Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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5.

Mit­ten auf die­se mys­ti­sche Nacht, in die Ana­xi­man­der’s Pro­blem vom Wer­den gehüllt war, trat Hera­klit aus Ephe­sus zu und er­leuch­te­te sie durch einen gött­li­chen Blitz­schlag. »Das Wer­den schaue ich an, ruft er, und Nie­mand hat so auf­merk­sam die­sem ewi­gen Wel­len­schla­ge und Rhyth­mus der Din­ge zu­ge­se­hen. Und was schau­te ich? Ge­setz­mä­ßig­kei­ten, un­fehl­ba­re Si­cher­hei­ten, im­mer glei­che Bah­nen des Rech­tes, hin­ter al­len Über­schrei­tun­gen der Ge­set­ze rich­ten­de Erin­nyen, die gan­ze Welt das Schau­spiel ei­ner wal­ten­den Ge­rech­tig­keit und dä­mo­nisch all­ge­gen­wär­ti­ger, ih­rem Diens­te un­ter­ge­be­ner Na­tur­kräf­te. Nicht die Be­stra­fung des Ge­wor­de­nen schau­te ich, son­dern die Recht­fer­ti­gung des Wer­dens. Wann hat sich der Fre­vel, der Ab­fall in un­ver­brüch­li­chen For­men, in hei­lig ge­ach­te­ten Ge­set­zen of­fen­bart? Wo die Un­ge­rech­tig­keit wal­tet, da ist Will­kür, Un­ord­nung, Re­gel­lo­sig­keit, Wi­der­spruch; wo aber daß Ge­setz und die Toch­ter des Zeus, die Dike, al­lein re­giert, wie in die­ser Welt, wie soll­te da die Sphä­re der Schuld, der Buße, der Ver­ur­tei­lung und gleich­sam die Richt­stät­te al­ler Ver­damm­ten sein?«

Aus die­ser In­tui­ti­on ent­nahm Hera­klit zwei zu­sam­men­hän­gen­de Ver­nei­nun­gen, die erst durch die Ver­glei­chung mit den Lehr­sät­zen sei­nes Vor­gän­gers in das hel­le Licht ge­rückt wer­den. Ein­mal leug­ne­te er die Zwei­heit ganz di­ver­ser Wel­ten, zu de­ren An­nah­me Ana­xi­man­der ge­drängt wor­den war; er schied nicht mehr eine phy­si­sche Welt von ei­ner me­ta­phy­si­schen, ein Reich der be­stimm­ten Qua­li­tä­ten von ei­nem Reich der un­de­fi­nir­ba­ren Un­be­stimmt­heit ab. Jetzt, nach die­sem ers­ten Schrit­te, konn­te er auch nicht mehr von ei­ner weit grö­ße­ren Kühn­heit des Ver­nei­nens zu­rück­ge­hal­ten wer­den: er leug­ne­te über­haupt das Sein. Denn die­se eine Welt, die er üb­rig be­hielt – um­schirmt von ewi­gen un­ge­schrie­be­nen Ge­set­zen, auf- und nie­der­flu­thend im eher­nen Schla­ge des Rhyth­mus –, zeigt nir­gends ein Ver­har­ren, eine Un­zer­stör­bar­keit, ein Boll­werk im Stro­me. Lau­ter als Ana­xi­man­der rief Hera­klit es aus: »Ich sehe nichts als Wer­den. Laßt euch nicht täu­schen! In eu­rem kur­z­en Blick liegt es, nicht im We­sen der Din­ge, wenn ihr ir­gend­wo fes­tes Land im Mee­re des Wer­dens und Ver­ge­hens zu se­hen glaubt. Ihr ge­braucht Na­men der Din­ge, als ob sie eine star­re Dau­er hät­ten: aber selbst der Strom, in den ihr zum zwei­ten Male steigt, ist nicht der­sel­be als bei dem ers­ten Male.«

Hera­klit hat als sein kö­nig­li­ches Be­sitz­t­hum die höchs­te Kraft der in­tui­ti­ven Vor­stel­lung; wäh­rend er ge­gen die and­re Vor­stel­lungs­art, die in Be­grif­fen und lo­gi­schen Kom­bi­na­tio­nen voll­zo­gen wird, also ge­gen die Ver­nunft, sich kühl, un­emp­find­lich, ja feind­lich zeigt und ein Ver­gnü­gen zu emp­fin­den scheint, wenn er ihr mit ei­ner in­tui­tiv ge­won­ne­nen Wahr­heit wi­der­spre­chen kann: und dies thut er in Sät­zen wie »Al­les hat je­der­zeit das Ent­ge­gen­ge­setz­te an sich« so un­ge­scheut, daß Ari­sto­te­les ihn des höchs­ten Ver­bre­chens vor dem Tri­bu­na­le der Ver­nunft zeiht, ge­gen den Satz vom Wi­der­spruch ge­sün­digt zu ha­ben. Die in­tui­ti­ve Vor­stel­lung aber um­faßt zwei­er­lei: ein­mal die ge­gen­wär­ti­ge, in al­len Er­fah­run­gen an uns her­an sich drän­gen­de bun­te und wech­seln­de Welt, so­dann die Be­din­gun­gen, durch die jede Er­fah­rung von die­ser Welt erst mög­lich wird, Zeit und Raum. Denn die­se kön­nen, wenn sie auch ohne be­stimm­ten In­halt sind, un­ab­hän­gig von je­der Er­fah­rung und rein an sich in­tui­tiv per­ci­pirt, also an­ge­schaut wer­den. Wenn nun Hera­klit in die­ser Wei­se die Zeit, los­ge­löst von al­len Er­fah­run­gen be­trach­tet, so hat­te er an ihr das be­leh­rends­te Mo­no­gramm al­les Des­sen, was über­haupt un­ter das Be­reich der in­tui­ti­ven Vor­stel­lung fällt. So wie er die Zeit er­kann­te, er­kann­te sie zum Bei­spiel auch Scho­pen­hau­er, als wel­cher von ihr wie­der­holt aus­sagt: daß in ihr je­der Au­gen­blick nur ist, so­fern er den vor­her­ge­hen­den, sei­nen Va­ter, ver­tilgt hat, um selbst eben­so schnell wie­der ver­tilgt zu wer­den; daß Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft so nich­tig als ir­gend ein Traum sind, Ge­gen­wart aber nur die aus­deh­nungs- und be­stand­lo­se Gren­ze zwi­schen bei­den sei; daß aber, wie die Zeit, so der Raum, und wie die­ser, so auch Al­les, was in ihm und der Zeit zu­gleich ist, nur ein re­la­ti­ves Da­sein hat, nur durch und für ein An­de­res, ihm Gleich­ar­ti­ges, d. h. wie­der nur eben­so Be­ste­hen­des, sei. Dies ist eine Wahr­heit von der höchs­ten un­mit­tel­ba­ren, Je­der­mann zu­gäng­li­chen An­schau­lich­keit und eben dar­um be­griff­lich und ver­nünf­tig sehr schwer zu er­rei­chen. Wer sie vor Au­gen hat, muß aber auch so­fort zu der he­ra­kli­ti­schen Con­se­quenz wei­ter­ge­hen und sa­gen, daß das gan­ze We­sen der Wirk­lich­keit eben nur Wir­ken ist und daß es für sie kei­ne an­de­re Art Sein giebt; wie dies eben­falls Scho­pen­hau­er dar­ge­stellt hat (Welt als Wil­le und Vor­stel­lung Band I, ers­tes Buch § 4): »Nur als wir­kend füllt sie den Raum, füllt sie die Zeit: ihre Ein­wir­kung auf das un­mit­tel­ba­re Ob­jekt be­dingt die An­schau­ung, in der sie al­lein existirt: die Fol­ge der Ein­wir­kung je­des an­dern ma­te­ri­el­len Ob­jekts auf ein an­de­res wird nur er­kannt, so­fern das Letz­te­re jetzt an­ders als zu­vor auf das un­mit­tel­ba­re Ob­jekt ein­wirkt, be­steht nur dar­in. Ur­sa­che und Wir­kung ist also das gan­ze We­sen der Ma­te­rie: ihr Sein ist ihr Wir­ken. Höchst tref­fend ist des­halb im Deut­schen der In­be­griff al­les Ma­te­ri­el­len Wirk­lich­keit ge­nannt, wel­ches Wort viel be­zeich­nen­der ist als Rea­li­tät. Das, wor­auf sie wirkt, ist al­le­mal wie­der Ma­te­rie: ihr gan­zes Sein und We­sen be­steht also nur in der ge­setz­mä­ßi­gen Ver­än­de­rung, die ein Theil der­sel­ben im an­de­ren her­vor­bringt, ist folg­lich gänz­lich re­la­tiv, nach ei­ner nur in­ner­halb ih­rer Gren­zen gel­ten­den Re­la­ti­on, also eben wie die Zeit, eben wie der Raum.«

Das ewi­ge und al­lei­ni­ge Wer­den, die gänz­li­che Un­be­stän­dig­keit al­les Wirk­li­chen, das fort­wäh­rend nur wirkt und wird und nicht ist, wie dies Hera­klit lehrt, ist eine furcht­ba­re und be­täu­ben­de Vor­stel­lung und in ih­rem Ein­flus­se am nächs­ten der Emp­fin­dung ver­wandt, mit der Je­mand, bei ei­nem Erd­be­ben, das Zu­trau­en zu der fest­ge­grün­de­ten Erde ver­liert. Es ge­hör­te eine er­staun­li­che Kraft dazu, die­se Wir­kung in das Ent­ge­gen­ge­setz­te, in das Er­hab­ne und das be­glück­te Er­stau­nen zu über­tra­gen. Dies er­reich­te Hera­klit durch eine Beo­b­ach­tung über den ei­gent­li­chen Her­gang je­des Wer­dens und Ver­ge­hens, wel­chen er un­ter der Form der Po­la­ri­tät be­griff, als das Aus­ein­an­der­tre­ten ei­ner Kraft in zwei qua­li­ta­tiv ver­schied­ne, ent­ge­gen­ge­setz­te und zur Wie­der­ver­ei­ni­gung stre­ben­de Thä­tig­kei­ten. Fort­wäh­rend ent­zweit sich eine Qua­li­tät mit sich selbst und schei­det sich in ihre Ge­gen­sät­ze: fort­wäh­rend stre­ben die­se Ge­gen­sät­ze wie­der zu ein­an­der hin. Das Volk meint zwar, et­was Star­res, Fer­ti­ges, Be­har­ren­des zu er­ken­nen; in Wahr­heit ist in je­dem Au­gen­blick Licht und Dun­kel, Bit­ter und Süß bei ein­an­der und an ein­an­der ge­hef­tet, wie zwei Rin­gen­de, von de­nen bald der eine bald der and­re die Ob­macht be­kommt. Der Ho­nig ist, nach Hera­klit, zu­gleich bit­ter und süß, und die Welt selbst ist ein Misch­krug, der be­stän­dig um­ge­rührt wer­den muß. Aus dem Krieg des Ent­ge­gen­ge­setz­ten ent­steht al­les Wer­den: die be­stimm­ten als an­dau­ernd uns er­schei­nen­den Qua­li­tä­ten drücken nur das mo­men­ta­ne Über­ge­wicht des einen Kämp­fers aus, aber der Krieg ist da­mit nicht zu Ende, das Rin­gen dau­ert in Ewig­keit fort. Al­les ge­schieht ge­mäß die­sem Strei­te, und ge­ra­de die­ser Streit of­fen­bart die ewi­ge Ge­rech­tig­keit. Es ist eine wun­der­vol­le, aus dem reins­ten Bor­ne des Hel­le­ni­schen ge­schöpf­te Vor­stel­lung, wel­che den Streit als das fort­wäh­ren­de Wal­ten ei­ner ein­heit­li­chen, stren­gen, an ewi­ge Ge­set­ze ge­bun­de­nen Ge­rech­tig­keit be­trach­tet. Nur ein Grie­che war im Stan­de, die­se Vor­stel­lung als Fun­da­ment ei­ner Kos­mo­di­cee zu fin­den; es ist die gute Eris He­sio­d’s zum Welt­prin­cip ver­klärt, es ist der Wett­kampf­ge­dan­ke der ein­zel­nen Grie­chen und des grie­chi­schen Staa­tes, aus den Gym­na­si­en und Pa­lästren, aus den künst­le­ri­schen Ago­nen, aus dem Rin­gen der po­li­ti­schen Par­tei­en und der Städ­te mit ein­an­der in’s All­ge­meins­te über­tra­gen, so daß jetzt das Rä­der­werk des Kos­mos in ihm sich dreht. Wie je­der Grie­che kämpft, als ob er al­lein im Recht sei, und ein un­end­lich si­che­res Maaß des rich­ter­li­chen Urt­heils in je­dem Au­gen­blick be­stimmt, wo­hin der Sieg sich neigt, so rin­gen die Qua­li­tä­ten mit ein­an­der, nach un­ver­brüch­li­chen, dem Kamp­fe im­ma­nen­ten Ge­set­zen und Maa­ßen. Die Din­ge selbst, an de­ren Fest­ste­hen und Stand­hal­ten der enge Men­schen- und Thier­kopf glaubt, ha­ben gar kei­ne ei­gent­li­che Exis­tenz, sie sind das Er­blit­zen und der Fun­ken­schlag ge­zück­ter Schwer­ter, sie sind das Auf­glän­zen des Siegs, im Kamp­fe der ent­ge­gen­ge­setz­ten Qua­li­tä­ten.

Je­nen Kampf, der al­lem Wer­den ei­gen­tüm­lich ist, je­nen ewi­gen Wech­sel des Sie­ges schil­dert wie­der­um Scho­pen­hau­er (Welt als Wil­le und Vor­stel­lung Band I, zwei­tes Buch § 27): »Be­stän­dig muß die be­har­ren­de Ma­te­rie die Form wech­seln, in­dem, am Leit­fa­den der Kau­sa­li­tät, me­cha­ni­sche, phy­si­sche, che­mi­sche, or­ga­ni­sche Er­schei­nun­gen, sich gie­rig zum Her­vor­tre­ten drän­gend, ein­an­der die Ma­te­rie ent­rei­ßen, da Jede ihre Idee of­fen­ba­ren will. Durch die ge­samm­te Na­tur läßt sich die­ser Streit ver­fol­gen, ja, sie be­steht eben wie­der nur durch ihn.« Die fol­gen­den Sei­ten ge­ben die merk­wür­digs­ten Il­lus­tra­tio­nen die­ses Strei­tes: nur daß der Grund­ton die­ser Schil­de­run­gen im­mer ein and­rer bleibt als bei Hera­klit, so­fern der Kampf für Scho­pen­hau­er ein Be­weis von der Selbst-Ent­zwei­ung des Wil­lens zum Le­ben, ein An-sich-sel­ber-Zeh­ren die­ses fin­stren dump­fen Trie­bes ist, als ein durch­weg ent­setz­li­ches, kei­nes­wegs be­glücken­des Phä­no­men. Der Tum­mel­platz und der Ge­gen­stand die­ses Kamp­fes ist die Ma­te­rie, wel­che die Na­tur­kräf­te wech­sel­sei­tig ein­an­der zu ent­rei­ßen su­chen, wie auch Raum und Zeit, de­ren Ve­rei­ni­gung durch die Cau­sa­li­tät eben die Ma­te­rie ist.

 

6.

Wäh­rend die Ima­gi­na­ti­on Hera­klit’s das rast­los be­weg­te Wel­tall, die »Wirk­lich­keit«, mit dem Auge des be­glück­ten Zuschau­ers maß, der zahl­lo­se Paa­re, im freu­di­gen Kampf­spie­le, un­ter der Ob­hut stren­ger Kampf­rich­ter rin­gen sieht, über­kam ihn eine noch hö­he­re Ah­nung; er konn­te die rin­gen­den Paa­re und die Rich­ter nicht mehr ge­trennt von ein­an­der be­trach­ten, die Rich­ter selbst schie­nen zu kämp­fen, die Kämp­fer selbst schie­nen sich zu rich­ten – ja, da er im Grun­de nur die ewig wal­ten­de eine Ge­rech­tig­keit wahr­nahm, so wag­te er aus­zu­ru­fen: »Der Streit des Vie­len selbst ist die rei­ne Ge­rech­tig­keit! Und über­haupt: das Eine ist das Vie­le. Denn was sind alle jene Qua­li­tä­ten dem We­sen nach? Sind sie un­s­terb­li­che Göt­ter? Sind sie ge­trenn­te, von An­fang und ohne Ende für sich wir­ken­de We­sen? Und wenn die Welt, die wir se­hen, nur Wer­den und Ver­gehn, aber kein Be­har­ren kennt, soll­ten viel­leicht gar jene Qua­li­tä­ten eine an­ders ge­ar­te­te me­ta­phy­si­sche Welt con­sti­tu­i­ren, zwar kei­ne Welt der Ein­heit, wie sie Ana­xi­man­der hin­ter dem flat­tern­den Schlei­er der Viel­heit such­te, aber eine Welt ewi­ger und we­sen­haf­ter Viel­hei­ten?« – Ist Hera­klit, auf ei­nem Um­we­ge, viel­leicht doch wie­der in die dop­pel­te Wel­t­ord­nung, so hef­tig er sie ver­nein­te, hin­ein­ge­rat­hen, mit ei­nem Olymp zahl­rei­cher un­s­terb­li­cher Göt­ter und Dä­mo­nen – näm­lich vie­ler Rea­li­tä­ten – und mit ei­ner Men­schen­welt, die nur das Staub­ge­wölk des olym­pi­schen Kamp­fes und das Auf­glän­zen gött­li­cher Spee­re – das heißt nur ein Wer­den – sieht? Ana­xi­man­der hat­te sich ge­ra­de vor den be­stimm­ten Qua­li­tä­ten in den Schooß des me­ta­phy­si­schen »Un­be­stimm­ten« ge­flüch­tet; weil die­se wur­den und ver­gien­gen, hat­te er ih­nen das wah­re und lern­haf­te Da­sein ab­ge­spro­chen; soll­te es jetzt aber nicht schei­nen, als ob das Wei­den nur das Sicht­bar­wer­den ei­nes Kamp­fes ewi­ger Qua­li­tä­ten ist? Soll­te es nicht auf die ei­gent­hüm­li­che Schwä­che der mensch­li­chen Er­kennt­niß zu­rück­gehn, wenn wir vom Wer­den re­den – wäh­rend es im We­sen der Din­ge viel­leicht gar kein Wer­den giebt, son­dern nur ein Ne­ben­ein­an­der vie­ler wah­rer un­ge­w­ord­ner un­zer­stör­ba­rer Rea­li­tä­ten?

Dies sind un­he­ra­kli­ti­sche Aus­we­ge und Irr­pfa­de: er ruft noch ein­mal: »Das Eine ist das Vie­le.« Die vie­len wahr­nehm­ba­ren Qua­li­tä­ten sind we­der ewi­ge We­sen­hei­ten, noch Phan­tas­ma­ta uns­rer Sin­ne (als jene denkt sie sich spä­ter Ana­xa­go­ras, als die­se Par­me­ni­des), sie sind we­der star­res selbst­herr­li­ches Sein, noch flüch­ti­ger in Men­schen­köp­fen wan­deln­der Schein. Die drit­te, für Hera­klit al­lein zu­rück­blei­ben­de Mög­lich­keit wird Nie­mand mit dia­lek­ti­schem Spür­sinn und gleich­sam rech­nend er­rat­hen kön­nen: denn was er hier er­fand, ist eine Sel­ten­heit, selbst im Be­rei­che mys­ti­scher Un­glaub­lich­kei­ten und un­er­war­te­ter kos­mi­scher Me­ta­phern. – Die Welt ist das Spiel des Zeus, oder phy­si­ka­li­scher aus­ge­drückt, des Feu­ers mit sich selbst, das Eine ist nur in die­sem Sin­ne zu­gleich das Vie­le. –

Um zu­nächst die Ein­füh­rung des Feu­ers als ei­ner welt­bil­den­den Kraft zu er­läu­tern, er­in­ne­re ich dar­an, in wel­cher Wei­se Ana­xi­man­der die Theo­rie vom Was­ser als dem Ur­sprung der Din­ge wei­ter­ge­bil­det hat­te. Im We­sent­li­chen dar­in Tha­les Ver­trau­en schen­kend und sei­ne Beo­b­ach­tun­gen stär­kend und ver­meh­rend, war Ana­xi­man­der doch nicht zu über­zeu­gen, daß es vor dem Was­ser und gleich­sam hin­ter dem Was­ser kei­ne wei­te­re Qua­li­täts­stu­fe gäbe: son­dern aus Warm und Kalt schi­en ihm das Feuch­te selbst sich zu bil­den, und Warm und Kalt soll­ten da­her die Vor­stu­fen des Was­sers, die noch ur­sprüng­li­che­ren Qua­li­tä­ten sein. Mit ih­rer Aus­schei­dung aus dem Ur­sein des »Un­be­stimm­ten« be­ginnt das Wer­den. Hera­klit, der als Phy­si­ker sich der Be­deu­tung Ana­xi­man­der’s un­ter­ord­ne­te, deu­tet sich die­ses ana­xi­man­dri­sche War­me um als den Hauch, den war­men Athem, die trock­nen Düns­te, kurz als das Feu­ri­ge: von die­sem Feu­er sagt er nun Das­sel­be aus, was Tha­les und Ana­xi­man­der vom Was­ser aus­ge­sagt hat­ten, es durch­lau­fe in zahl­lo­sen Ver­wand­lun­gen die Bahn des Wer­dens, vor Al­lem in den drei Haupt­zu­stän­den, als War­mes, Feuch­tes, Fes­tes. Denn das Was­ser geht theils im Nie­der­stei­gen zur Erde, im Auf­stei­gen zum Feu­er über: oder wie sich Hera­klit ge­nau­er aus­ge­drückt zu ha­ben scheint: aus dem Mee­re stei­gen nur die rei­nen Düns­te auf, wel­che dem himm­li­schen Feu­er der Gestir­ne zur Nah­rung die­nen, aus der Erde nur die dunklen, ne­be­li­gen, aus de­nen das Feuch­te sei­ne Nah­rung zieht. Die rei­nen Düns­te sind der Über­gang des Mee­res zum Feu­er, die un­rei­nen der Über­gang der Erde zum Was­ser. So lau­fen fort­wäh­rend die bei­den Ver­wand­lungs­bah­nen des Feu­ers, auf­wärts und ab­wärts, hin und zu­rück, ne­ben­ein­an­der her, vom Feu­er zum Was­ser, von da zur Erde, von der Erde wie­der zu­rück zum Was­ser, vom Was­ser zum Feu­er. Wäh­rend Hera­klit in den wich­tigs­ten die­ser Vor­stel­lun­gen, zum Bei­spiel dar­in, daß das Feu­er durch die Aus­düns­tun­gen un­ter­hal­ten wird, oder dar­in, daß aus dem Was­ser theils Erde, theils Feu­er sich ab­son­dert, An­hän­ger des Ana­xi­man­der ist, so ist er dar­in selb­stän­dig und im Wi­der­spruch mit Je­nem, daß er das Kal­te aus dem phy­si­ka­li­schen Pro­ceß aus­schließt, wäh­rend Ana­xi­man­der es als gleich­be­rech­tigt ne­ben das War­me ge­stellt hat­te, um aus bei­den das Feuch­te ent­ste­hen zu las­sen. Dies zu thun war frei­lich für Hera­klit eine No­thwen­dig­keit: denn wenn Al­les Feu­er sein soll, so kann, bei al­len Mög­lich­kei­ten sei­ner Um­wand­lung, es doch Nichts ge­ben, was sein ab­so­lu­ter Ge­gen­satz wäre; er wird also Das, was man das Kal­te nennt, nur als Grad des War­men ge­deu­tet ha­ben und konn­te die­se Deu­tung ohne Schwie­rig­kei­ten recht­fer­ti­gen. Viel wich­ti­ger aber als die­se Ab­wei­chung von der Leh­re Ana­xi­man­der’s ist eine wei­te­re Über­ein­stim­mung: er glaubt wie Je­ner an einen pe­ri­odisch sich wie­der­ho­len­den Welt­un­ter­gang und an ein im­mer er­neu­tes Her­vor­stei­gen ei­ner an­dern Welt aus dem Al­les ver­nich­ten­den Welt­bran­de. Die Pe­ri­ode, in der die Welt je­nem Welt­bran­de und der Auf­lö­sung in das rei­ne Feu­er ent­ge­ge­neilt, wird von ihm höchst auf­fal­len­der Wei­se als ein Be­geh­ren und Be­dür­fen cha­rak­te­ri­sirt, das vol­le Ver­schlun­gen­sein im Feu­er als die Satt­heit; und es bleibt uns die Fra­ge üb­rig, wie er den neu­en er­wa­chen­den Trieb der Welt­bil­dung, das Sich-Aus­gie­ßen in die For­men der Viel­heit, ver­stan­den und be­nannt hat. Das grie­chi­sche Sprüchwort scheint uns mit dem Ge­dan­ken zu Hül­fe zu kom­men, daß »Satt­heit den Fre­vel (die Hy­bris) ge­biert«; und in der That kann man sich einen Au­gen­blick fra­gen, ob Hera­klit viel­leicht jene Rück­kehr zur Viel­heit aus der Hy­bris her­ge­lei­tet hat. Man neh­me die­sen Ge­dan­ken ein­mal ernst: in sei­ner Be­leuch­tung ver­wan­delt sich, vor un­se­ren Bli­cken, das Ge­sicht Hera­klit’s, das stol­ze Leuch­ten sei­ner Au­gen er­lischt, ein fal­ti­ger Zug schmerz­li­cher Ent­sa­gung, der Ohn­macht prägt sich aus, es scheint, daß wir wis­sen, warum das spä­te­re Al­ter­thum ihn den »wei­nen­den Phi­lo­so­phen« nann­te. Ist jetzt nicht der gan­ze Welt­pro­ceß ein Be­stra­fungs­akt der Hy­bris? Die Viel­heit das Re­sul­tat ei­nes Fre­vels? Die Ver­wand­lung des Rei­nen in das Un­rei­ne Fol­ge der Un­ge­rech­tig­keit? Wird jetzt nicht die Schuld in den Kern der Din­ge ver­legt, und so­mit zwar die Welt des Wer­dens und der In­di­vi­du­en von ihr ent­las­tet, aber zu­gleich ihre Fol­gen zu tra­gen im­mer von Neu­em wie­der ver­urt­heilt?

7.

Je­nes ge­fähr­li­che Wort, Hy­bris, ist in der That der Prüf­stein für je­den Hera­kli­teer; hier mag er zei­gen, ob er sei­nen Meis­ter ver­stan­den oder ver­kannt hat. Giebt es Schuld, Un­ge­rech­tig­keit, Wi­der­spruch, Leid in die­ser Welt?

Ja, ruft Hera­klit, aber nur für den be­schränk­ten Men­schen, der aus­ein­an­der und nicht zu­sam­men schaut, nicht für den con­tui­ti­ven Gott; für ihn läuft al­les Wi­der­stre­ben­de in eine Har­mo­nie zu­sam­men, un­sicht­bar zwar für das ge­wöhn­li­che Men­schen­au­ge, doch Dem ver­ständ­lich, der, wie Hera­klit, dem be­schau­li­chen Got­te ähn­lich ist. Vor sei­nem Feu­er­blick bleibt kein Trop­fen von Un­ge­rech­tig­keit in der um ihn aus­ge­goss­nen Welt zu­rück; und selbst je­ner car­di­na­le An­stoß, wie das rei­ne Feu­er in so un­rei­ne For­men ein­zie­hen kön­ne, wird von ihm durch ein er­hab­nes Gleich­niß über­wun­den. Ein Wer­den und Ver­ge­hen, ein Bau­en und Zer­stö­ren, ohne jede mo­ra­li­sche Zu­rech­nung, in ewig glei­cher Un­schuld, hat in die­ser Welt al­lein das Spiel des Künst­lers und des Kin­des. Und so, wie das Kind und der Künst­ler spielt, spielt das ewig le­ben­di­ge Feu­er, baut auf und zer­stört, in Un­schuld – und die­ses Spiel spielt der Neon mit sich. Sich ver­wan­delnd in Was­ser und Erde, thürmt er wie ein Kind Sand­hau­fen am Mee­re, thürmt auf und zer­trüm­mert: von Zeit zu Zeit fängt er das Spiel von Neu­em an. Ein Au­gen­blick der Sät­ti­gung: dann er­greift ihn von Neu­em das Be­dürf­niß, wie den Künst­ler zum Schaf­fen das Be­dürf­niß zwingt. Nicht Fre­vel­muth, son­dern der im­mer neu er­wa­chen­de Spiel­trieb ruft and­re Wel­ten in’s Le­ben. Das Kind wirft ein­mal das Spiel­zeug weg: bald aber fängt es wie­der an, in un­schul­di­ger Lau­ne. So­bald es aber baut, knüpft, fügt und formt es ge­setz­mä­ßig und nach in­ne­ren Ord­nun­gen.

So schaut nur der äs­the­ti­sche Mensch die Welt an, der an dem Künst­ler und an dem Ent­ste­hen des Kunst­werks er­fah­ren hat, wie der Streit der Viel­heit doch in sich Ge­setz und Recht tra­gen kann, wie der Künst­ler be­schau­lich über und wir­kend in dem Kunst­werk steht, wie No­thwen­dig­keit und Spiel, Wi­der­streit und Har­mo­nie sich zur Zeu­gung des Kunst­wer­kes paa­ren müs­sen.

Wer wird nun von ei­ner sol­chen Phi­lo­so­phie noch eine Ethik, mit den nö­thi­gen Im­pe­ra­ti­ven »Du sollst« ver­lan­gen oder gar einen sol­chen Man­gel dem Hera­klit zum Vor­wurf ma­chen! Der Mensch ist bis in sei­ne letz­te Fa­ser hin­ein No­thwen­dig­keit und ganz und gar »un­frei«, – wenn man un­ter Frei­heit den när­ri­schen An­spruch, sei­ne es­sen­tia nach Will­kür wie ein Kleid wech­seln zu kön­nen, ver­steht, einen An­spruch, den jede erns­te Phi­lo­so­phie bis­her mit dem ge­büh­ren­den Hoh­ne zu­rück­ge­wie­sen hat. Daß so we­nig Men­schen mit Be­wußt­sein in dem Lo­gos und in Ge­mäß­heit des Al­les über­schau­en­den Künst­lerau­ges le­ben, das rührt da­her, daß ihre See­len naß sind und daß des Men­schen Au­gen und Ohren, über­haupt ihr In­tel­lekt ein schlech­ter Zeu­ge ist, wenn »feuch­ter Schlamm ihre See­len ein­nimmt«. Wa­rum das so ist, wird nicht ge­fragt, eben­so we­nig, warum Feu­er zu Was­ser und Erde wird, Hera­klit hat ja kei­nen Grund, nach­wei­sen zu müs­sen (wie ihn Leib­niz hat­te), daß die­se Welt so­gar die al­ler­bes­te sei, es ge­nügt ihm, daß sie das schö­ne un­schul­di­ge Spiel des Aeon ist. Der Mensch gilt ihm so­gar im All­ge­mei­nen als ein un­ver­nünf­ti­ges We­sen: wo­mit nicht strei­tet, daß sich in al­lem sei­nem We­sen das Ge­setz der all­wal­ten­den Ver­nunft er­füllt. Er nimmt gar nicht eine be­son­ders be­vor­zug­te Stel­lung in der Na­tur ein, de­ren höchs­te Er­schei­nung das Feu­er, zum Bei­spiel als Gestirn, ist, aber nicht der ein­fäl­ti­ge Mensch. Hat die­ser am Feu­er einen Ant­heil durch die No­thwen­dig­keit er­hal­ten, so ist er et­was ver­nünf­ti­ger, so­weit er aus Was­ser und Erde be­steht, steht es schlimm mit sei­ner Ver­nunft. Eine Ver­pflich­tung, daß er den Lo­gos er­ken­nen müs­se, weil er Mensch sei, existirt nicht. Wa­rum giebt es aber Was­ser, warum giebt es Erde? Dies ist für Hera­klit ein viel erns­te­res Pro­blem, als zu fra­gen, warum die Men­schen so dumm und schlecht sei­en. In dem höchs­ten und in dem ver­kehr­tes­ten Men­schen of­fen­bart sich die glei­che im­ma­nen­te Ge­setz­mä­ßig­keit und Ge­rech­tig­keit. Wenn man aber Hera­klit die Fra­ge vor­rücken woll­te: warum ist das Feu­er nicht im­mer Feu­er, warum ist es jetzt Was­ser, jetzt Erde?, so wür­de er eben nur ant­wor­ten »es ist ein Spiel, nehm­t’s nicht zu pa­the­tisch, und vor Al­lem nicht mo­ra­lisch!« Hera­klit be­schreibt nur die vor­hand­ne Welt und hat an ihr das be­schau­li­che Wohl­ge­fal­len, mit dem der Künst­ler auf sein wer­den­des Werk schaut. Düs­ter, schwer­müthig, thrä­nen­reich, fins­ter, schwarz­gal­lig, pes­si­mis­tisch und über­haupt has­sens­wür­dig fin­den ihn nur Die, wel­che mit sei­ner Na­tur­be­schrei­bung des Men­schen nicht zu­frie­den zu sein Ur­sa­che ha­ben. Die­se aber wür­de er, sammt ih­ren An­ti­pa­thi­en und Sym­pa­thi­en, ih­rem Haß und ih­rer Lie­be, für gleich­gül­tig hal­ten und ih­nen etwa mit sol­chen Be­leh­run­gen die­nen »die Hun­de bel­len Je­den an, den sie nicht ken­nen« oder »dem Esel ist Spreu lie­ber als Gold«.

 

Von sol­chen Un­zu­fried­nen rüh­ren auch die zahl­rei­chen Kla­gen über die Dun­kel­heit des he­ra­kli­ti­schen Stils her: wahr­schein­lich hat nie ein Mensch hel­ler und leuch­ten­der ge­schrie­ben. Frei­lich sehr kurz, und des­halb al­ler­dings für die le­sen­den Schnell­läu­fer dun­kel. Wie aber ein Phi­lo­soph un­deut­lich, mit Ab­sicht, schrei­ben soll­te – was man Hera­klit nach­zu­sa­gen pflegt – ist völ­lig un­er­klär­lich: falls er nicht Grund hat, Ge­dan­ken zu ver­ber­gen, oder Schelm ge­nug ist, sei­ne Ge­dan­ken­lo­sig­keit un­ter Wor­ten zu ver­ste­cken. Muß man doch so­gar, wie Scho­pen­hau­er sagt, in An­ge­le­gen­hei­ten des ge­wöhn­li­chen prak­ti­schen Le­bens sorg­fäl­tig, durch Deut­lich­keit, mög­li­chen Miß­ver­ständ­nis­sen vor­beu­gen; wie denn soll­te man im schwie­rigs­ten, ab­stru­ses­ten, kaum er­reich­ba­ren Ge­gen­stan­de des Den­kens, den Auf­ga­ben der Phi­lo­so­phie, sich un­be­stimmt, ja räth­sel­haft aus­drücken dür­fen? Was aber die Kür­ze an­be­trifft, so giebt Jean Paul eine gute Leh­re. »Im Gan­zen ist es recht, wenn al­les Gro­ße – von vie­lem Sinn für einen selt­nen Sinn – nur kurz und (da­her) dun­kel aus­ge­spro­chen wird, da­mit der kah­le Geist es lie­ber für Un­sinn er­klä­re, als in sei­nen Leer­sinn über­set­ze. Denn die ge­mei­nen Geis­ter ha­ben eine häß­li­che Ge­schick­lich­keit, im tiefs­ten und reichs­ten Spruch nichts zu se­hen als ihre eig­ne all­täg­li­che Mei­nung«. Üb­ri­gens und trotz­dem ist Hera­klit den »kah­len Geis­tern« nicht ent­gan­gen; be­reits die Stoi­ker ha­ben ihn in’s Fla­che um­ge­deu­tet und sei­ne äs­the­ti­sche Grund­per­cep­ti­on vom Spiel der Welt zu der ge­mei­nen Rück­sicht auf Zweck­mä­ßig­kei­ten der Welt und zwar für die Vort­hei­le der Men­schen her­ab­ge­zo­gen: so daß aus sei­ner Phy­sik, in je­nen Köp­fen, ein cru­der Op­ti­mis­mus, mit der fort­wäh­ren­den Auf­for­de­rung an Hinz und Kunz zum plau­di­te ami­ci, ge­wor­den ist.