Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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2.

An dem Bau der Be­grif­fe ar­bei­tet ur­sprüng­lich, wie wir sa­hen, die Spra­che, in spä­te­ren Zei­ten die Wis­sen­schaft. Wie die Bie­ne zu­gleich an den Zel­len baut und die Zel­len mit Ho­nig füllt, so ar­bei­tet die Wis­sen­schaft un­auf­halt­sam an je­nem großen Co­lum­ba­ri­um der Be­grif­fe, der Be­gräb­niß­stät­te der An­schau­un­gen, baut im­mer neue und hö­he­re Stock­wer­ke, stützt, rei­nigt, er­neut die al­ten Zel­len, und ist vor Al­lem be­müht, je­nes in’s Un­ge­heu­re auf­get­hürm­te Fach­werk zu fül­len und die gan­ze em­pi­ri­sche Welt, das heißt die an­thro­po­mor­phi­sche Welt, hin­ein­zu­ord­nen. Wenn schon der han­deln­de Mensch sein Le­ben an die Ver­nunft und ihre Be­grif­fe bin­det, um nicht fort­ge­schwemmt zu wer­den und sich nicht selbst zu ver­lie­ren, so baut der For­scher sei­ne Hüt­te dicht an den Thurm­bau der Wis­sen­schaft, um an ihm mit­hel­fen zu kön­nen und selbst Schutz un­ter dem vor­han­de­nen Boll­werk zu fin­den. Und Schutz braucht er: denn es giebt furcht­ba­re Mäch­te, die fort­wäh­rend auf ihn ein­drin­gen, und die der wis­sen­schaft­li­chen »Wahr­heit« ganz an­ders ge­ar­te­te »Wahr­hei­ten« mit den ver­schie­den­ar­tigs­ten Schild­zei­chen ent­ge­gen­hal­ten.

Je­ner Trieb zur Me­ta­ph­er­bil­dung, je­ner Fun­da­men­tal­trieb des Men­schen, den man kei­nen Au­gen­blick weg­rech­nen kann, weil man da­mit den Men­schen selbst weg­rech­nen wür­de, ist da­durch, daß aus sei­nen ver­flüch­tig­ten Er­zeug­nis­sen, den Be­grif­fen, eine re­gu­lä­re und star­re neue Welt als eine Zwing­burg für ihn ge­baut wird, in Wahr­heit nicht be­zwun­gen und kaum ge­bän­digt. Er sucht sich ein neu­es Be­reich sei­nes Wir­kens und ein an­de­res Fluß­bet­te und fin­det es im My­thus und über­haupt in der Kunst. Fort­wäh­rend ver­wirrt er die Ru­bri­ken und Zel­len der Be­grif­fe, da­durch, daß er neue Über­tra­gun­gen, Me­ta­phern, Met­ony­mi­en hin­stellt, fort­wäh­rend zeigt er die Be­gier­de, die vor­han­de­ne Welt des wa­chen Men­schen so bunt un­re­gel­mä­ßig, fol­gen­los un­zu­sam­men­hän­gend, reiz­voll und ewig neu zu ge­stal­ten, wie es die Welt des Trau­mes ist. An sich ist ja der wa­che Mensch nur durch das star­re und re­gel­mä­ßi­ge Be­griffs­ge­spinnst dar­über im Kla­ren, daß er wa­che, und kommt eben des­halb mit­un­ter in den Glau­ben, er träu­me, wenn je­nes Be­griffs­ge­spinnst ein­mal durch die Kunst zer­ris­sen wird. Pas­cal hat Recht, wenn er be­haup­tet, daß wir, wenn uns jede Nacht der­sel­be Traum käme, da­von eben­so be­schäf­tigt wür­den, als von den Din­gen, die wir je­den Tag se­hen: »wenn ein Hand­wer­ker ge­wiß wäre, jede Nacht zu träu­men, vol­le zwölf Stun­den hin­durch, daß er Kö­nig sei, so glau­be ich, sagt Pas­cal, daß er eben­so glück­lich wäre, als ein Kö­nig, wel­cher alle Näch­te wäh­rend zwölf Stun­den träum­te, er sei Hand­wer­ker«. Der wa­che Tag ei­nes my­thisch er­reg­ten Vol­kes, etwa der äl­te­ren Grie­chen, ist durch das fort­wäh­rend wir­ken­de Wun­der, wie es der My­thus an­nimmt, in der That dem Trau­me ähn­li­cher als dem Tag des wis­sen­schaft­lich er­nüch­ter­ten Den­kers. Wenn je­der Baum ein­mal als Nym­phe re­den oder un­ter der Hül­le ei­nes Stie­res ein Gott Jung­frau­en weg­schlep­pen kann, wenn die Göt­tin Athe­ne selbst plötz­lich ge­sehn wird, wie sie mit ei­nem schö­nen Ge­spann, in der Beglei­tung des Pi­si­stra­tus, durch die Märk­te Athens fährt – und das glaub­te der ehr­li­che Athe­ner –, so ist in je­dem Au­gen­bli­cke, wie im Trau­me, Al­les mög­lich, und die gan­ze Na­tur um­schwärmt den Men­schen, als ob sie nur die Mas­ke­ra­de der Göt­ter wäre, die sich nur einen Scherz dar­aus mach­ten, in al­len Ge­stal­ten den Men­schen zu täu­schen.

Der Mensch selbst aber hat einen un­be­sieg­ba­ren Hang, sich täu­schen zu las­sen, und ist wie be­zau­bert vor Glück, wenn der Rhap­so­de ihm epi­sche Mär­chen wie wahr er­zählt oder der Schau­spie­ler im Schau­spiel den Kö­nig noch kö­nig­li­cher agirt, als ihn die Wirk­lich­keit zeigt. Der In­tel­lekt, je­ner Meis­ter der Ver­stel­lung, ist so lan­ge frei und sei­nem sons­ti­gen Skla­ven­diens­te ent­ho­ben, als er täu­schen kann, ohne zu scha­den, und fei­ert dann sei­ne Sa­tur­na­li­en. Nie ist er üp­pi­ger, rei­cher, stol­zer, ge­wand­ter und ver­we­ge­ner: mit schöp­fe­ri­schem Be­ha­gen wirft er die Me­ta­phern durch­ein­an­der und ver­rückt die Grenz­stei­ne der Abstrak­tio­nen, so daß er zum Bei­spiel den Strom als den be­weg­li­chen Weg be­zeich­net, der den Men­schen trägt, dort­hin, wo­hin er sonst geht. Jetzt hat er das Zei­chen der Dienst­bar­keit von sich ge­wor­fen: sonst mit trüb­sin­ni­ger Ge­schäf­tig­keit be­müht, ei­nem ar­men In­di­vi­du­um, dem es nach Da­sein ge­lüs­tet, den Weg und die Werk­zeu­ge zu zei­gen, und wie ein Die­ner für sei­nen Herrn auf Raub und Beu­te aus­zie­hend, ist er jetzt zum Herrn ge­wor­den und darf den Aus­druck der Be­dürf­tig­keit aus sei­nen Mie­nen weg­wi­schen. Was er jetzt auch thut, Al­les trägt im Ver­gleich mit sei­nem frü­he­ren Thun die Ver­stel­lung, wie das frü­he­re die Ver­zer­rung an sich. Er co­pirt das Men­schen­le­ben, nimmt es aber für eine gute Sa­che und scheint mit ihm sich recht zu­frie­den zu ge­ben. Je­nes un­ge­heu­re Ge­bälk und Bret­ter­werk der Be­grif­fe, an das sich klam­mernd der be­dürf­ti­ge Mensch sich durch das Le­ben ret­tet, ist dem frei­ge­w­ord­nen In­tel­lekt nur ein Gerüst und ein Spiel­zeug für sei­ne ver­we­gens­ten Kunst­stücke: und wenn er es zer­schlägt, durch­ein­an­der­wirft, iro­nisch wie­der zu­sam­men­setzt, das Frem­des­te paa­rend und das Nächs­te tren­nend, so of­fen­bart er, daß er jene No­th­be­hel­fe der Be­dürf­tig­keit nicht braucht und daß er jetzt nicht von Be­grif­fen son­dern von In­tui­tio­nen ge­lei­tet wird. Von die­sen In­tui­tio­nen aus führt kein re­gel­mä­ßi­ger Weg in das Land der ge­spens­ti­schen Sche­ma­ta, der Abstrak­tio­nen: für sie ist das Wort nicht ge­macht, der Mensch ver­stummt, wenn er sie sieht, oder re­det in lau­ter ver­bo­te­nen Me­ta­phern und un­er­hör­ten Be­griffs­fü­gun­gen, um we­nigs­tens durch das Zer­trüm­mern und Ver­höh­nen der al­ten Be­griffs­schran­ken dem Ein­dru­cke der mäch­ti­gen ge­gen­wär­ti­gen In­tui­ti­on schöp­fe­risch zu ent­spre­chen.

Es giebt Zeit­al­ter, in de­nen der ver­nünf­ti­ge Mensch und der in­tui­ti­ve Mensch ne­ben ein­an­der stehn, der Eine in Angst vor der In­tui­ti­on, der An­de­re mit Hohn über die Abstrak­ti­on; der Letz­te­re eben­so un­ver­nünf­tig, als der Ers­te­re un­künst­le­risch ist. Bei­de be­geh­ren über das Le­ben zu herr­schen: die­ser, in­dem er durch Vor­sor­ge, Klug­heit, Re­gel­mä­ßig­keit den haupt­säch­lichs­ten Nö­then zu be­geg­nen weiß, je­ner, in­dem er als ein «über­fro­her Held« jene Nö­the nicht sieht und nur das zum Schein und zur Schön­heit ver­stell­te Le­ben als real nimmt. Wo ein­mal der in­tui­ti­ve Mensch, etwa wie im äl­te­ren Grie­chen­land sei­ne Waf­fen ge­wal­ti­ger und sieg­rei­cher führt als sein Wi­der­spiel, kann sich güns­ti­gen Falls eine Cul­tur ge­stal­ten und die Herr­schaft der Kunst über das Le­ben sich grün­den: jene Ver­stel­lung, je­nes Ver­leug­nen der Be­dürf­tig­keit, je­ner Glanz der me­ta­pho­ri­schen An­schau­un­gen und über­haupt jene Un­mit­tel­bar­keit der Täu­schung be­glei­tet alle Äu­ße­run­gen ei­nes sol­chen Le­bens. We­der das Haus, noch der Schritt, noch die Klei­dung, noch der thö­ner­ne Krug ver­rat­hen, daß die No­th­durft sie er­fand: es scheint so, als ob in ih­nen Al­len ein er­ha­be­nes Glück und eine olym­pi­sche Wol­ken­lo­sig­keit und gleich­sam ein Spie­len mit dem Erns­te aus­ge­spro­chen wer­den soll­te. Wäh­rend der von Be­grif­fen und Abstrak­tio­nen ge­lei­te­te Mensch durch die­se das Un­glück nur ab­wehrt, ohne selbst aus den Abstrak­tio­nen sich Glück zu er­zwin­gen, wäh­rend er nach mög­lichs­ter Frei­heit von Schmer­zen trach­tet, ern­tet der in­tui­ti­ve Mensch, in­mit­ten ei­ner Cul­tur ste­hend, be­reits von sei­nen In­tui­tio­nen, au­ßer der Ab­wehr des Übels, eine fort­wäh­rend ein­strö­men­de Er­hel­lung, Auf­hei­te­rung, Er­lö­sung. Frei­lich lei­det er hef­ti­ger, wenn er lei­det: ja er lei­det auch öf­ter, weil er aus der Er­fah­rung nicht zu ler­nen ver­steht und im­mer wie­der in die­sel­be Gru­be fällt, in die er ein­mal ge­fal­len. Im Lei­de ist er dann eben­so un­ver­nünf­tig wie im Glück, er schreit laut und hat kei­nen Trost. Wie an­ders steht un­ter dem glei­chen Miß­ge­schick der stoi­sche, an der Er­fah­rung be­lehr­te, durch Be­grif­fe sich be­herr­schen­de Mensch da! Er, der sonst nur Auf­rich­tig­keit, Wahr­heit, Frei­heit von Täu­schun­gen und Schutz vor be­rücken­den Über­fäl­len sucht, legt jetzt, im Un­glück, das Meis­ter­stück der Ver­stel­lung ab, wie je­ner im Glück; er trägt kein zu­cken­des und be­weg­li­ches Men­schen­ge­sicht, son­dern gleich­sam eine Mas­ke mit wür­di­gem Gleich­ma­ße der Züge, er schreit nicht und ver­än­dert nicht ein­mal sei­ne Stim­me: wenn eine rech­te Wet­ter­wol­ke sich über ihn aus­gießt, so hüllt er sich in sei­nen Man­tel und geht lang­sa­men Schrit­tes un­ter ihr da­von.

Der Antichrist

Umwertung aller Werthe

(Frag­ment)

Vor­wort und Ers­tes Buch:

Der An­ti­christ

Al­fred Krö­ner Ver­lag in Leip­zig

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Letz­ter Plan, Herbst 1888.

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Ers­tes Buch.

Der An­ti­christ. Ver­such ei­ner Kri­tik des Chris­tent­hums.

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Zwei­tes Buch.

Der freie Geist. Kri­tik der Phi­lo­so­phie als ei­ner ni­hi­lis­ti­schen Be­we­gung.

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Drit­tes Buch.

Der Im­mo­ra­list. Kri­tik der ver­häng­niß­volls­ten Art von Un­wis­sen­heit, der Moral.

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Vier­tes Buch. Dio­ny­sos.

Phi­lo­so­phie der ewi­gen Wie­der­kunft.

Vorwort.

Dies Buch ge­hört den We­nigs­ten. Vi­el­leicht lebt selbst noch Kei­ner von ih­nen. Es mö­gen Die sein, wel­che mei­nen Za­ra­thustra ver­stehn: wie dürf­te ich mich mit De­nen ver­wech­seln, für wel­che heu­te schon Ohren wach­sen? – Erst das Über­mor­gen ge­hört mir. Ei­ni­ge wer­den post­hum ge­bo­ren.

 

Die Be­din­gun­gen, un­ter de­nen man mich ver­steht und dann mit No­thwen­dig­keit ver­steht, – ich ken­ne sie nur zu ge­nau. Man muß recht­schaf­fen sein in geis­ti­gen Din­gen bis zur Här­te, um auch nur mei­nen Ernst, mei­ne Lei­den­schaft aus­zu­hal­ten. Man muß ge­übt sein, auf Ber­gen zu le­ben, – das er­bärm­li­che Zeit­ge­schwätz von Po­li­tik und Völ­ker–Selbst­sucht un­ter sich zu sehn. Man muß gleich­gül­tig ge­wor­den sein, man muß nie fra­gen, ob die Wahr­heit nützt, ob sie Ei­nem Ver­häng­niß wird… Eine Vor­lie­be der Stär­ke für Fra­gen, zu de­nen Nie­mand heu­te den Muth hat; der Muth zum Ver­bo­te­nen; die Vor­her­be­stim­mung zum La­by­rinth. Eine Er­fah­rung aus sie­ben Ein­sam­kei­ten. Neue Ohren für neue Mu­sik. Neue Au­gen für das Ferns­te. Ein neu­es Ge­wis­sen für bis­her stumm ge­blie­ben Wahr­hei­ten. Und der Wil­le zur Öko­no­mie großen Stils: sei­ne Kraft, sei­ne Be­geis­te­rung bei­sam­men be­hal­ten… Die Ehr­furcht vor sich; die Lie­be zu sich; die un­be­ding­te Frei­heit ge­gen sich…

Wohl­an! Das al­lein sind mei­ne Le­ser, mei­ne rech­ten Le­ser, mei­ne vor­her­be­stimm­ten Le­ser: was liegt am Rest? – Der Rest ist bloß die Mensch­heit. – Man muß der Mensch­heit über­le­gen sein durch Kraft, durch Höhe der See­le, – durch Ver­ach­tung…

Fried­rich Nietz­sche.

Erstes Buch: – Der Antichrist.

Ver­such ei­ner Kri­tik des Chris­tent­hums.

1.

– Se­hen wir uns in’s Ge­sicht. Wir sind Hy­per­bo­re­er – wir wis­sen gut ge­nug, wie ab­seits wir le­ben. »We­der zu Lan­de noch zu Was­ser wirst du den Weg zu den Hy­per­bo­re­ern fin­den«: das hat schon Pin­dar von uns ge­wußt. Jen­seits des Nor­dens, des Ei­ses, des To­des – un­ser Le­ben, un­ser Glück… Wir ha­ben das Glück ent­deckt, wir wis­sen den Weg, wir fan­den den Aus­gang aus gan­zen Jahr­tau­sen­den des La­by­rinths. Wer fand ihn sonst? – Der mo­der­ne Mensch etwa? – »Ich weiß nicht aus noch ein; ich bin Al­les, was nicht aus noch ein weiß« – seufzt der mo­der­ne Men­sch… An die­ser Mo­der­ni­tät wa­ren wir krank, – am fau­len Frie­den, am fei­gen Com­pro­miß, an der gan­zen tu­gend­haf­ten Unsau­ber­keit des mo­der­nen Ja und Nein. Die­se To­le­ranz und lar­geur des Her­zens, die Al­les »ver­zeiht«, weil sie Al­les »be­greift«, ist Sci­roc­co für uns. Lie­ber im Eise le­ben, als un­ter mo­der­nen Tu­gen­den und an­dern Süd­win­den!… Wir wa­ren tap­fer ge­nug, wir schon­ten we­der uns noch An­de­re: aber wir wuß­ten lan­ge nicht, wo­hin mit uns­rer Tap­fer­keit. Wir wur­den düs­ter, man hieß uns Fa­ta­lis­ten. Un­ser Fa­tum – das war die Fül­le, die Span­nung, die Stau­ung der Kräf­te. Wir dürs­te­ten nach Blitz und Tha­ten, wir blie­ben am ferns­ten vom Glück der Schwäch­lin­ge, von der »Er­ge­bung«… Ein Ge­wit­ter war in uns­rer Luft, die Na­tur, die wir sind, ver­fins­ter­te sich – denn wir hat­ten kei­nen Weg. For­mel uns­res Glücks: ein Ja, ein Nein, eine ge­ra­de Li­nie, ein Ziel…

*

2.

Was ist gut? – Al­les, was das Ge­fühl der Macht, den Wil­len zur Macht, die Macht selbst im Men­schen er­höht.

Was ist schlecht? – Al­les, was aus der Schwä­che stammt.

Was ist Glück? – Das Ge­fühl da­von, daß die Macht wächst, – daß ein Wi­der­stand über­wun­den wird.

Nicht Zufrie­den­heit, son­dern mehr Macht; nicht Frie­de über­haupt, son­dern Krieg; nicht Tu­gend, son­dern Tüch­tig­keit (Tu­gend im Re­naissance-Sti­le, vir­tù, mo­ra­lin­freie Tu­gend).

Die Schwa­chen und Miß­ra­th­nen sol­len zu Grun­de gehn: ers­ter Satz uns­rer Men­schen­lie­be. Und man soll ih­nen noch dazu hel­fen.

Was ist schäd­li­cher, als ir­gend ein Las­ter? – Das Mit­lei­den der That mit al­len Miß­ra­th­nen und Schwa­chen – das Chris­tent­hum…

*

3.

Nicht was die Mensch­heit ab­lö­sen soll in der Rei­hen­fol­ge der We­sen, ist das Pro­blem, das ich hier­mit stel­le (– der Mensch ist ein Ende –): son­dern wel­chen Ty­pus Mensch man züch­ten soll, wol­len soll, als den hö­her­wert­hi­ge­ren, le­bens­wür­di­ge­ren, zu­kunfts­ge­wis­se­ren.

Die­ser hö­her­wert­hi­ge­re Ty­pus ist oft ge­nug schon da­ge­we­sen: aber als ein Glücks­fall, als eine Aus­nah­me, nie­mals als ge­wollt. Viel­mehr ist er ge­ra­de am bes­ten ge­fürch­tet wor­den, er war bis­her bei­na­he das Furcht­ba­re; – und aus der Furcht her­aus wur­de der um­ge­kehr­te Ty­pus ge­wollt, ge­züch­tet, er­reicht: das Haust­hier, das He­er­dent­hier, das kran­ke Thier Mensch, – der Christ …

*

4.

Die Mensch­heit stellt nicht eine Ent­wick­lung zum Bes­se­ren oder Stär­ke­ren oder Hö­he­ren dar, in der Wei­se, wie dies heu­te ge­glaubt wird. Der »Fort­schritt« ist bloß eine mo­der­ne Idee, das heißt eine falsche Idee. Der Eu­ro­pä­er von Heu­te bleibt in sei­nem Wert­he tief un­ter dem Eu­ro­pä­er der Re­naissance; Fort­ent­wick­lung ist schlech­ter­dings nicht mit ir­gend wel­cher No­thwen­dig­keit Er­hö­hung, Stei­ge­rung, Ver­stär­kung.

In ei­nem an­dern Sin­ne giebt es ein fort­wäh­ren­des Ge­lin­gen ein­zel­ner Fäl­le an den ver­schie­dens­ten Stel­len der Erde und aus den ver­schie­dens­ten Cul­tu­ren her­aus, mit de­nen in der That sich ein hö­he­rer Ty­pus dar­stellt: Ewas, das im Ver­hält­nis; zur Ge­sammt-Mensch­heit eine Art Über­mensch ist. Sol­che Glücks­fäl­le des großen Ge­lin­gens wa­ren im­mer mög­lich und wer­den viel­leicht im­mer mög­lich sein. Und selbst gan­ze Ge­schlech­ter, Stäm­me, Völ­ker kön­nen un­ter Um­stän­den einen sol­chen Tref­fer dar­stel­len.

*

5.

Man soll das Chris­tent­hum nicht schmücken und her­aus­put­zen: es hat einen Tod­krieg ge­gen die­sen hö­he­ren Ty­pus Mensch ge­macht, es hat alle Grund­in­stink­te die­ses Ty­pus in Bann gethan, es hat aus die­sen In­stink­ten das Böse, den Bö­sen her­aus­de­stil­lirt: – der star­ke Mensch als der ty­pisch Ver­werf­li­che, der »ver­wor­fe­ne Mensch«. Das Chris­tent­hum hat die Par­tei al­les Schwa­chen, Nied­ri­gen, Miß­ra­th­nen ge­nom­men, es hat ein Ide­al aus dem Wi­der­spruch ge­gen die Er­hal­tungs-In­stink­te des star­ken Le­bens ge­macht; es hat die Ver­nunft selbst der geis­tig stärks­ten Na­tu­ren ver­dor­ben, in­dem es die obers­ten Wert­he der Geis­tig­keit als sünd­haft, als ir­re­füh­rend, als Ver­su­chun­gen emp­fin­den lehr­te. Das jam­mer­volls­te Bei­spiel: die Ver­derb­niß Pas­cal’s, der an die Ver­derb­niß sei­ner Ver­nunft durch die Erb­sün­de glaub­te, wäh­rend sie nur durch sein Chris­tent­hum ver­dor­ben war! –

*

6.

Es ist ein schmerz­li­ches, ein schau­er­li­ches Schau­spiel, das mir auf­ge­gan­gen ist: ich zog den Vor­hang weg von der Ver­dor­ben­heit des Men­schen. Dies Wort, in mei­nem Mun­de, ist we­nigs­tens ge­gen Ei­nen Ver­dacht ge­schützt: daß es eine mo­ra­li­sche An­kla­ge des Men­schen ent­hält. Es ist – ich möch­te es noch­mals un­ter­strei­chen – mo­ra­lin­frei ge­meint: und dies bis zu dem Gra­de, daß jene Ver­dor­ben­heit ge­ra­de dort von mir am stärks­ten emp­fun­den wird, wo man bis­her am be­wuß­tes­ten zur »Tu­gend«, zur »Gött­lich­keit« aspir­ir­te. Ich ver­ste­he Ver­dor­ben­heit, man er­räth es be­reits, im Sin­ne von dé­ca­dence: mei­ne Be­haup­tung ist, daß alle Wert­he, in de­nen jetzt die Mensch­heit ihre obers­te Wünsch­bar­keit zu­sam­men­faßt, dé­ca­dence-Wert­he sind.

Ich nen­ne ein Thier, eine Gat­tung, ein In­di­vi­du­um ver­dor­ben, wenn es sei­ne In­stink­te ver­liert, wenn es wählt, wenn es vor­zieht, was ihm nacht­hei­lig ist. Eine Ge­schich­te der »hö­he­ren Ge­füh­le«, der »Idea­le der Mensch­heit« – und es ist mög­lich, daß ich sie er­zäh­len muß – wäre bei­na­he auch die Er­klä­rung da­für, wes­halb der Mensch so ver­dor­ben ist. Das Le­ben selbst gilt mir als In­stinkt für Wachst­hum, für Dau­er, für Häu­fung von Kräf­ten, für Macht: wo der Wil­le zur Macht fehlt, giebt es Nie­der­gang. Mei­ne Be­haup­tung ist, daß al­len obers­ten Wert­hen der Mensch­heit die­ser Wil­le fehlt, – daß Nie­der­gangs-Wert­he, ni­hi­lis­ti­sche Wert­he un­ter den hei­ligs­ten Na­men die Herr­schaft füh­ren.

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7.

Man nennt das Chris­ten­tum die Re­li­gi­on des Mit­lei­dens. – Das Mit­lei­den steht im Ge­gen­satz zu den to­ni­schen Af­fek­ten, wel­che die Ener­gie des Le­bens­ge­fühls er­höhn: es wirkt de­pres­siv. Man ver­liert Kraft, wenn man mit­lei­det. Durch das Mit­lei­den ver­mehrt und ver­viel­fäl­tigt sich die Ein­bu­ße an Kraft noch, die an sich schon das Lei­den dem Le­ben bringt. Das Lei­den selbst wird durch das Mit­lei­den an­ste­ckend; un­ter Um­stän­den kann mit ihm eine Ge­sammt-Ein­bu­ße an Le­ben und Le­bens-Ener­gie er­reicht wer­den, die in ei­nem ab­sur­den Ver­hält­niß zum Quan­tum der Ur­sa­che steht (– der Fall vom Tode des Na­za­re­ners). Das ist der ers­te Ge­sichts­punkt; es giebt aber noch einen wich­ti­ge­ren. Ge­setzt, man mißt das Mit­lei­den nach dem Wert­he der Re­ak­tio­nen, die es her­vor­zu­brin­gen pflegt, so er­scheint sein le­bens­ge­fähr­li­cher Cha­rak­ter in ei­nem noch viel hel­le­ren Lich­te. Das Mit­lei­den kreuzt im Gan­zen Gro­ßen das Ge­setz der Ent­wick­lung, wel­ches das Ge­setz der Se­lek­ti­on ist. Es er­hält, was zum Un­ter­gan­ge reif ist, es wehrt sich zu Guns­ten der Ent­erb­ten und Ver­urt­heil­ten des Le­bens, es giebt durch die Fül­le des Miß­ra­th­nen al­ler Art, das es im Le­ben fest­hält, dem Le­ben selbst einen düs­te­ren und frag­wür­di­gen Aspekt. Man hat ge­wagt, das Mit­lei­den eine Tu­gend zu nen­nen (– in je­der vor­neh­men Moral gilt es als Schwä­che –); man ist wei­ter ge­gan­gen, man hat aus ihm die Tu­gend, den Bo­den und Ur­sprung al­ler Tu­gen­den ge­macht, – nur frei­lich, was man stets im Auge be­hal­ten muß, vom Ge­sichts­punkt ei­ner Phi­lo­so­phie aus, wel­che ni­hi­lis­tisch war, wel­che die Ver­nei­nung des Le­bens auf ihr Schild schrieb. Scho­pen­hau­er war in sei­nem Recht da­mit: durch das Mit­leid wird das Le­ben ver­neint, ver­nei­nungs­wür­di­ger ge­macht, – Mit­lei­den ist die Pra­xis des Ni­hi­lis­mus. Noch­mals ge­sagt: die­ser de­pres­si­ve und con­ta­gi­öse In­stinkt kreuzt jene In­stink­te, wel­che auf Er­hal­tung und Werth-Er­hö­hung des Le­bens aus sind; er ist eben­so als Mul­ti­pli­ka­tor des Elends wie als Con­ser­va­tor al­les Elen­den ein Haupt­werk­zeug zur Stei­ge­rung der dé­ca­dence, – Mit­lei­den über­re­det zum Nichts!… Man sagt nicht »Nichts«: man sagt da­für »Jen­seits«; oder »Gott«; oder »das wah­re Le­ben«; oder Nir­va­na, Er­lö­sung, Se­lig­keit… Die­se un­schul­di­ge Rhe­to­rik aus dem Reich der re­li­gi­ös-mo­ra­li­schen Idio­syn­kra­sie er­scheint so­fort viel we­ni­ger un­schul­dig, wenn man be­greift, wel­che Ten­denz hier den Man­tel sub­li­mer Wor­te um sich schlägt: die le­bens­feind­li­che Ten­denz. Scho­pen­hau­er war le­bens­feind­lich: des­halb wur­de ihm das Mit­leid zur Tu­gen­d… Ari­sto­te­les sah, wie man weiß, im Mit­lei­den einen krank­haf­ten und ge­fähr­li­chen Zu­stand, dem man gut thä­te, hier und da durch ein Pur­ga­tiv bei­zu­kom­men: er ver­stand die Tra­gö­die als Pur­ga­tiv. Vom In­stink­te des Le­bens aus müß­te man in der That nach ei­nem Mit­tel su­chen, ei­ner sol­chen krank­haf­ten und ge­fähr­li­chen Häu­fung des Mit­leids, wie sie der Fall Scho­pen­hau­er’s (und lei­der auch uns­re ge­samm­te lit­te­ra­ri­sche und ar­tis­ti­sche dé­ca­dence von St. Pe­ters­burg bis Pa­ris, von Tol­stoi bis Wa­gner) dar­stellt, einen Stich zu ver­set­zen: da­mit sie platzt … Nichts ist un­ge­sun­der, in­mit­ten uns­rer un­ge­sun­den Mo­der­ni­tät, als das christ­li­che Mit­leid. Hier Arzt sein, hier un­er­bitt­lich sein, hier das Mes­ser füh­ren – das ge­hört zu uns, das ist uns­re Art Men­schen­lie­be, da­mit sind wir Phi­lo­so­phen, wir Hy­per­bo­re­er! – – –

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8.

Es ist nothwen­dig zu sa­gen, wen wir als un­sern Ge­gen­satz füh­len: – die Theo­lo­gen und Al­les, was Theo­lo­gen-Blut im Lei­be hat – uns­re gan­ze Phi­lo­so­phie … Man muß das Ver­häng­niß aus der Nähe ge­sehn ha­ben, noch bes­ser, man muß es an sich er­lebt, man muß an ihm fast zu Grun­de ge­gan­gen sein, um hier kei­nen Spaß mehr zu ver­stehn (– die Frei­geis­te­rei uns­rer Herrn Na­tur­for­scher und Phy­sio­lo­gen ist in mei­nen Au­gen ein Spaß, – ih­nen fehlt die Lei­den­schaft in die­sen Din­gen, das Lei­den an ih­nen –). Jene Ver­gif­tung reicht viel wei­ter, als man denkt: ich fand den Theo­lo­gen-In­stinkt des Hoch­muths über­all wie­der, wo man sich heu­te als »Idea­list« fühlt, – wo man, ver­mö­ge ei­ner hö­he­ren Ab­kunft, ein Recht in An­spruch nimmt, zur Wirk­lich­keit über­le­gen und fremd zu bli­cken … Der Idea­list hat, ganz wie der Pries­ter, alle großen Be­grif­fe in der Hand (– und nicht nur in der Hand!), er spielt sie mit ei­ner wohl­wol­len­den Ver­ach­tung ge­gen den »Ver­stand«, die »Sin­ne«, die »Ehren«, das »Wohl­le­ben«, die »Wis­sen­schaft« aus, er sieht der­glei­chen un­ter sich, wie schä­di­gen­de und ver­füh­re­ri­sche Kräf­te, über de­nen »der Geist« in rei­ner Für-sich-heit schwebt: – als ob nicht De­muth, Keusch­heit, Ar­muth, Hei­lig­keit mit Ei­nem Wort, dem Le­ben bis­her un­säg­lich mehr Scha­den gethan hät­ten, als ir­gend wel­che Furcht­bar­kei­ten und Las­ter … Der rei­ne Geist ist die rei­ne Lü­ge… So lan­ge der Pries­ter noch als eine hö­he­re Art Mensch gilt, die­ser Ver­nei­ner, Ver­leum­der, Ver­gif­ter des Le­bens von Be­ruf, giebt es kei­ne Ant­wort auf die Fra­ge: was ist Wahr­heit? Man hat be­reits die Wahr­heit auf den Kopf ge­stellt, wenn der be­wuß­te Ad­vo­kat des Nichts und der Ver­nei­nung als Ver­tre­ter der »Wahr­heit« gilt …

 

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9.

Die­sem Theo­lo­gen-In­stink­te ma­che ich den Krieg: ich fand sei­ne Spur über­all. Wer Theo­lo­gen-Blut im Lei­be hat, steht von vorn­her­ein zu al­len Din­gen schief und un­ehr­lich. Das Pa­thos, das sich dar­aus ent­wi­ckelt, heißt sich Glau­be: das Auge ein für alle Mal vor sich schlie­ßen, um nicht am Aspekt un­heil­ba­rer Falsch­heit zu lei­den. Man macht bei sich eine Moral, eine Tu­gend, eine Hei­lig­keit aus die­ser feh­ler­haf­ten Op­tik zu al­len Din­gen, man knüpft das gute Ge­wis­sen an das Falsch­se­hen, – man for­dert, daß kei­ne and­re Art Op­tik mehr Werth ha­ben dür­fe, nach­dem man die eig­ne mit den Na­men »Gott«, »Er­lö­sung«, »Ewig­keit« sa­kro­sankt ge­macht hat. Ich grub den Theo­lo­gen-In­stinkt noch über­all aus: er ist die ver­brei­tets­te, die ei­gent­lich un­ter­ir­di­sche Form der Falsch­heit, die es auf Er­den giebt. Was ein Theo­lo­ge als wahr emp­fin­det, daß muß falsch sein: man hat dar­an bei­na­he ein Kri­te­ri­um der Wahr­heit. Es ist sein un­ters­ter Selbs­t­er­hal­tungs-In­stinkt, der ver­bie­tet, daß die Rea­li­tät in ir­gend ei­nem Punk­te zu Ehren oder auch nur zu Wor­te käme. So weit der Theo­lo­gen-Ein­fluß reicht, ist das Werth-Urt­heil auf den Kopf ge­stellt, sind die Be­grif­fe »wahr« und »falsch« nothwen­dig um­ge­kehrt: was dem Le­ben am schäd­lichs­ten ist, das heißt hier »wahr«, was es hebt, stei­gert, be­jaht, recht­fer­tigt und tri­um­phi­ren macht, das heißt »falsch« … Kommt es vor, daß Theo­lo­gen durch das »Ge­wis­sen« der Fürs­ten ( oder der Völ­ker –) hin­durch nach der Macht die Hand aus­stre­cken, zwei­feln wir nicht, was je­des­mal im Grun­de sich be­giebt: der Wil­le zum Ende, der ni­hi­lis­ti­sche Wil­le will zur Macht …

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10.

Un­ter Deut­schen ver­steht man so­fort, wenn ich sage, daß die Phi­lo­so­phie durch Theo­lo­gen-Blut ver­derbt ist. Der pro­tes­tan­ti­sche Pfar­rer ist Groß­va­ter der deut­schen Phi­lo­so­phie, der Pro­tes­tan­tis­mus selbst ihr pec­ca­tum ori­gi­na­le. De­fi­ni­ti­on des Pro­tes­tan­tis­mus: die halb­sei­ti­ge Läh­mung des Chris­tent­hums – und der Ver­nunft … Man hat nur das Wort »Tü­bin­ger Stift« aus­zu­spre­chen, um zu be­grei­fen, was die deut­sche Phi­lo­so­phie im Grun­de ist, – eine hin­ter­lis­ti­ge Theo­lo­gie … Die Schwa­ben sind die bes­ten Lüg­ner in Deutsch­land, sie lü­gen un­schul­dig … Wo­her das Frohlo­cken, das beim Auf­tre­ten Kant’s durch die deut­sche Ge­lehr­ten­welt gieng, die zu drei Vier­teln aus Pfar­rer- und Leh­rer-Söh­nen be­steht, – wo­her die deut­sche Über­zeu­gung, die auch heu­te noch ihr Echo fin­det, daß mit Kant eine Wen­dung zum Bes­se­ren be­gin­ne? Der Theo­lo­gen-In­stinkt im deut­schen Ge­lehr­ten er­rieth, was nun­mehr wie­der mög­lich war … Ein Schleich­weg zum al­ten Ide­al stand of­fen, der Be­griff » wah­re Welt«, der Be­griff der Moral als Es­senz der Welt (– die­se zwei bös­ar­tigs­ten Irr­t­hü­mer, die es giebt!) wa­ren jetzt wie­der, Dank ei­ner ver­schmitzt-klu­gen Skep­sis, wenn nicht be­weis­bar, so doch nicht mehr wi­der­leg­bar … Die Ver­nunft, das Recht der Ver­nunft reicht nicht so weit … Man hat­te aus der Rea­li­tät eine »Schein­bar­keit« ge­macht; man hat­te eine voll­kom­men er­lo­gne Welt, die des Sei­en­den, zur Rea­li­tät ge­macht … Der Er­folg Kant’s ist bloß ein Theo­lo­gen-Er­folg: Kant war, gleich Luther, gleich Leib­niz, ein Hemm­schuh mehr in der an sich nicht takt­fes­ten deut­schen Recht­schaf­fen­heit – –

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11.

Ein Wort noch ge­gen Kant als Mora­list. Eine Tu­gend muß uns­re Er­fin­dung sein, uns­re per­sön­lichs­te No­thwehr und No­th­durft: in je­dem an­dern Sin­ne ist sie bloß eine Ge­fahr. Was nicht un­ser Le­ben be­dingt, scha­det ihm: eine Tu­gend bloß aus ei­nem Re­spekts-Ge­füh­le vor dem Be­griff »Tu­gend«, wie Kant es woll­te, ist schäd­lich. Die »Tu­gend«, die »Pf­licht«, das »Gute an sich«, das Gute mit dem Cha­rak­ter der Un­per­sön­lich­keit und All­ge­mein­gül­tig­keit – Hirn­ge­spinns­te, in de­nen sich der Nie­der­gang, die letz­te Ent­kräf­tung des Le­bens, das Kö­nigs­ber­ger Chi­ne­sent­hum aus­drückt. Das Um­ge­kehr­te wird von den tiefs­ten Er­hal­tungs- und Wachst­hums­ge­set­zen ge­bo­ten: daß Je­der sich sei­ne Tu­gend, sei­nen ka­te­go­ri­schen Im­pe­ra­tiv er­fin­de. Ein Volk geht zu Grun­de, wenn es sei­ne Pf­licht mit dem Pf­licht­be­griff über­haupt ver­wech­selt. Nichts rui­nirt tiefer, in­ner­li­cher als jede »un­per­sön­li­che« Pf­licht, jede Op­fe­rung vor dem Mo­loch der Abstrak­ti­on. – Daß man den ka­te­go­ri­schen Im­pe­ra­tiv Kant’s nicht als le­bens­ge­fähr­lich emp­fun­den hat! … Der Theo­lo­gen-In­stinkt al­lein nahm ihn in Schutz! – Eine Hand­lung, zu der der In­stinkt des Le­bens zwingt, hat in der Lust ih­ren Be­weis, eine rech­te Hand­lung zu sein: und je­ner Ni­hi­list mit christ­lich-dog­ma­ti­schen Ein­ge­wei­den ver­stand die Lust als Ein­wand … Was zer­stört schnel­ler, als ohne in­ne­re Not­wen­dig­keit, ohne eine tief per­sön­li­che Wahl, ohne Lust ar­bei­ten, den­ken, füh­len? als Au­to­mat der »Pf­licht«? Es ist ge­ra­de­zu das Re­cept zur dé­ca­dence, selbst zum Idio­tis­mus … Kant wur­de Idi­ot. – Und das war der Zeit­ge­nos­se Goethe’s! Dies Ver­häng­nis von Spin­ne galt als der deut­sche Phi­lo­soph, – gilt es noch! … Ich hüte mich zu sa­gen, was ich von den Deut­schen den­ke … Hat Kant nicht in der fran­zö­si­schen Re­vo­lu­ti­on den Über­gang aus der un­or­ga­ni­schen Form des Staats in die or­ga­ni­sche ge­sehn? Hat er sich nicht ge­fragt, ob es eine Be­ge­ben­heit giebt, die gar nicht an­ders er­klärt wer­den kön­ne als durch eine mo­ra­li­sche An­la­ge der Mensch­heit, so­daß mit ihr, Ein für alle Mal, die »Ten­denz der Mensch­heit zum Gu­ten« be­wie­sen sei? Ant­wort Kant’s: »das ist die Re­vo­lu­ti­on.« Der fehl­grei­fen­de In­stinkt in Al­lem und Je­dem, die Wi­der­na­tur als In­stinkt, die deut­sche dé­ca­dence als Phi­lo­so­phie – das ist Kant! –

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12.

Ich neh­me ein paar Skep­ti­ker bei Sei­te, den an­stän­di­gen Ty­pus in der Ge­schich­te der Phi­lo­so­phie: aber der Rest kennt die ers­ten For­de­run­gen der in­tel­lek­tu­el­len Recht­schaf­fen­heit nicht. Sie ma­chen es al­le­sammt wie die Weib­lein, alle die­se großen Schwär­mer und Wun­dert­hie­re, – sie hal­ten die »schö­nen Ge­füh­le« be­reits für Ar­gu­men­te, den »ge­ho­be­nen Bu­sen« für einen Bla­se­balg der Gott­heit, die Über­zeu­gung für ein Kri­te­ri­um der Wahr­heit. Zu­letzt hat noch Kant, in »deut­scher« Un­schuld, die­se Form der Cor­rup­ti­on, die­sen Man­gel an in­tel­lek­tu­el­lem Ge­wis­sen un­ter dem Be­griff »prak­ti­sche Ver­nunft« zu ver­wis­sen­schaft­li­chen ver­sucht: er er­fand ei­gens eine Ver­nunft da­für, in wel­chem Fal­le man sich nicht um die Ver­nunft zu küm­mern habe, näm­lich wenn die Moral, wenn die er­hab­ne For­de­rung »du sollst« laut wird. Er­wägt man, daß bei fast al­len Völ­kern der Phi­lo­soph nur die Wei­ter­ent­wick­lung des pries­ter­li­chen Ty­pus ist, so über­rascht die­ses Erb­stück des Pries­ters, die Falsch­mün­ze­rei vor sich selbst, nicht mehr. Wenn man hei­li­ge Auf­ga­ben hat, zum Bei­spiel die Men­schen zu bes­sern, zu ret­ten, zu er­lö­sen, – wenn man die Gott­heit im Bu­sen trägt, Mund­stück jen­sei­ti­ger Im­pe­ra­ti­ve ist, so steht man mit ei­ner sol­chen Mis­si­on be­reits au­ßer­halb al­ler bloß ver­stan­des­mä­ßi­gen Wer­thun­gen, – selbst schon ge­hei­ligt durch eine sol­che Auf­ga­be, selbst schon der Ty­pus ei­ner hö­he­ren Ord­nung! … Was geht einen Pries­ter die Wis­sen­schaft an! Er steht zu hoch da­für! – Und der Pries­ter hat bis­her ge­herrscht! – Er be­stimm­te den Be­griff »wahr« und »un­wahr«! …