Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn.

(1873.)

1.

In ir­gend ei­nem ab­ge­le­ge­nen Win­kel des in zahl­lo­sen Son­nen­sys­te­men flim­mernd aus­ge­gos­se­nen Wel­talls gab es ein­mal ein Gestirn, auf dem klu­ge Thie­re das Er­ken­nen er­fan­den. Es war die hoch­müthigs­te und ver­lo­gens­te Mi­nu­te der »Welt­ge­schich­te«: aber doch nur eine Mi­nu­te. Nach we­ni­gen Athem­zü­gen der Na­tur er­starr­te das Gestirn, und die klu­gen Thie­re muß­ten ster­ben. – So könn­te Je­mand eine Fa­bel er­fin­den und wür­de doch nicht ge­nü­gend il­lus­trirt ha­ben, wie kläg­lich, wie schat­ten­haft und flüch­tig, wie zweck­los und be­lie­big sich der mensch­li­che In­tel­lekt in­ner­halb der Na­tur aus­nimmt. Es gab Ewig­kei­ten, in de­nen er nicht war; wenn es wie­der mit ihm vor­bei ist, wird sich Nichts be­ge­ben ha­ben. Denn es giebt für je­nen In­tel­lekt kei­ne wei­te­re Mis­si­on, die über das Men­schen­le­ben hin­aus­führ­te. Son­dern mensch­lich ist er, und nur sein Be­sit­zer und Er­zeu­ger nimmt ihn so pa­the­tisch, als ob die An­geln der Welt sich in ihm dreh­ten. Könn­ten wir uns aber mit der Mücke ver­stän­di­gen, so wür­den wir ver­neh­men, daß auch sie mit die­sem Pa­thos durch die Luft schwimmt und in sich das flie­gen­de Cen­trum die­ser Welt fühlt. Es ist Nichts so ver­werf­lich und ge­ring in der Na­tur, was nicht, durch einen klei­nen An­hauch je­ner Kraft des Er­ken­nens, so­fort wie ein Schlauch auf­ge­schwellt wür­de; und wie je­der Last­trä­ger sei­nen Be­wun­de­rer ha­ben will, so meint gar der stol­zes­te Mensch, der Phi­lo­soph, von al­len Sei­ten die Au­gen des Wel­talls te­le­sko­pisch auf sein Han­deln und Den­ken ge­rich­tet zu se­hen.

Es ist merk­wür­dig, daß dies der In­tel­lekt zu Stan­de bringt, er, der doch ge­ra­de nur als Hülfs­mit­tel den un­glück­lichs­ten, de­li­ka­tes­ten, ver­gäng­lichs­ten We­sen bei­ge­ge­ben ist, um sie eine Mi­nu­te im Da­sein fest­zu­hal­ten, aus dem sie sonst, ohne jene Bei­ga­be, so schnell wie Les­sing’s Sohn zu flüch­ten al­len Grund hät­ten. Je­ner mit dem Er­ken­nen und Emp­fin­den ver­bun­de­ne Hoch­muth, ver­blen­den­de Ne­bel über die Au­gen und Sin­ne der Men­schen le­gend, täuscht sich also über den Werth des Da­seins, da­durch, daß er über das Er­ken­nen selbst die schmei­chel­haf­tes­te Wert­h­schät­zung in sich trägt. Sei­ne all­ge­meins­te Wir­kung ist Täu­schung – aber auch die ein­zels­ten Wir­kun­gen tra­gen Et­was von glei­chem Cha­rak­ter an sich.

Der In­tel­lekt, als ein Mit­tel zur Er­hal­tung des In­di­vi­du­ums, ent­fal­tet sei­ne Haupt­kräf­te in der Ver­stel­lung: denn die­se ist das Mit­tel, durch das die schwä­che­ren, we­ni­ger ro­bus­ten In­di­vi­du­en sich er­hal­ten, als wel­chen einen Kampf um die Exis­tenz mit Hör­nern oder schar­fem Raubt­hier-Ge­biß zu füh­ren ver­sagt ist. Im Men­schen kommt die­se Ver­stel­lungs­kunst auf ih­ren Gip­fel: hier ist die Täu­schung, das Schmei­cheln, Lü­gen und Trü­gen, das Hin­ter-dem-Rücken-Re­den, das Re­prä­sen­ti­ren, das im er­borg­ten Glan­ze Le­ben, das Mas­kirt­sein, die ver­hül­len­de Con­ven­ti­on, das Büh­nen­spiel vor An­de­ren und vor sich selbst, kurz das fort­wäh­ren­de He­rum­flat­tern um die eine Flam­me Ei­tel­keit so sehr die Re­gel und das Ge­setz, daß fast Nichts un­be­greif­li­cher ist, als wie un­ter den Men­schen ein ehr­li­cher und rei­ner Trieb zur Wahr­heit auf­kom­men konn­te. Sie sind tief ein­ge­taucht in Il­lu­sio­nen und Traum­bil­der, ihr Auge glei­tet nur auf der Ober­flä­che der Din­ge her­um und sieht »For­men«, ihre Emp­fin­dung führt nir­gends in die Wahr­heit, son­dern be­gnügt sich, Rei­ze zu emp­fan­gen und gleich­sam ein tas­ten­des Spiel auf dem Rücken der Din­ge zu spie­len. Dazu läßt sich der Mensch Nachts, ein Le­ben hin­durch, im Trau­me be­lü­gen, ohne daß sein mo­ra­li­sches Ge­fühl dies je zu ver­hin­dern such­te: wäh­rend es Men­schen ge­ben soll, die durch star­ken Wil­len das Schnar­chen be­sei­tigt ha­ben. Was weiß der Mensch ei­gent­lich von sich selbst! Ja, ver­möch­te er auch nur sich ein­mal voll­stän­dig, hin­ge­legt wie in einen er­leuch­te­ten Glas­kas­ten, zu per­ci­pi­ren? Ver­schweigt die Na­tur ihm nicht das Al­ler­meis­te, selbst über sei­nen Kör­per, um ihn, ab­seits von den Win­dun­gen der Ge­där­me, dem ra­schen Fluß der Blut­strö­me, den ver­wi­ckel­ten Fa­ser­er­zit­te­run­gen, in ein stol­zes gauk­le­ri­sches Be­wußt­sein zu ban­nen und ein­zu­schlie­ßen! Sie warf den Schlüs­sel weg: und wehe der ver­häng­nis­vol­len Neu­be­gier, die durch eine Spal­te ein­mal aus dem Be­wußt­seins­zim­mer her­aus und hin­ab zu se­hen ver­möch­te, und die jetzt ahn­te, daß auf dem Er­bar­mungs­lo­sen, dem Gie­ri­gen, dem Uner­sätt­li­chen, dem Mör­de­ri­schen der Mensch ruht, in der Gleich­gül­tig­keit sei­nes Nicht­wis­sens, und gleich­sam auf dem Rücken ei­nes Ti­gers in Träu­men hän­gend. Wo­her, in al­ler Welt, bei die­ser Kon­stel­la­ti­on der Trieb zur Wahr­heit!

So­weit das In­di­vi­du­um sich, ge­gen­über an­dern In­di­vi­du­en, er­hal­ten will, be­nutzt es in ei­nem na­tür­li­chen Zu­stand der Din­ge den In­tel­lekt zu­meist nur zur Ver­stel­lung: weil aber der Mensch zu­gleich aus Noth und Lan­ge­wei­le ge­sell­schaft­lich und he­er­den­wei­se existiren will, braucht er einen Frie­dens­schluß und trach­tet dar­nach, daß we­nigs­tens das aller­größ­te bel­lum om­ni­um con­tra om­nes aus sei­ner Welt ver­schwin­de. Die­ser Frie­dens­schluß bringt Et­was mit sich, was wie der ers­te Schritt zur Er­lan­gung je­nes räth­sel­haf­ten Wahr­heits­trie­bes aus­sieht. Jetzt wird näm­lich Das fi­xirt, was von nun an »Wahr­heit« sein soll, das heißt es wird eine gleich­mä­ßig gül­ti­ge und ver­bind­li­che Be­zeich­nung der Din­ge er­fun­den und die Ge­setz­ge­bung der Spra­che giebt auch die ers­ten Ge­set­ze der Wahr­heit: denn es ent­steht hier zum ers­ten Male der Con­trast von Wahr­heit und Lüge. Der Lüg­ner ge­braucht die gül­ti­gen Be­zeich­nun­gen, die Wor­te, um das Un­wirk­li­che als wirk­lich er­schei­nen zu ma­chen; er sagt zum Bei­spiel: »ich bin reich«, wäh­rend für sei­nen Zu­stand ge­ra­de »arm« die rich­ti­ge Be­zeich­nung wäre. Er miß­braucht die fes­ten Kon­ven­tio­nen durch be­lie­bi­ge Ver­tau­schun­gen oder gar Um­keh­run­gen der Na­men. Wenn er dies in ei­gen­nüt­zi­ger und üb­ri­gens Scha­den brin­gen­der Wei­se thut, so wird ihm die Ge­sell­schaft nicht mehr trau­en und ihn da­durch von sich aus­schlie­ßen. Die Men­schen flie­hen da­bei das Be­tro­gen­wer­den nicht so sehr, als das Be­schä­digt­wer­den durch Be­trug: sie has­sen, auch auf die­ser Stu­fe, im Grun­de nicht die Täu­schung, son­dern die schlim­men, feind­se­li­gen Fol­gen ge­wis­ser Gat­tun­gen von Täu­schun­gen. In ei­nem ähn­li­chen be­schränk­ten Sin­ne will der Mensch auch nur die Wahr­heit: er be­gehrt die an­ge­neh­men, Le­ben er­hal­ten­den Fol­gen der Wahr­heit, ge­gen die rei­ne fol­gen­lo­se Er­kennt­niß ist er gleich­gül­tig, ge­gen die viel­leicht schäd­li­chen und zer­stö­ren­den Wahr­hei­ten so­gar feind­lich ge­stimmt. Und über­dies: wie steht es mit je­nen Con­ven­tio­nen der Spra­che? Sind sie viel­leicht Er­zeug­nis­se der Er­kennt­niß, des Wahr­heits­sin­nes, de­cken sich die Be­zeich­nun­gen und die Din­ge? Ist die Spra­che der ad­äqua­te Aus­druck al­ler Rea­li­tä­ten?

Nur durch die Ver­geß­lich­keit kann der Mensch je dazu kom­men zu wäh­nen, er be­sit­ze eine »Wahr­heit« in dem eben be­zeich­ne­ten Gra­de. Wenn er sich nicht mit der Wahr­heit in der Form der Tau­to­lo­gie, das heißt mit lee­ren Hül­sen be­gnü­gen will, so wird er ewig Il­lu­sio­nen für Wahr­hei­ten ein­han­deln. Was ist ein Wort? Die Ab­bil­dung ei­nes Ner­ven­rei­zes in Lau­ten. Von dem Ner­ven­reiz aber wei­ter­zu­schlie­ßen auf eine Ur­sa­che au­ßer uns, ist be­reits das Re­sul­tat ei­ner falschen und un­be­rech­tig­ten An­wen­dung des Sat­zes vom Grun­de. Wie dürf­ten wir, wenn die Wahr­heit bei der Ge­ne­sis der Spra­che, der Ge­sichts­punkt der Ge­wiß­heit bei den Be­zeich­nun­gen al­lein ent­schei­dend ge­we­sen wäre, wie dürf­ten wir doch sa­gen: der Stein ist hart: als ob uns »hart« noch sonst be­kannt wäre, und nicht nur als eine ganz sub­jek­ti­ve Rei­zung! Wir thei­len die Din­ge nach Ge­schlech­tern ein, wir be­zeich­nen den Baum als männ­lich, die Pflan­ze als weib­lich: wel­che will­kür­li­chen Über­tra­gun­gen! Wie weit hin­aus­ge­flo­gen über den Ka­non der Ge­wiß­heit! Wir re­den von ei­ner »Schlan­ge«: die Be­zeich­nung trifft Nichts als das Sich­win­den, könn­te also auch dem Wur­me zu­kom­men. Wel­che will­kür­li­chen Ab­gren­zun­gen, wel­che ein­sei­ti­gen Be­vor­zu­gun­gen bald der bald je­ner Ei­gen­schaft ei­nes Din­ges! Die ver­schie­de­nen Spra­chen, ne­ben ein­an­der ge­stellt, zei­gen, daß es bei den Wor­ten nie auf die Wahr­heit, nie auf einen ad­äqua­ten Aus­druck an­kommt: denn sonst gäbe es nicht so vie­le Spra­chen. Das »Ding an sich« (das wür­de eben die rei­ne fol­gen­lo­se Wahr­heit sein) ist auch dem Sprach­bild­ner ganz un­faß­lich und ganz und gar nicht er­stre­bens­werth. Er be­zeich­net nur die Re­la­tio­nen der Din­ge zu den Men­schen und nimmt zu de­ren Aus­dru­cke die kühns­ten Me­ta­phern zu Hül­fe. Ein Ner­ven­reiz, zu­erst über­tra­gen in ein Bild! Ers­te Me­ta­pher. Das Bild wie­der nach­ge­formt in einen Laut! Zwei­te Me­ta­pher. Und je­des­mal voll­stän­di­ges Über­sprin­gen der Sphä­re, mit­ten hin­ein in eine ganz and­re und neue. Man kann sich einen Men­schen den­ken, der ganz taub ist und nie eine Emp­fin­dung des To­nes und der Mu­sik ge­habt hat: wie die­ser etwa die chlad­ni’­schen Klang­fi­gu­ren im San­de an­staunt, ihre Ur­sa­chen im Er­zit­tern der Sai­te fin­det und nun dar­auf schwö­ren wird, jetzt müs­se er wis­sen, was die Men­schen den »Ton« nen­nen, so geht es uns Al­len mit der Spra­che. Wir glau­ben Et­was von den Din­gen selbst zu wis­sen, wenn wir von Bäu­men, Far­ben, Schnee und Blu­men re­den, und be­sit­zen doch Nichts als Me­ta­phern der Din­ge, die den ur­sprüng­li­chen We­sen­hei­ten ganz und gar nicht ent­spre­chen. Wie der Ton als Sand­fi­gur, so nimmt sich das räth­sel­haf­te X des Dings an sich ein­mal als Ner­ven­reiz, dann als Bild, end­lich als Laut aus. Lo­gisch geht es also je­den­falls nicht bei der Ent­ste­hung der Spra­che zu, und das gan­ze Ma­te­ri­al, worin und wo­mit spä­ter der Mensch der Wahr­heit, der For­scher, der Phi­lo­soph ar­bei­tet und baut, stammt, wenn nicht aus Wol­ken­ku­kuks­heim, so doch je­den­falls nicht aus dem We­sen der Din­ge.

 

Den­ken wir be­son­ders noch an die Bil­dung der Be­grif­fe. Je­des Wort wird so­fort da­durch Be­griff, daß es eben nicht für das ein­ma­li­ge ganz und gar in­di­vi­dua­li­sir­te Urer­leb­niß, dem es sein Ent­ste­hen ver­dankt, etwa als Erin­ne­rung die­nen soll, son­dern zu­gleich für zahl­lo­se, mehr oder we­ni­ger ähn­li­che, das heißt streng ge­nom­men nie­mals glei­che, also auf lau­ter un­glei­che Fäl­le pas­sen muß. Je­der Be­griff ent­steht durch Gleich­set­zen des Nicht­glei­chen. So ge­wiß nie ein Blatt ei­nem an­dern ganz gleich ist, so ge­wiß ist der Be­griff Blatt durch be­lie­bi­ges Fal­len­las­sen die­ser in­di­vi­du­el­len Ver­schie­den­hei­ten, durch ein Ver­ges­sen des Un­ter­schei­den­den ge­bil­det und er­weckt nun die Vor­stel­lung, als ob es in der Na­tur au­ßer den Blät­tern Et­was gäbe, das »Blatt« wäre, etwa eine Ur­form, nach der alle Blät­ter ge­webt, ge­zeich­net, ab­ge­zir­kelt, ge­färbt, ge­kräu­selt, be­malt wä­ren, aber von un­ge­schick­ten Hän­den, so daß kein Exem­plar cor­rekt und zu­ver­läs­sig als treu­es Ab­bild der Ur­form aus­ge­fal­len wäre. Wir nen­nen einen Men­schen »ehr­lich«; warum hat er heu­te so ehr­lich ge­han­delt? fra­gen wir. Un­se­re Ant­wort pflegt zu lau­ten: sei­ner Ehr­lich­keit we­gen. Die Ehr­lich­keit! Das heißt wie­der: das Blatt ist die Ur­sa­che der Blät­ter. Wir wis­sen ja gar nichts von ei­ner we­sen­haf­ten Qua­li­tät, die »die Ehr­lich­keit« hie­ße, wohl aber von zahl­rei­chen in­di­vi­dua­li­sir­ten, so­mit un­glei­chen Hand­lun­gen, die wir durch Weglas­sen des Un­glei­chen gleich­set­zen und jetzt als ehr­li­che Hand­lun­gen be­zeich­nen; zu­letzt for­mu­li­ren wir aus ih­nen eine qua­li­tas oc­cul­ta, mit dem Na­men: »die Ehr­lich­keit«. Das Über­se­hen des In­di­vi­du­el­len und Wirk­li­chen giebt uns den Be­griff, wie es uns auch die Form giebt, wo­hin­ge­gen die Na­tur kei­ne For­men und Be­grif­fe, also auch kei­ne Gat­tun­gen kennt, son­dern nur ein für uns un­zu­gäng­li­ches und un­de­fi­nir­ba­res X. Denn auch un­ser Ge­gen­satz von In­di­vi­du­um und Gat­tung ist an­thro­po­mor­phisch und ent­stammt nicht dem We­sen der Din­ge, wenn wir auch nicht zu sa­gen wa­gen, daß er ihm nicht ent­spricht: das wäre näm­lich eine dog­ma­ti­sche Be­haup­tung und als sol­che eben­so un­er­weis­lich wie ihr Ge­gent­heil.

Was ist also Wahr­heit? Ein be­weg­li­ches Heer von Me­ta­phern, Met­ony­mi­en, An­thro­po­mor­phis­men, kurz eine Sum­me von mensch­li­chen Re­la­tio­nen, die, poe­tisch und rhe­to­risch ge­stei­gert, über­tra­gen, ge­schmückt wur­den, und die nach lan­gem Ge­brauch ei­nem Vol­ke fest, ka­no­nisch und ver­bind­lich dün­ken: die Wahr­hei­ten sind Il­lu­sio­nen, von de­nen man ver­ges­sen hat, daß sie wel­che sind, Me­ta­phern, die ab­ge­nutzt und sinn­lich kraft­los ge­wor­den sind, Mün­zen, die ihr Bild ver­lo­ren ha­ben und nun als Me­tall, nicht mehr als Mün­zen, in Be­tracht kom­men.

Wir wis­sen im­mer noch nicht, wo­her der Trieb zur Wahr­heit stammt: denn bis jetzt ha­ben wir nur von der Ver­pflich­tung ge­hört, die die Ge­sell­schaft, um zu existiren, stellt: wahr­haft zu sein, das heißt die usu­el­len Me­ta­phern zu brau­chen, also mo­ra­lisch aus­ge­drückt: von der Ver­nich­tung, nach ei­ner fes­ten Con­ven­ti­on zu lü­gen, he­er­den­wei­se in ei­nem für Alle ver­bind­li­chen Sti­le zu lü­gen. Nun ver­gißt frei­lich der Mensch, daß es so mit ihm steht; er lügt also in der be­zeich­ne­ten Wei­se un­be­wußt und nach hun­dert­jäh­ri­gen Ge­wöh­nun­gen – und kommt eben durch die­se Un­be­wußt­heit, eben durch dies Ver­ges­sen zum Ge­fühl der Wahr­heit. An dem Ge­fühl ver­pflich­tet zu sein, ein Ding als »roth«, ein an­de­res als »kalt«, ein drit­tes als »stumm« zu be­zeich­nen, er­wacht eine mo­ra­li­sche auf Wahr­heit sich be­zie­hen­de Re­gung: aus dem Ge­gen­satz des Lüg­ners, dem Nie­mand traut, den Alle aus­schlie­ßen, de­mons­trirt sich der Mensch das Ehr­wür­di­ge, Zu­trau­li­che und Nütz­li­che der Wahr­heit. Er stellt jetzt sein Han­deln als » ver­nünf­ti­ges« We­sen un­ter die Herr­schaft der Abstrak­tio­nen; er lei­det es nicht mehr, durch die plötz­li­chen Ein­drücke, durch die An­schau­un­gen fort­ge­ris­sen zu wer­den, er ver­all­ge­mei­nert alle die­se Ein­drücke erst zu ent­färb­te­ren, küh­le­ren Be­grif­fen, um an sie das Fahr­zeug sei­nes Le­bens und Han­delns an­zu­knüp­fen. Al­les, was den Men­schen ge­gen das Thier ab­hebt, hängt von die­ser Fä­hig­keit ab, die an­schau­li­chen Me­ta­phern zu ei­nem Sche­ma zu ver­flüch­ti­gen, also ein Bild in einen Be­griff auf­zu­lö­sen. Im Be­reich je­ner Sche­ma­ta näm­lich ist Et­was mög­lich, was nie­mals un­ter den an­schau­li­chen ers­ten Ein­drücken ge­lin­gen möch­te: eine py­ra­mi­da­le Ord­nung nach Kas­ten und Gra­den auf­zu­bau­en, eine neue Welt von Ge­set­zen, Pri­vi­le­gi­en, Un­ter­ord­nun­gen, Grenz­be­stim­mun­gen zu schaf­fen, die nun der an­dern an­schau­li­chen Welt der ers­ten Ein­drücke ge­gen­über­tritt, als das Fes­te­re, All­ge­mei­ne­re, Be­kann­te­re, Men­sch­li­che­re und da­her als das Re­gu­li­ren­de und Im­pe­ra­ti­vi­sche. Wäh­rend jede An­schau­ungs­me­ta­pher in­di­vi­du­ell und ohne ih­res Glei­chen ist und des­halb al­lem Ru­bri­ci­ren im­mer zu ent­flie­hen weiß, zeigt der große Bau der Be­grif­fe die star­re Re­gel­mä­ßig­keit ei­nes rö­mi­schen Co­lum­ba­ri­ums und ath­met in der Lo­gik jene Stren­ge und Küh­le aus, die der Ma­the­ma­tik zu ei­gen ist. Wer von die­ser Küh­le an­ge­haucht wird, wird es kaum glau­ben, daß auch der Be­griff, knö­chern und acht­e­ckig wie ein Wür­fel und ver­setz­bar wie je­ner, doch nur als das Re­si­du­um ei­ner Me­ta­pher üb­rig bleibt, und daß die Il­lu­si­on der künst­le­ri­schen Über­tra­gung ei­nes Ner­ven­rei­zes in Bil­der, wenn nicht die Mut­ter, so doch die Groß­mut­ter ei­nes je­den Be­griffs ist. In­ner­halb die­ses Wür­fel­spiels der Be­grif­fe heißt aber »Wahr­heit«, je­den Wür­fel so zu ge­brau­chen, wie er be­zeich­net ist, ge­nau sei­ne Au­gen zu zäh­len, rich­ti­ge Ru­bri­ken zu bil­den und nie ge­gen die Kas­ten­ord­nung und ge­gen die Rei­hen­fol­ge der Rang­klas­sen zu ver­sto­ßen. Wie die Rö­mer und Etrus­ker sich den Him­mel durch star­ke ma­the­ma­ti­sche Li­ni­en zer­schnit­ten und in einen sol­cher­ma­ßen ab­ge­grenz­ten Raum, als in ein templum, einen Gott bann­ten, so hat je­des Volk über sich einen sol­chen ma­the­ma­tisch zert­heil­ten Be­griffs­him­mel und ver­steht nun un­ter der For­de­rung der Wahr­heit, daß je­der Be­griffs­gott nur in sei­ner Sphä­re ge­sucht wer­de. Man darf hier den Men­schen wohl be­wun­dern als ein ge­wal­ti­ges Bau­ge­nie, dem auf be­weg­li­chen Fun­da­men­ten und gleich­sam auf flie­ßen­dem Was­ser das Auft­hür­men ei­nes un­end­lich com­pli­cir­ten Be­griffs­do­mes ge­lingt: – frei­lich, um auf sol­chen Fun­da­men­ten Halt zu fin­den, muß es ein Bau wie aus Spin­ne­fä­den sein, so zart, um von der Wel­le mit fort­ge­tra­gen, so fest, um nicht von je­dem Win­de aus­ein­an­der ge­bla­sen zu wer­den. Als Bau­ge­nie hebt sich sol­cher­ma­ßen der Mensch weit über die Bie­ne: die­se baut aus Wachs, das sie aus der Na­tur zu­sam­men­holt, er aus dem weit zar­te­ren Stof­fe der Be­grif­fe, die er erst aus sich fa­bri­ci­ren muß. Er ist hier sehr zu be­wun­dern – aber nur nicht we­gen sei­nes Trie­bes zur Wahr­heit, zum rei­nen Er­ken­nen der Din­ge. Wenn Je­mand ein Ding hin­ter ei­nem Bu­sche ver­steckt, es ebendort wie­der sucht und auch fin­det, so ist an die­sem Su­chen und Fin­den nicht viel zu rüh­men: so aber steht es mit dem Su­chen und Fin­den der »Wahr­heit« in­ner­halb des Ver­nunft-Be­zir­kes. Wenn ich die De­fi­ni­ti­on des Säu­gethiers ma­che und dann er­klä­re, nach Be­sich­ti­gung ei­nes Ka­meels: »sie­he, ein Säu­gethier«, so wird da­mit eine Wahr­heit zwar an’s Licht ge­bracht, aber sie ist von be­grenz­tem Wert­he, ich mei­ne, sie ist durch und durch an­thro­po­mor­phisch und ent­hält kei­nen ein­zi­gen Punkt, der »wahr an sich«, wirk­lich und all­ge­mein­gül­tig, ab­ge­sehn von dem Men­schen, wäre. Der For­scher nach sol­chen Wahr­hei­ten sucht im Grun­de nur die Me­ta­mor­pho­se der Welt in den Men­schen, er ringt nach ei­nem Ver­ste­hen der Welt als ei­nes men­schen­ar­ti­gen Din­ges und er­kämpft sich bes­ten Fal­les das Ge­fühl ei­ner As­si­mi­la­ti­on. Ähn­lich wie der Astro­log die Ster­ne im Diens­te der Men­schen und im Zu­sam­men­hange mit ih­rem Glück und Lei­de be­trach­te­te, so be­trach­tet ein sol­cher For­scher die gan­ze Welt als ge­knüpft an den Men­schen, als den un­end­lich ge­bro­che­nen Wie­der­klang ei­nes Ur­klan­ges, des Men­schen, als das ver­viel­fäl­tig­te Ab­bild des einen Ur­bil­des, des Men­schen. Sein Ver­fah­ren ist, den Men­schen als Maaß an alle Din­ge zu hal­ten: wo­bei er aber von dem Irr­thum aus­geht, zu glau­ben, er habe die­se Din­ge un­mit­tel­bar, als rei­ne Ob­jek­te vor sich. Er ver­gißt also die ori­gi­na­len An­schau­ungs-Me­ta­phern als Me­ta­phern und nimmt sie als die Din­ge selbst.

Nur durch das Ver­ges­sen je­ner pri­mi­ti­ven Me­ta­pher­welt, nur durch das Hart- und Starr­wer­den ei­ner ur­sprüng­li­chen in hit­zi­ger Flüs­sig­keit aus dem Ur­ver­mö­gen mensch­li­cher Phan­ta­sie her­vor­strö­men­den Bil­der­mas­se, nur durch den un­be­sieg­ba­ren Glau­ben, die­se Son­ne, die­ses Fens­ter, die­ser Tisch sei eine Wahr­heit an sich, kurz nur da­durch, daß der Mensch sich als Sub­jekt, und zwar als künst­le­risch schaf­fen­des Sub­jekt, ver­gißt, lebt er mit ei­ni­ger Ruhe, Si­cher­heit und Con­se­quenz: wenn er einen Au­gen­blick nur aus den Ge­fäng­niß­wän­den die­ses Glau­bens her­aus könn­te, so wäre es so­fort mit sei­nem »Selbst­be­wußt­sein« vor­bei. Schon dies kos­tet ihm Mühe, sich ein­zu­ge­ste­hen, wie das In­sekt oder der Vo­gel eine ganz an­de­re Welt per­ci­pi­ren als der Mensch, und daß die Fra­ge, wel­che von bei­den Welt­per­cep­tio­nen rich­ti­ger ist, eine ganz sinn­lo­se ist, da hier­zu be­reits mit dem Maaß­sta­be der rich­ti­gen Per­cep­ti­on, das heißt mit ei­nem nicht vor­han­de­nen Maaß­sta­be ge­mes­sen wer­den müß­te. Über­haupt aber scheint mir «die rich­ti­ge Per­cep­ti­on« – das wür­de hei­ßen: der ad­äqua­te Aus­druck ei­nes Ob­jekts im Sub­jekt – ein wi­der­spruchs­vol­les Un­ding: denn zwi­schen zwei ab­so­lut ver­schied­nen Sphä­ren, wie zwi­schen Sub­jekt und Ob­jekt, giebt es kei­ne Cau­sa­li­tät, kei­ne Rich­tig­keit, kei­nen Aus­druck, son­dern höchs­tens ein äs­the­ti­sches Ver­hal­ten, ich mei­ne eine an­deu­ten­de Über­tra­gung, eine nach­stam­meln­de Über­set­zung in eine ganz frem­de Spra­che: wozu es aber je­den­falls ei­ner frei dich­ten­den und frei er­fin­den­den Mit­tel­sphä­re und Mit­tel­kraft be­darf. Das Wort »Er­schei­nung« ent­hält vie­le Ver­füh­run­gen, wes­halb ich es mög­lichst ver­mei­de: denn es ist nicht wahr, daß das We­sen der Din­ge in der em­pi­ri­schen Welt er­scheint. Ein Ma­ler, dem die Hän­de feh­len und der durch Ge­sang das ihm vor­schwe­ben­de Bild aus­drücken woll­te, wird im­mer noch mehr bei die­ser Ver­tau­schung der Sphä­ren ver­rat­hen, als die em­pi­ri­sche Welt vom We­sen der Din­ge ver­räth. Selbst das Ver­hält­niß ei­nes Ner­ven­rei­zes zu dem her­vor­ge­brach­ten Bil­de ist an sich kein nothwen­di­ges: wenn aber das­sel­be Bild mil­lio­nen­mal her­vor­ge­bracht und durch vie­le Men­schen­ge­schlech­ter hin­durch ver­erbt ist, ja zu­letzt bei der ge­samm­ten Mensch­heit je­des­mal in Fol­ge des­sel­ben An­las­ses er­scheint, so be­kommt es end­lich für den Men­schen die­sel­be Be­deu­tung, als ob es das ein­zig nothwen­di­ge Bild sei und als ob je­nes Ver­hält­niß des ur­sprüng­li­chen Ner­ven­rei­zes zu dem her­ge­brach­ten Bil­de ein stren­ges Cau­sa­li­täts­ver­hält­niß sei: wie ein Traum, ewig wie­der­holt, durch­aus als Wirk­lich­keit emp­fun­den und be­urt­heilt wer­den wür­de. Aber das Hart- und Starr-Wer­den ei­ner Me­ta­pher ver­bürgt durch­aus Nichts für die No­thwen­dig­keit und aus­schließ­li­che Be­rech­ti­gung die­ser Me­ta­pher.

Es hat ge­wiß je­der Mensch, der in sol­chen Be­trach­tun­gen hei­misch ist, ge­gen je­den der­ar­ti­gen Idea­lis­mus ein tie­fes Miß­trau­en emp­fun­den, so oft er sich ein­mal recht deut­lich von der ewi­gen Con­se­quenz, All­ge­gen­wär­tig­keit und Un­fehl­bar­keit der Na­tur­ge­set­ze über­zeug­te; er hat den Schluß ge­macht: hier ist Al­les, so­weit wir drin­gen, nach der Höhe der te­le­sko­pi­schen und nach der Tie­fe der mi­kro­sko­pi­schen Welt, so si­cher, aus­ge­baut, end­los, ge­setz­mä­ßig und ohne Lücken; die Wis­sen­schaft wird ewig in die­sen Schach­ten mit Er­folg zu gra­ben ha­ben, und al­les Ge­fun­de­ne wird zu­sam­men­stim­men und sich nicht wi­der­spre­chen. Wie we­nig gleicht Dies ei­nem Phan­ta­sie­er­zeug­niß: denn wenn es dies wäre, müß­te es doch ir­gend­wo den Schein und die Un­rea­li­tät er­rat­hen las­sen. Da­ge­gen ist ein­mal zu sa­gen: hät­ten wir noch, Je­der für sich, eine ver­schie­den­ar­ti­ge Sin­nes­emp­fin­dung, könn­ten wir selbst nur bald als Vo­gel, bald als Wurm, bald als Pflan­ze per­ci­pi­ren, oder sähe der Eine von uns den­sel­ben Reiz als roth, der An­de­re als blau, hör­te ein Drit­ter ihn so­gar als Ton, so wür­de Nie­mand von ei­ner sol­chen Ge­setz­mä­ßig­keit der Na­tur re­den, son­dern sie nur als ein höchst sub­jek­ti­ves Ge­bil­de be­grei­fen. So­dann: was ist für uns über­haupt ein Na­tur­ge­setz? Es ist uns nicht an sich be­kannt, son­dern nur in sei­nen Wir­kun­gen, das heißt in sei­nen Re­la­tio­nen zu an­dern Na­tur­ge­set­zen, die uns wie­der nur als Sum­men von Re­la­tio­nen be­kannt sind. Also ver­wei­sen alle die­se Re­la­tio­nen im­mer nur wie­der auf ein­an­der und sind uns ih­rem We­sen nach un­ver­ständ­lich durch und durch; nur Das, was wir hin­zu­brin­gen, die Zeit, der Raum, also Suc­ces­si­ons­ver­hält­nis­se und Zah­len, sind uns wirk­lich dar­an be­kannt. Al­les Wun­der­ba­re aber, das wir ge­ra­de an den Na­tur­ge­set­zen an­stau­nen, das un­se­re Er­klä­rung for­dert und uns zum Miß­trau­en ge­gen den Idea­lis­mus ver­füh­ren könn­te, liegt ge­ra­de und ganz al­lein nur in der ma­the­ma­ti­schen Stren­ge und Un­ver­brüch­lich­keit der Zeit- und Raum-Vor­stel­lun­gen. Die­se aber pro­du­ci­ren wir in uns und aus uns mit je­ner No­thwen­dig­keit, mit der die Spin­ne spinnt; wenn wir ge­zwun­gen sind, alle Din­ge nur un­ter die­sen For­men zu be­grei­fen, so ist es dann nicht mehr wun­der­bar, daß wir an al­len Din­gen ei­gent­lich nur eben die­se For­men be­grei­fen: denn sie Alle müs­sen die Ge­set­ze der Zahl an sich tra­gen, und die Zahl ge­ra­de ist das Er­staun­lichs­te in den Din­gen. Alle Ge­setz­mä­ßig­keit, die uns im Ster­nen­lauf und im che­mi­schen Pro­ceß so im­po­nirt, fällt im Grun­de mit je­nen Ei­gen­schaf­ten zu­sam­men, die wir selbst an die Din­ge her­an­brin­gen, so daß wir da­mit uns sel­ber im­po­ni­ren. Da­bei er­giebt sich al­ler­dings, daß jene künst­le­ri­sche Me­ta­ph­er­bil­dung, mit der in uns jede Emp­fin­dung be­ginnt, be­reits jene For­men vor­aus­setzt, also in ih­nen voll­zo­gen wird; nur aus dem fes­ten Ver­har­ren die­ser Ur­for­men er­klärt sich die Mög­lich­keit, wie nach­her wie­der aus den Me­ta­phern selbst ein Bau der Be­grif­fe con­sti­tu­irt wer­den konn­te. Die­ser ist näm­lich eine Nach­ah­mung der Zeit-, Raum- und Zah­len­ver­hält­nis­se auf dem Bo­den der Me­ta­phern.