dé­ca­dent ver­lie­ren, wenn man nicht zu­fäl­lig ein Mu­si­ker, wenn man nicht zu­fäl­lig selbst ein dé­ca­dent ist?" – Um­ge­kehrt! Wie kann man’s nicht! Ver­su­chen Sie’s doch! – Sie wis­sen nicht, wer Wa­gner ist: ein ganz gros­ser Schau­spie­ler! Giebt es über­haupt eine tiefe­re, eine schwe­re­re Wir­kung im Thea­ter? Se­hen Sie doch die­se Jüng­lin­ge – er­starrt, blass, athem­los! Das sind Wa­gne­ria­ner: das ver­steht Nichts von Mu­sik, – und trotz­dem wird Wa­gner über sie Herr … Wa­gner’s Kunst drückt mit hun­dert At­mo­sphä­ren: bücken Sie sich nur, man kann nicht an­ders … Der Schau­spie­ler Wa­gner ist ein Ty­rann, sein Pa­thos wirft je­den Ge­schmack, je­den Wi­der­stand über den Hau­fen. – Wer hat die­se Über­zeu­gungs­kraft der Ge­bär­de, wer sieht so be­stimmt, so zu al­ler­erst die Ge­bär­de! Dies Athem-An­hal­ten des Wa­gne­ri­schen Pa­thos, dies Nicht-mehr-los­las­sen-Wol­len ei­nes ex­tre­men Ge­fühls, die­se Schre­cken ein­flös­sen­de Län­ge in Zu­stän­den, wo der Au­gen­blick schon er­wür­gen will! – –

War Wa­gner über­haupt ein Mu­si­ker? je­den­falls war er et­was An­de­res mehr: näm­lich ein un­ver­gleich­li­cher Histrio, der gröss­te Mime, das er­staun­lichs­te Thea­ter-Ge­nie, das die Deut­schen ge­habt ha­ben, un­ser Sce­ni­ker par ex­cel­lence. Er ge­hört wo an­ders­hin als in die Ge­schich­te der Mu­sik: mit de­ren gros­sen Ech­ten soll man ihn nicht ver­wech­seln. Wa­gner und Beetho­ven – das ist eine Blas­phe­mie – und zu­letzt ein Un­recht selbst ge­gen Wa­gner … Er war auch als Mu­si­ker nur Das, was er über­haupt war: er wur­de Mu­si­ker, er wur­de Dich­ter, weil der Ty­rann in ihm, sein Schau­spie­ler-Ge­nie ihn dazu zwang. Man er­räth Nichts von Wa­gner, so lan­ge man nicht sei­nen do­mi­ni­ren­den In­stinkt er­rieth.

Wa­gner war nicht Mu­si­ker von In­stinkt. Dies be­wies er da­mit, dass er alle Ge­setz­lich­keit und, be­stimm­ter ge­re­det, al­len Stil in der Mu­sik preis­gab, um aus ihr zu ma­chen, was er nö­thig hat­te, eine Thea­ter-Rhe­to­rik, ein Mit­tel des Aus­drucks, der Ge­bär­den-Ver­stär­kung, der Sug­ge­s­ti­on, des Psy­cho­lo­gisch-Pit­to­res­ken. Wa­gner dürf­te uns hier als Er­fin­der und Neue­rer ers­ten Ran­ges gel­ten – er hat das Sprach­ver­mö­gen der Mu­sik in’s Uner­mess­li­che ver­mehrt –: er ist der Vic­tor Hugo der Mu­sik als Spra­che. Im­mer vor­aus­ge­setzt, dass man zu­erst gel­ten lässt, Mu­sik dür­fe un­ter Um­stän­den nicht Mu­sik, son­dern Spra­che, son­dern Werk­zeug, son­dern an­cil­la dra­ma­tur­gi­ca sein. Wa­gner’s Mu­sik, nicht vom Thea­ter-Ge­schma­cke, ei­nem sehr to­le­ran­ten Ge­schma­cke, in Schutz ge­nom­men, ist ein­fach schlech­te Mu­sik, die schlech­tes­te über­haupt, die viel­leicht ge­macht wor­den ist. Wenn ein Mu­si­ker nicht mehr bis drei zäh­len kann, wird er "dra­ma­tisch", wird er "Wa­gne­risch" …

Wa­gner hat bei­na­he ent­deckt, wel­che Ma­gie selbst noch mit ei­ner auf­ge­lös­ten und gleich­sam ele­men­ta­risch ge­mach­ten Mu­sik aus­ge­übt wer­den kann. Sein Be­wusst­sein da­von geht bis in’s Un­heim­li­che, wie sein In­stinkt, die hö­he­re Ge­setz­lich­keit, den Stil gar nicht nö­thig zu ha­ben. Das Ele­men­ta­ri­sche ge­nügt – Klang, Be­we­gung, Far­be, kurz die Sinn­lich­keit der Mu­sik. Wa­gner rech­net nie als Mu­si­ker, von ir­gend ei­nem Mu­si­ker-Ge­wis­sen aus: er will die Wir­kung, er will Nichts als die Wir­kung. Und er kennt das, wor­auf er zu wir­ken hat! – Er hat dar­in die Un­be­denk­lich­keit, die Schil­ler hat­te, die je­der Thea­ter­mensch hat, er hat auch des­sen Ver­ach­tung der Welt, die er sich zu Füs­sen legt! … Man ist Schau­spie­ler da­mit, dass man Eine Ein­sicht vor dem Rest der Men­schen vor­aus hat: was als wahr wir­ken soll, darf nicht wahr sein. Der Satz ist von Tal­ma for­mu­lirt: er ent­hält die gan­ze Psy­cho­lo­gie des Schau­spie­lers, er ent­hält – zwei­feln wir nicht dar­an! – auch des­sen Moral. Wa­gner’s Mu­sik ist nie­mals wahr.

– Aber man hält sie da­für: und so ist es in Ord­nung. –

So lang man noch kind­lich ist und Wa­gne­ria­ner dazu, hält man Wa­gner selbst für reich, selbst für einen Aus­bund von Ver­schwen­der, selbst für einen Gross­grund­be­sit­zer im Reich des Klangs. Man be­wun­dert an ihm, was jun­ge Fran­zo­sen an Vic­tor Hugo be­wun­dern, die "kö­nig­li­che Frei­ge­big­keit". Spä­ter be­wun­dert man den Ei­nen wie den An­dern aus um­ge­kehr­ten Grün­den: als Meis­ter und Mus­ter der Oe­ko­no­mie, als klu­ge Gast­ge­ber. Nie­mand kommt ih­nen dar­in gleich, mit be­schei­de­nem Auf­wand eine fürst­li­che Ta­fel zu re­prä­sen­ti­ren. – Der Wa­gne­ria­ner, mit sei­nem gläu­bi­gen Ma­gen, wird so­gar satt bei der Kost, die ihm sein Meis­ter vor­zau­bert. Wir An­de­ren, die wir in Bü­chern wie in Mu­sik vor Al­lem Sub­stanz­ver­lan­gen und de­nen mit bloss "re­prä­sen­tir­ten" Ta­feln kaum ge­dient ist, sind viel schlim­mer dran. Auf deutsch: Wa­gner giebt uns nicht ge­nug zu beis­sen. Sein re­ci­ta­ti­vo – we­nig Fleisch, schon mehr Kno­chen und sehr viel Brü­he – ist von mir "alla ge­no­ve­se" ge­tauft: wo­mit ich durch­aus den Ge­nue­sen nicht ge­schmei­chelt ha­ben will, wohl aber dem äl­te­ren re­ci­ta­ti­vo, dem re­ci­ta­ti­vo sec­co. Was gar das Wa­gne­ri­sche "Leit­mo­tiv" be­trifft, so fehlt mir da­für al­les ku­li­na­ri­sche Ver­ständ­niss. Ich wür­de es, wenn man mich drängt, viel­leicht als idea­len Zahn­sto­cher gel­ten las­sen, als Ge­le­gen­heit, Res­te von Spei­sen los zu wer­den. Blei­ben die "Ari­en" Wa­gner’s – Und nun sage ich kein Wort mehr.