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47.
– Das ist es nicht, was uns abscheidet, daß wir keinen Gott wiederfinden, weder in der Geschichte, noch in der Natur, noch hinter der Natur, – sondern daß wir, was als Gott verehrt wurde, nicht als »göttlich«, sondern als erbarmungswürdig, als absurd, als schädlich empfinden, nicht nur als Irrthum, sondern als Verbrechen am Leben … Wir leugnen Gott als Gott… Wenn man uns diesen Gott der Christen bewiese, wir würden ihn noch weniger zu glauben wissen. – In Formel: deus, qualem Paulus creavit, dei negatio. – Eine Religion, wie das Christenthum, die sich an keinem Punkte mit der Wirklichkeit berührt, die sofort dahinfällt, sobald die Wirklichkeit auch nur an Einem Punkte zu Rechte kommt, muß billigerweise der »Weisheit der Welt«, will sagen der Wissenschaft, todfeind sein, – sie wird alle Mittel gut heißen, mit denen die Zucht des Geistes, die Lauterkeit und Strenge in Gewissenssachen des Geistes, die vornehme Kühle und Freiheit des Geistes vergiftet, verleumdet, verrufen gemacht werden kann. Der »Glaube« als Imperativ ist das Veto gegen die Wissenschaft, – in praxi die Lüge um jeden Preis … Paulus begriff, daß die Lüge – daß »der Glaube« noth that; die Kirche begriff später wieder Paulus. – Jener »Gott«, den Paulus sich erfand, ein Gott, der »die Weisheit der Welt« (im engern Sinn die beiden großen Gegnerinnen alles Aberglaubens, Philologie und Medicin) »zu Schanden macht«, ist in Wahrheit nur der resolute Entschluß des Paulus selbst dazu: »Gott« seinen eignen Willen zu nennen, thora, das ist urjüdisch. Paulus will »die Weisheit der Welt« zu Schanden machen: seine Feinde sind die guten Philologen und Ärzte alexandrinischer Schulung –, ihnen macht er den Krieg. In der That, man ist nicht Philolog und Arzt, ohne nicht zugleich auch Antichrist zu sein. Als Philolog schaut man nämlich hinter die »heiligen Bücher«, als Arzt hinter die physiologische Verkommenheit des typischen Christen. Der Arzt sagt »unheilbar«, der Philolog »Schwindel« …
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48.
– Hat man eigentlich die berühmte Geschichte verstanden, die am Anfang der Bibel steht, – von der Höllenangst Gottes vor der Wissenschaft? … Man hat sie nicht verstanden. Dies Priesterbuch par excellence beginnt, wie billig, mit der großen inneren Schwierigkeit des Priesters: er hat nur Eine große Gefahr, folglich hat »Gott« nur Eine große Gefahr. –
Der alte Gott, ganz »Geist«, ganz Hoherpriester, ganz Vollkommenheit, lustwandelt in seinen Gärten: nur daß er sich langweilt. Gegen die Langeweile kämpfen Götter selbst vergebens. Was thut er? Er erfindet den Menschen, – der Mensch ist unterhaltend … Aber siehe da, auch der Mensch langweilt sich. Das Erbarmen Gottes mit der einzigen Noth, die alle Paradiese an sich haben, kennt keine Grenzen: er schuf alsbald noch andre Thiere. Erster Fehlgriff Gottes: der Mensch fand die Thiere nicht unterhaltend, – er herrschte über sie, er wollte nicht einmal »Thier« sein. – Folglich schuf Gott das Weib. Und in der That, mit der Langenweile hatte es nun ein Ende, – aber auch mit Anderem noch! Das Weib war der zweite Fehlgriff Gottes. – »Das Weib ist seinem Wesen nach Schlange, Heva« – das weiß jeder Priester; »vom Weib kommt jedes Unheil in der Welt« – das weiß ebenfalls jeder Priester. » Folglich kommt von ihm auch die Wissenschaft« … Erst durch das Weib lernte der Mensch vom Baume der Erkenntniß kosten. – Was war geschehn? Den alten Gott ergriff eine Höllenangst. Der Mensch selbst war sein größter Fehlgriff geworden, er hatte sich einen Rivalen geschaffen, die Wissenschaft macht gottgleich, – es ist mit Priestern und Göttern zu Ende, wenn der Mensch wissenschaftlich wird! – Moral: die Wissenschaft ist das Verbotene an sich, – sie allein ist verboten. Die Wissenschaft ist die erste Sünde, der Keim aller Sünde, die Erbsünde. Dies allein ist Moral. – »Du sollst nicht erkennen«: – der Rest folgt daraus. – Die Höllenangst Gottes verhinderte ihn nicht, klug zu sein. Wie wehrt man sich gegen die Wissenschaft? das wurde für lange sein Hauptproblem. Antwort: fort mit dem Menschen aus dem Paradiese! Das Glück, der Müßiggang bringt auf Gedanken, – alle Gedanken sind schlechte Gedanken… Der Mensch soll nicht denken. – Und der »Priester an sich« erfindet die Noth, den Tod, die Lebensgefahr der Schwangerschaft, jede Art von Elend, Alter, Mühsal, die Krankheit vor Allem, – lauter Mittel im Kampfe mit der Wissenschaft! Die Noth erlaubt dem Menschen nicht, zu denken … Und trotzdem! entsetzlich! Das Werk der Erkenntniß thürmt sich auf, himmelstürmend, götterandämmernd, – was thun! – Der alte Gott erfindet den Krieg, er trennt die Völker, er macht, daß die Menschen sich gegenseitig vernichten (– die Priester haben immer den Krieg nöthig gehabt…). Der Krieg – unter Anderem ein großer Störenfried der Wissenschaft! – Unglaublich! Die Erkenntniß, die Emancipation vom Priester, nimmt selbst trotz Kriegen zu. – Und ein letzter Entschluß kommt dem alten Gotte: »der Mensch ward wissenschaftlich, – es hilft Nichts, man muß ihn ersäufen!« …
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48.
– Man hat mich verstanden. Der Anfang der Bibel enthalt die ganze Psychologie des Priesters. – Der Priester kennt nur Eine große Gefahr: das ist die Wissenschaft, – der gesunde Begriff von Ursache und Wirkung. Aber die Wissenschaft gedeiht im Ganzen nur unter glücklichen Verhältnissen, – man muß Zeit, man muß Geist überflüssig haben, um zu »erkennen« … » Folglich muß man den Menschen unglücklich machen«, – dies war zu jeder Zeit die Logik des Priesters. – Man erräth bereits, was, dieser Logik gemäß, damit erst in die Welt gekommen ist: – die » Sünde«… Der Schuld- und Strafbegriff, die ganze »sittliche Weltordnung« ist erfunden gegen die Wissenschaft, – gegen die Ablösung des Menschen vom Priester … Der Mensch soll nicht hinaus«, er soll in sich hineinsehn; er soll nicht klug und vorsichtig, als Lernender, in die Dinge sehn, er soll überhaupt gar nicht sehn: er soll leiden … Und er soll so leiden, daß er jederzeit den Priester nöthig hat. – Weg mit den Ärzten! Man hat einen Heiland nöthig. – Der Schuld« und Straf-Begriff, eingerechnet die Lehre von der »Gnade«, von der »Erlösung«, von der »Vergebung« – Lügen durch und durch und ohne jede psychologische Realität – sind erfunden, um den Ursachen-Sinn des Menschen zu zerstören: sie sind das Attentat gegen den Begriff Ursache und Wirkung! – Und nicht ein Attentat mit der Faust, mit dem Messer, mit der Ehrlichkeit in Haß und Liebe! Sondern aus den feigsten, listigsten, niedrigsten Instinkten heraus! Ein Priester-Attentat! Ein Parasiten-Attentat! Ein Vampyrismus bleicher unterirdischer Blutsauger! … Wenn die natürlichen Folgen einer That nicht mehr »natürlich« sind, sondern durch Begriffs– Gespenster des Aberglaubens, durch »Gott«, durch »Geister«, durch »Seelen« bewirkt gedacht werden, als bloß »moralische« Consequenzen, als Lohn, Strafe, Wink, Erziehungsmittel, so ist die Voraussetzung zur Erkenntnis; zerstört, – so hat man das größte Verbrechen an der Menschheit begangen. – Die Sünde, nochmals gesagt, diese Selbstschändungs-Form des Menschen par excellence, ist erfunden, um Wissenschaft, um Cultur, um jede Erhöhung und Vornehmheit des Menschen unmöglich zu machen; der Priester herrscht durch die Erfindung der Sünde. –
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50.
– Ich erlasse mir an dieser Stelle eine Psychologie des »Glaubens«, der »Gläubigen« nicht, zum Nutzen, wie billig, gerade der »Gläubigen«. Wenn es heute noch an Solchen nicht fehlt, die es nicht wissen, inwiefern es unanständig ist, »gläubig« zu sein – oder ein Abzeichen von décadence, von gebrochnem Willen zum Leben –, morgen schon werden sie es wissen. Meine Stimme erreicht auch die Harthörigen, – Es scheint, wenn anders ich mich nicht verhört habe, daß es unter Christen eine Art Kriterium der Wahrheit giebt, das man den »Beweis der Kraft« nennt. »Der Glaube macht selig: also ist er wahr.« – Man dürfte hier zunächst einwenden, daß gerade das Seligmachen nicht bewiesen, sondern nur versprochen ist: die Seligkeit an die Bedingung des »Glaubens« geknüpft, – man soll selig werden, weil man glaubt … Aber daß thatsächlich eintritt, was der Priester dem Gläubigen für das jeder Controle unzugängliche »Jenseits« verspricht, womit bewiese sich das? – Der angebliche »Beweis der Kraft« ist also im Grunde wieder nur ein Glaube daran, daß die Wirkung nicht ausbleibt, welche man sich vom Glauben verspricht. In Formel: »ich glaube, daß der Glaube selig macht; – folglich ist er wahr.« – Aber damit sind wir schon am Ende. Dies »folglich« wäre das absurdum selbst als Kriterium der Wahrheit. – Setzen wir aber, mit einiger Nachgiebigkeit, daß das Seligmachen durch den Glauben bewiesen sei (– nicht nur gewünscht, nicht nur durch den etwas verdächtigen Mund eines Priesters versprochen): wäre Seligkeit – technischer geredet, Lust – jemals ein Beweis der Wahrheit? So wenig, daß es beinahe den Gegenbeweis, jedenfalls den höchsten Argwohn gegen »Wahrheit« abgiebt, wenn Lustempfindungen über die Frage »was ist wahr?« mitreden. Der Beweis der »Lust« ist ein Beweis für »Lust«, – nichts mehr; woher um Alles in der Welt stünde es fest, daß gerade wahre Urtheile mehr Vergnügen machten als falsche und, gemäß einer prästabilirten Harmonie, angenehme Gefühle mit Notwendigkeit hinter sich drein zögen? – Die Erfahrung aller strengen, aller tief gearteten Geister lehrt das Umgekehrte. Man hat jeden Schritt breit Wahrheit sich abringen müssen, man hat fast Alles dagegen preisgeben müssen, woran sonst da? Herz, woran unsre Liebe, unser Vertrauen zum Leben hängt. Es bedarf Größe der Seele dazu: der Dienst der Wahrheit ist der härteste Dienst. – Was heißt denn rechtschaffen sein in geistigen Dingen? Daß man streng gegen sein Herz ist, daß man die »schönen Gefühle« verachtet, daß man sich aus jedem Ja und Nein ein Gewissen macht! – – – Der Glaube macht selig: folglich lügt er …
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51.
Daß der Glaube unter Umständen selig macht, daß Seligkeit aus einer fixen Idee noch nicht eine wahre Idee macht, daß der Glaube keine Berge versetzt, wohl aber Berge hinsetzt, wo es keine giebt: ein flüchtiger Gang durch ein Irrenhaus klärt zur Genüge darüber auf. Nicht freilich einen Priester: denn der leugnet aus Instinkt, daß Krankheit Krankheit, daß Irrenhaus Irrenhaus ist. Das Christenthum hat die Krankheit nöthig, ungefähr wie das Griechenthum einen Überschuß von Gesundheit nöthig hat, – krank- machen ist die eigentliche Hinterabsicht des ganzen Heilsproceduren-Systems der Kirche. Und die Kirche selbst – ist sie nicht das katholische Irrenhaus als letztes Ideal? – Die Erde überhaupt als Irrenhaus? – Der religiöse Mensch, wie ihn die Kirche will, ist ein typischer décadent; der Zeitpunkt, wo eine religiöse Krisis über ein Volk Herr wird, ist jedesmal durch Nerven-Epidemien gekennzeichnet; die »innere Welt« des religiösen Menschen sieht der »inneren Welt« der Überreizten und Erschöpften zum Verwechseln ähnlich; die »höchsten« Zustände, welche das Christenthum als Werth aller Werthe über der Menschheit aufgehängt hat, sind epileptoide Formen, – die Kirche hat nur Verrückte oder große Betrüger in majorem dei honorem heilig gesprochen… Ich habe mir einmal erlaubt, den ganzen christlichen Buß- und Erlösungs- training (den man heute am besten in England studirt) als eine methodisch erzeugte folie circulaire zu bezeichnen, wie billig, auf einem bereits dazu vorbereiteten, das heißt gründlich morbiden Boden. Es steht Niemandem frei, Christ zu werden: man wird zum Christenthum nicht »bekehrt«, – man muß krank genug dazu sein … Wir Anderen, die wir den Muth zur Gesundheit und auch zur Verachtung haben, wie dürfen wir eine Religion verachten, die den Leib mißverstehen lehrte! die den Seelen–Aberglauben nicht loswerden will! die aus der unzureichenden Ernährung ein »Verdienst« macht! die in der Gesundheit eine Art Feind, Teufel, Versuchung bekämpft! die sich einredete, man könne eine »vollkommne Seele« in einem Cadaver von Leib herumtragen, und dazu nöthig hatte, einen neuen Begriff der »Vollkommenheit« sich zurecht zu machen, ein bleiches, krankhaftes, idiotisch-schwärmerisches Wesen, die sogenannte »Heiligkeit«, – Heiligkeit, selbst bloß eine Symptomen-Reihe des verarmten, entnervten, unheilbar verdorbenen Leibes! … Die christliche Bewegung, als eine europäische Bewegung, ist von vornherein eine Gesammt-Bewegung der Ausschuß- und Abfalls-Elemente aller Art (– diese wollen mit dem Christenthum zur Macht). Sie drückt nicht den Niedergang einer Rasse aus, sie ist eine Aggregat-Bildung sich zusammendrängender und sich suchender décadence-Formen von Überall. Es ist nicht, wie man glaubt, die Korruption des Alterthums selbst, des vornehmen Alterthums, was das Christenthum ermöglichte: man kann dem gelehrten Idiotismus, der auch heute noch so Etwas aufrecht erhält, nicht hart genug widersprechen. In der Zeit, wo die kranken, verdorbenen Tschandala-Schichten im ganzen Imperium sich christianisirten, war gerade der Gegentypus, die Vornehmheit, in ihrer schönsten und reifsten Gestalt vorhanden. Die große Zahl wurde Herr; der Demokratismus der christlichen Instinkte siegte … Das Christenthum war nicht »national«, nicht rassebedingt, – es wendete sich an jede Art von Enterbten des Lebens, es hatte seine Verbündeten überall. Das Christenthum hat die Rancune der Kranken auf dem Grunde, den Instinkt gegen die Gesunden, gegen die Gesundheit gerichtet. Alles Wohlgerathene, Stolze, Übermüthige, die Schönheit vor Allem thut ihm in Ohren und Augen weh. Nochmals erinnre ich an das unschätzbare Wort des Paulus: »Was schwach ist vor der Welt, was thöricht ist vor der Welt, das Unedle und Verachtete vor der Welt hat Gott erwählet«: das war die Formel, in hoc signo siegte die décadence. – Gott am Kreuze – versteht man immer noch die furchtbare Hintergedanklichkeit dieses Symbols nicht? – Alles was leidet, Alles was am Kreuze hängt, ist göttlich … Wir Alle hängen am Kreuze, folglich sind wir göttlich … Wir allein sind göttlich … Das Christenthum war ein Sieg, eine vornehmere Gesinnung gieng an ihm zu Grunde,– das Christenthum war bisher das größte Unglück der Menschheit. – –
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52.
Das Christenthum steht auch im Gegensatz zu aller geistigen Wohlgerathenheit, – es kann nur die kranke Vernunft als christliche Vernunft brauchen, es nimmt die Partei alles Idiotischen, es spricht den Fluch aus gegen den »Geist«, gegen die superbiades gesunden Geistes. Weil die Krankheit zum Wesen des Christenthums gehört, muß auch der typisch-christliche Zustand, »der Glaube«, eine Krankheitsform sein, müssen alle geraden, rechtschaffnen, wissenschaftlichen Wege zur Erkenntnis von der Kirche als verbotene Wege abgelehnt werden. Der Zweifel bereits ist eine Sünde … Der vollkommne Mangel an psychologischer Reinlichkeit beim Priester – im Blick sich verrathend – ist eine Folgeerscheinung der décadence– man hat die hysterischen Frauenzimmer, andrerseits rhachitisch angelegte Kinder darauf hin zu beobachten, wie regelmäßig Falschheit aus Instinkt, Lust zu lügen, um zu lügen, Unfähigkeit zu geraden Blicken und Schritten der Ausdruck von décadence ist. »Glaube« heißt Nicht-wissen- wollen, was wahr ist. Der Pietist, der Priester beiderlei Geschlechts, ist falsch, weil er krank ist: sein Instinkt verlangt, daß die Wahrheit an keinem Punkt zu Rechte kommt. »Was krank macht, ist gut; was aus der Fülle, aus dem Überfluß, aus der Macht kommt, ist böse«: so empfindet der Gläubige. Die Unfreiheit zur Lüge – daran errathe ich jeden vorherbestimmten Theologen. – Ein andres Abzeichen des Theologen ist sein Unvermögen zur Philologie. Unter Philologie soll hier, in einem sehr allgemeinen Sinne, die Kunst, gut zu lesen, verstanden werden, – Thatsachen ablesen können, ohne sie durch Interpretation zu fälschen, ohne im Verlangen nach Verständniß die Vorsicht, die Geduld, die Feinheit zu verlieren. Philologie als Ephexis in der Interpretation: handle es sich nun um Bücher, um Zeitungs-Neuigkeiten, um Schicksale oder Wetter-Thatsachen, – nicht zu reden vom »Heil der Seele« … Die Art, wie ein Theolog, gleichgültig ob in Berlin oder in Rom, ein »Schriftwort« auslegt oder ein Erlebniß, einen Sieg des vaterländischen Heers zum Beispiel unter der höheren Beleuchtung der Psalmen David’s, ist immer dergestalt kühn, daß ein Philolog dabei an allen Wänden emporläuft. Und was soll er gar anfangen, wenn Pietisten und andre Kühe aus dem Schwabenlande den armseligen Alltag und Stubenrauch ihres Daseins mit dem »Finger Gottes« zu einem Wunder von »Gnade«, von »Vorsehung«, von »Heilserfahrungen« zurecht machen! Der bescheidenste Aufwand von Geist, um nicht zu sagen von Anstand, mußte diese Interpreten doch dazu bringen, sich des vollkommen Kindischen und Unwürdigen eines solchen Mißbrauchs der göttlichen Fingerfertigkeit zu überführen. Mit einem noch so kleinen Maaße von Frömmigkeit im Leibe sollte uns ein Gott, der zur rechten Zeit vom Schnupfen curirt, oder der uns in einem Augenblick in die Kutsche steigen heißt, wo gerade ein großer Regen losbricht, ein so absurder Gott sein, daß man ihn abschaffen müßte, selbst wenn er existirte. Ein Gott als Dienstbote, als Briefträger, als Kalendermann, – im Grunde ein Wort für die dümmste Art aller Zufälle … Die »göttliche Vorsehung«, wie sie heute noch ungefähr jeder dritte Mensch im »gebildeten Deutschland« glaubt, wäre ein Einwand gegen Gott, wie er stärker gar nicht gedacht werden konnte. Und in jedem Fall ist er ein Einwand gegen Deutsche! …
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53.
– Daß Märtyrer Etwas für die Wahrheit einer Sache beweisen, ist so wenig wahr, daß ich leugnen möchte, es habe je ein Märtyrer überhaupt Etwas mit der Wahrheit zu thun gehabt. In dem Tone, mit dem ein Märtyrer sein Für-wahr-halten der Welt an den Kopf wirft, drückt sich bereits ein so niedriger Grad intellektueller Rechtschaffenheit, eine solche Stumpfheit für die Frage »Wahrheit« aus, daß man einen Märtyrer nie zu widerlegen braucht. Die Wahrheit ist Nichts, was Einer hätte und ein Andrer nicht hätte: so können höchstens Bauern oder Bauern-Apostel nach Art Luther’s über die Wahrheit denken. Man darf sicher sein, daß je nach dem Grade der Gewissenhaftigkeit in Dingen des Geistes die Bescheidenheit, die Bescheidung in diesem Punkte immer größer wird. In fünf Sachen wissen, und mit zarter Hand es ablehnen, sonst zu wissen … »Wahrheit«, wie das Wort jeder Prophet, jeder Sektirer, jeder Freigeist, jeder Socialist, jeder Kirchenmann versteht, ist ein vollkommner Beweis dafür, daß auch noch nicht einmal der Anfang mit jener Zucht des Geistes und Selbstüberwindung gemacht ist, die zum Finden irgend einer kleinen, noch so kleinen Wahrheit noch thut. – Die Märtyrer-Tode, anbei gesagt, sind ein großes Unglück in der Geschichte gewesen: sie verführten … Der Schluß aller Idioten, Weib und Voll eingerechnet, daß es mit einer Sache, für die Jemand in den Tod geht (oder die gar, wie das erste Christenthum, todsüchtige Epidemien erzeugt), Etwas auf sich habe, – dieser Schluß ist der Prüfung, dem Geist der Prüfung und Vorsicht unsäglich zum Hemmschuh geworden. Die Märtyrer schadeten der Wahrheit … Auch heute noch bedarf es nur einer Crudität der Verfolgung, um einer an sich noch so gleichgültigen Sektirerei einen ehrenhaften Namen zu schaffen. – Wie? ändert es am Werthe einer Sache Etwas, daß Jemand für sie sein Leben läßt? – Ein Irrthum, der ehrenhaft wird, ist ein Irrthum, der einen Verführungsreiz mehr besitzt: glaubt ihr, daß wir euch Anlaß geben würden, ihr Herrn Theologen, für eure Lüge die Märtyrer zu machen? – Man widerlegt eine Sache, indem man sie achtungsvoll auf’s Eis legt, – ebenso widerlegt man auch Theologen… Gerade Das war die welthistorische Dummheit aller Verfolger, daß sie der gegnerischen Sache den Anschein des Ehrenhaften gaben, – daß sie ihr die Fascination des Martyriums zum Geschenk machten… Das Weib liegt heute noch auf den Knien vor einem Irrthum, weil man ihm gesagt hat, daß Jemand dafür am Kreuze starb. Ist denn das Kreuz ein Argument? – – Aber über alle diese Dinge hat Einer allein das Wort gesagt, das man seit Jahrtausenden nöthig gehabt hätte, – Zarathustra.
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Blutzeichen schrieben sie auf den Weg, den sie giengen, und ihre Thorheit lehrte, daß man mit Blut Wahrheit beweise.
Aber Blut ist der schlechteste Zeuge der Wahrheit; Blut vergiftet die reinste Lehre noch zu Wahn und Haß der Herzen.
Und wenn Einer durch’s Feuer gienge für seine Lehre, – was beweist dies! Mehr ist’s wahrlich, daß aus eignem Brande die eigne Lehre kommt. (VI, 134.)
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54.
Man lasse sich nicht irreführen: große Geister sind Skeptiker. Zarathustra ist ein Skeptiker. Die Stärke, die Freiheit aus der Kraft und Überkraft des Geistes beweist sich durch Skepsis. Menschen der Überzeugung kommen für alles Grundsätzliche von Werth und Unwerth gar nicht in Betracht. Überzeugungen sind Gefängnisse. Das sieht nicht weit genug, das sieht nicht unter sich: aber um über Werth und Unwerth mitreden zu dürfen, muß man fünfhundert Überzeugungen unter sich sehn, – hinter sich sehn … Ein Geist der Großes will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Nothwendigkeit Skeptiker. Die Freiheit von jeder Art Überzeugungen gehört zur Stärke, das Frei-Blicken- können… Die große Leidenschaft, der Grund und die Macht seines Seins, noch aufgeklärter, noch despotischer, als er selbst es ist, nimmt seinen ganzen Intellekt in Dienst; sie macht unbedenklich; sie giebt ihm Muth sogar zu unheiligen Mitteln; sie gönnt ihm unter Umständen Überzeugungen. Die Überzeugung als Mittel: Vieles erreicht man nur mittelst einer Überzeugung. Die große Leidenschaft braucht, verbraucht Überzeugungen, sie unterwirft sich ihnen nicht, – sie weiß sich souverain. – Umgekehrt: das Bedürfniß nach Glauben, nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, der Carlylismus, wenn man mir dies Wort nachsehn will, ist ein Bedürfniß der Schwäche. Der Mensch des Glaubens, der »Gläubige« jeder Art ist nothwendig ein abhängiger Mensch, – ein solcher, der sich nicht als Zweck, der von sich aus überhaupt nicht Zwecke ansetzen kann. Der »Gläubige« gehört sich nicht, er kann nur Mittel sein, er muß verbraucht werden, er hat Jemand nöthig, der ihn verbraucht. Sein Instinkt giebt einer Moral der Entselbstung die höchste Ehre: zu ihr überredet ihn Alles, seine Klugheit, seine Erfahrung, seine Eitelkeit. Jede Art Glaube ist selbst ein Ausdruck von Entselbstung, von Selbst-Entfremdung… Erwägt man, wie nothwendig den Allermeisten ein Regulativ ist, das sie von außen her bindet und fest macht, wie der Zwang, in einem höheren Sinn die Sklaverei, die einzige und letzte Bedingung ist, unter der der willensschwächere Mensch, zumal das Weib, gedeiht: so versteht man auch die Überzeugung, den »Glauben«. Der Mensch der Überzeugung hat in ihr sein Rückgrat. Viele Dinge nicht sehn, in keinem Punkte unbefangen sein, Partei sein durch und durch, eine strenge und notwendige Optik in allen Werthen haben – das allein bedingt es, daß eine solche Art Mensch überhaupt besteht. Aber damit ist sie der Gegensatz, der Antagonist des Wahrhaftigen, – der Wahrheit … Dem Gläubigen steht es nicht frei, für die Frage »wahr« und »unwahr« überhaupt ein Gewissen zu haben: rechtschaffen sein an dieser Stelle wäre sofort sein Untergang. Die pathologische Bedingtheit seiner Optik macht aus dem Überzeugten den Fanatiker – Savonarola, Luther, Rousseau, Robespierre, Saint-Simon –, den Gegensatz-Typus des starken, des freigewordnen Geistes. Aber die große Attitüde dieser kranken Geister, dieser Epileptiker des Begriffs, wirkt auf die große Masse, – die Fanatiker sind pittoresk, die Menschheit sieht Gebärden lieber, als daß sie Gründe hört …
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55.
– Einen Schritt weiter in der Psychologie der Überzeugung, des »Glaubens«. Es ist schon lange von mir zur Erwägung anheimgegeben worden, ob nicht die Überzeugungen gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als die Lügen (Menschliches, Allzumenschliches I, Aphorismus 483). Diesmal möchte ich die entscheidende Frage thun: besteht zwischen Lüge und Überzeugung überhaupt ein Gegensatz? – Alle Welt glaubt es; aber was glaubt nicht alle Welt! – Eine jede Überzeugung hat ihre Geschichte, ihre Versonnen, ihre Tentativen und Fehlgriffe: sie wird Überzeugung, nachdem sie es lange nicht ist, nachdem sie es noch langer kaum ist. Wie? könnte unter diesen Embryonal –Formen der Überzeugung nicht auch die Lüge sein? – Mitunter bedarf es bloß eines Personen–Wechsels: im Sohn wird Überzeugung, was im Vater noch Lüge war. –Ich nenne Lüge: Etwas nicht sehn wollen, das man sieht, Etwas nicht so sehn wollen, wie man es sieht: ob die Lüge vor Zeugen oder ohne Zeugen statt hat, kommt nicht in Betracht. Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das Belügen Andrer ist relativ der Ausnahmefall, – Nun ist dies Nicht–sehn–wollen, was man sieht, dies Nicht–so–sehn–wollen, wie man es steht, beinahe die erste Bedingung für Alle, die Partei sind, in irgend welchem Sinne: der Parteimensch wird mit Notwendigkeit Lügner. Die deutsche Geschichtsschreibung zum Beispiel ist überzeugt, daß Rom der Despotismus war, daß die Germanen den Geist der Freiheit in die Welt gebracht haben: welcher Unterschied ist zwischen dieser Überzeugung und einer Lüge? Darf man sich noch darüber wundern, wenn, aus Instinkt, alle Parteien, auch die deutschen Historiker, die großen Worte der Moral im Munde haben, – daß die Moral beinahe dadurch fortbesteht, daß der Parteimensch jeder Art jeden Augenblick sie nöthig hat? – »Dies ist unsre Überzeugung: wir bekennen sie vor aller Welt, wir leben und sterben für sie, – Respekt vor Allem, was Überzeugungen hat!« – dergleichen habe ich sogar aus dem Mund von Antisemiten gehört. Im Gegentheil, meine Herrn! Ein Antisemit wird dadurch durchaus nicht anständiger, daß er aus Grundsatz lügt … Die Priester, die in solchen Dingen seiner sind und den Einwand sehr gut verstehn, der im Begriff einer Überzeugung, das heißt einer grundsätzlichen, weil zweckdienlichen Verlogenheit liegt, haben von den Juden her die Klugheit überkommen, an dieser Stelle den Begriff »Gott«, »Wille Gottes«, »Offenbarung Gottes« einzuschieben. Auch Kant, mit seinem kategorischen Imperativ, war auf dem gleichen Wege: seine Vernunft wurde hierin praktisch. – Es giebt Fragen, wo über Wahrheit und Unwahrheit dem Menschen die Entscheidung nicht zusteht; alle obersten Fragen, alle obersten Werth–Probleme sind jenseits der menschlichen Vernunft … Die Grenzen der Vernunft begreifen, – das erst ist wahrhaft Philosophie… Wozu gab Gott dem Menschen die Offenbarung? Würde Gott etwas Überflüssiges gethan haben? Der Mensch kann von sich nicht selber wissen, was gut und böse ist, darum lehrte ihn Gott seinen Willen… Moral: der Priester lügt nicht, – die Frage »wahr« oder »unwahr« giebt es nicht in solchen Dingen, von denen Priester reden; diese Dinge erlauben gar nicht zu lügen. Denn um zu lügen, müßte man entscheiden können, was hier wahr ist. Aber das kann eben der Mensch nicht; der Priester ist damit nur das Mundstück Gottes. – Ein solcher Priester-Syllogismus ist durchaus nicht bloß jüdisch und christlich; das Recht zur Lüge und die Klugheit der »Offenbarung« gehört dem Typus Priester an, den décadence-Priestern so gut als den Heidenthums–Priestern (– Heiden sind Alle, die zum Leben Ja sagen, denen »Gott« das Wort für das große Ja zu allen Dingen ist). – Das »Gesetz«, der »Wille Gottes«, das »heilige Buch«, die »Inspiration« – Alles nur Worte für die Bedingungen, unter denen der Priester zur Macht kommt, mit denen er seine Macht aufrecht erhält, – diese Begriffe finden sich auf dem Grunde aller Priester–Organisationen, aller priesterlichen oder philosophisch –priesterlichen Herrschaftsgebilde. Die »heilige Lüge« – dem Confucius, dem Gesetzbuch des Manu, dem Muhammed, der christlichen Kirche gemeinsam –: sie fehlt nicht bei Pluto, »Die Wahrheit ist da«: dies bedeutet, wo nur es laut wird, der Priester lügt …