So giengen wir neben dem Philosophen her, beschämt, mitleidig, unzufrieden mit uns und mehr als je überzeugt, daß der Greis Recht haben müsse, und daß wir ihm Unrecht gethan hätten. Wie weit zurück lag jetzt der Jugendtraum unserer Bildungsanstalt, wie deutlich erkannten wir die Gefahr, an der wir bisher nur durch einen Zufall vorbeigeschlüpft waren, uns nämlich mit Haut und Haar dem Bildungswesen zu verlaufen, das von jenen Knabenjahren an, bereits aus unserm Gymnasium heraus, verlockend zu uns gesprochen hatte! Worin lag es doch, daß wir noch nicht im öffentlichen Chorus seiner Bewunderer standen? Vielleicht nur darin, daß wir noch wirkliche Studenten waren, daß wir uns noch, aus dem gierigen Haschen und Drängen, aus dem rastlosen und sich überstürzenden Wellenschlag der Öffentlichkeit, auf jene bald nun auch weggeschwemmte Insel zurückziehn konnten!
Von derartigen Gedanken überwältigt waren wir im Begriff den Philosophen anzureden, als er sich plötzlich gegen uns wendete und mit milderer Stimme begann: »Ich darf mich nicht wundern, wenn ihr euch jugendlich, unvorsichtig und voreilig benahmt. Denn schwerlich hattet ihr über Das, was ihr von mir hörtet, schon jemals ernsthaft nachgedacht. Laßt euch Zeit, tragt es mit euch herum, aber denkt daran Tag und Nacht. Denn jetzt seid ihr an den Kreuzweg gestellt, jetzt wißt ihr, wohin die beiden Wege führen. Auf dem einen wandelnd, seid ihr eurer Zeit willkommen, sie wird es an Kränzen und Siegeszeichen nicht fehlen lassen: ungeheure Parteien werden euch tragen, hinter eurem Rücken werden ebensoviel Gleichgesinnte wie vor euch stehen. Und wenn der Vordermann ein Losungswort ausspricht, so hallt es in allen Reihen wieder. Hier heißt die erste Pflicht: in Reih und Glied kämpfen, die zweite: alle Die zu vernichten, die sich nicht in Reih und Glied stellen wollen. Der andre Weg führt euch mit seltneren Wandergenossen zusammen, er ist schwieriger, verschlungener und steiler: Die, welche auf dem ersten gehen, verspotten euch, weil ihr dort mühsamer schreitet, sie versuchen es auch wohl, euch zu sich hinüberzulocken. Wenn aber einmal beide Wege sich kreuzen, so werdet ihr mißhandelt, bei Seite gedrängt, oder man weicht euch scheu aus und isolirt euch.
Was würde nun, für die so verschiedenartigen Wanderer beider Wege, eine Bildungsanstalt zu bedeuten haben? Jener ungeheure Schwarm, der sich auf dem ersten Wege zu seinen Zielen drängt, versteht darunter eine Institution, wodurch er selbst in Reih und Glied aufgestellt wird und von der Alles abgeschieden und losgelöst wird, was etwa nach höheren und entlegeneren Zielen hinstrebt. Freilich verstehen sie es prunkende Worte für ihre Tendenzen in Umlauf zu bringen: sie reden zum Beispiel von der »allseitigen Entwicklung der freien Persönlichkeit innerhalb fester gemeinsamer nationaler und menschlich-sittlicher Überzeugungen«, oder nennen als ihr Ziel »die Begründung des auf Vernunft, Bildung, Gerechtigkeit ruhenden Volksstaates«.
Für die andere kleinere Schaar ist eine Bildungsanstalt etwas durchaus Verschiedenes. Diese will, an der Schutzwehr einer festen Organisation, verhüten, daß sie selbst, durch jenen Schwarm, weggeschwemmt und auseinandergetrieben werde, daß ihre Einzelnen in frühzeitiger Ermattung oder abgelenkt, entartet, zerstört, ihre edele und erhabene Aufgabe aus dem Auge verlieren. Diese Einzelnen sollen ihr Werk vollenden, das ist der Sinn ihrer gemeinschaftlichen Institution – und zwar ein Werk, das gleichsam von den Spuren des Subjekts gereinigt und über das Wechselspiel der Zeiten hinausgetragen sein soll, als lautere Widerspiegelung des ewigen und unveränderlichen Wesens der Dinge. Und Alle, die an jenem Institute Theil haben, sollen auch mit bemüht sein, durch eine solche Reinigung vom Subjekt, die Geburt des Genius und die Erzeugung seines Werkes vorzubereiten. Nicht Wenige, auch aus der Reihe der zweiten und dritten Begabungen, sind zu einem solchen Mithelfen bestimmt und kommen nur im Dienste einer solchen wahren Bildungs-Institution zu dem Gefühl, ihrer Pflicht zu leben. Jetzt aber werden gerade diese Begabungen von den unausgesetzten Verführungskünsten jener modischen »Cultur« aus ihrer Bahn abgelenkt und ihrem Instinkte entfremdet.
An ihre egoistischen Regungen, an ihre Schwächen und Eitelkeiten richtet sich diese Versuchung, ihnen gerade flüstert jener Zeitgeist zu: »Folgt mir! Dort seid ihr Diener, Gehülfen, Werkzeuge, von höheren Naturen überstrahlt, eurer Eigenart niemals froh, an Fäden gezogen, an Ketten gelegt, als Sklaven, ja als Automaten: hier, bei mir, genießt ihr als Herrn eure freie Persönlichkeit, eure Begabungen dürfen für sich glänzen, mit ihnen werdet ihr selbst an der ersten Stelle stehn, ungeheures Gefolge wird euch begleiten, und der Zuruf der öffentlichen Meinung wird euch mehr behagen, als eine vornehm gespendete Belobigung aus der Höhe des Genius.« Solchen Verlockungen unterliegen jetzt die Allerbesten: und im Grunde entscheidet wohl hier kaum der Grad der Begabung, ob man für derartige Stimmen zugänglich ist oder nicht, sondern die Höhe und der Grad einer gewissen sittlichen Erhabenheit, der Instinkt zum Heroismus, zur Aufopferung – und endlich ein sicheres, zur Sitte gewordenes, durch richtige Erziehung eingeleitetes Bedürfniß der Bildung: als welche, wie ich schon sagte, vor Allem Gehorsam und Gewöhnung an die Zucht des Genius ist. Gerade aber von einer solchen Zucht, einer solchen Gewöhnung wissen die Institute, die man jetzt »Bildungsanstalten« nennt, so viel wie nichts: obwohl es mir nicht zweifelhaft ist, daß das Gymnasium ursprünglich als eine derartige wahre Bildungsinstitution, wenigstens als vorbereitende Veranstaltung, gemeint war und in den wunderbaren, tiefsinnig erregten Zeiten der Reformation die ersten kühnen Schritte auf einer solchen Bahn wirklich gethan hat, ebenfalls, daß sich in der Zeit unseres Schiller, unseres Goethe wieder Etwas von jenem schmählich abgeleiteten oder sekretirten Bedürfnisse merken ließ, gleichsam als ein Keim jener Schwinge, von der Plato im Phädrus redet und welche die Seele, bei jeder Berührung mit dem Schönen, beflügelt und emporträgt – nach dem Reiche der unwandelbaren reinen eingestalten Urbilder der Dinge.«
»Ach, mein verehrter und ausgezeichneter Lehrer,« begann jetzt der Begleiter, »nachdem Sie den göttlichen Plato und die Ideenwelt citirt haben, glaube ich nicht mehr daran, daß Sie mir zürnen, so sehr ich auch durch meine vorige Rede Ihre Mißbilligung und Ihren Zorn verdient habe. Sobald Sie reden, regt sich bei mir jene platonische Schwinge; und nur in den Zwischenpausen habe ich, als Wagenlenker meiner Seele, mit dem widerstrebenden, wilden und ungeberdigen Rosse rechte Mühe, das Plato auch beschrieben hat und von dem er sagt, es sei schief und ungeschlacht, mit starrem Nacken, kurzem Hals und platter Nase, schwarzgefärbt, grauen blutunterlaufenen Auges, an den Ohren struppicht und schwerhörig, zu Frevel und Unthat allezeit bereit und kaum durch Geißel und Stachelstab lenkbar. Denken Sie sodann daran, wie lange ich von Ihnen entfernt gelebt habe und wie gerade auch an mir alle jene Verführungskünste sich erproben konnten, von denen Sie redeten, vielleicht doch nicht ohne einigen Erfolg, wenn auch fast unbemerkt vor mir selber. Ich begreife gerade jetzt stärker als je, wie nothwendig eine Institution ist, welche es uns ermöglicht, mit den seltenen Männern wahrer Bildung zusammenzuleben, um an ihnen Führer und Leitsterne zu haben. Wie stark empfinde ich die Gefahr des einsamen Wanderns! Und wenn ich, wie ich Ihnen sagte, aus dem Gewühl und der direkten Berührung mit dem Zeitgeiste mich durch Flucht zu retten wähnte, so war selbst diese Flucht eine Täuschung. Fortwährend, aus unzähligen Adern, mit jedem Athemzuge quillt jene Atmosphäre in uns hinein, und keine Einsamkeit ist einsam und ferne genug, wo sie uns nicht, mit ihren Nebeln und Wolken, zu erreichen wüßte. Als Zweifel, als Gewinn, als Hoffnung und Tugend verkleidet, in der wechselreichsten Maskentracht umschleichen uns die Bilder jener Cultur: und selbst hier in Ihrer Nähe, das heißt gleichsam an der Hand eines wahren Bildungseremiten wußte uns jene Gaukelei zu verführen. Wie beständig und treu muß jene kleine Schaar einer fast sektirerisch zu nennenden Bildung unter sich wachen! Wie sich gegenseitig stärken! Wie streng muß hier der Fehltritt gerügt, wie mitleidig verziehn werden! So verzeihen Sie nun auch mir, mein Lehrer, nachdem Sie mich so ernst zurechtgewiesen haben!«
»Du führst eine Sprache, mein Guter«, sagte der Philosoph, »die ich nicht mag, und die an religiöse Conventikel erinnert. Damit habe ich nichts zu thun. Aber dein platonisches Pferd hat mir gefallen, seinetwegen soll dir auch verziehen sein. Gegen dieses Pferd tausche ich mein Säugethier ein. Übrigens habe ich wenig Lust, mit euch hier im Kühlen noch ferner herumzugehn. Mein von mir erwarteter Freund ist zwar toll genug, auch wohl um Mitternacht noch hier hinauf zu kommen, wenn er es einmal versprochen hat. Aber ich warte vergebens auf das zwischen uns verabredete Zeichen: mir bleibt es unverständlich, was ihn bis jetzt abgehalten hat. Denn er ist pünktlich und genau, wie wir Alten zu sein pflegen und wie es die Jugend jetzt für altväterisch hält. Diesmal läßt er mich im Stich: es ist verdrießlich! Nun folgt mir nur! Es ist Zeit zu gehen!«
– In diesem Augenblicke zeigte sich etwas Neues. –
*
Fünfter Vortrag
(Gehalten am 23. März 1872.)
Meine verehrten Zuhörer! Wenn Das, was ich Ihnen von den mannigfaltig erregten, in nächtlicher Stille geführten Reden unseres Philosophen erzählt habe, mit einigem Mitgefühl von Ihnen aufgenommen ist, so dürfte Sie die zuletzt berichtete unmuthige Entschließung desselben in ähnlicher Weise getroffen haben, wie sie uns damals traf. Plötzlich nämlich kündigte er uns an, daß er gehen wolle: im Stich gelassen von seinem Freunde und wenig erquickt von Dem, was wir, sammt seinem Begleiter, ihm in solcher Einöde entgegenzubringen wußten, schien er nun hastig den nutzlos verlängerten Aufenthalt auf dem Berge abbrechen zu wollen. Der Tag durfte ihm als verloren gelten: und ihn gleichsam von sich abschüttelnd hätte er gewiß auch gern das Andenken an unsere Bekanntschaft ihm hinterdrein werfen mögen. Und so trieb er uns unwillig an zu gehen, als ein neues Phänomen ihn zum Stillstehen zwang, und der bereits erhobene Fuß sich wieder zögernd senkte.
Ein farbiger Lichtschein und ein knatterndes schnell verhallendes Getöse, aus der Gegend des Rheins her, bannte unsere Aufmerksamkeit; und gleich darauf zog sich eine langsame melodische Phrase, im Einklange, doch durch zahlreiche jugendliche Stimmen verstärkt, aus der Ferne zu uns herüber. »Dies ist ja sein Signal,« rief der Philosoph, »mein Freund kommt doch noch, und ich habe nicht umsonst gewartet. Es wird ein mitternächtliches Wiedersehen – wie melden wir ihm doch, daß ich jetzt noch hier bin? Auf! Ihr Pistolenschützen, jetzt zeigt eure Künste einmal! Hört ihr den strengen Rythmus jener uns begrüßenden Melodie? Diesen Rythmus merkt euch und wiederholt ihn in der Reihenfolge eurer Explosionen!«
Dies war eine Aufgabe nach unserem Geschmack und unserer Fähigkeit; wir luden so schnell wie möglich und nach kurzer Verständigung erhoben wir unsere Pistolen nach der von Sternen durchleuchteten Höhe, während jene eindringliche Tonfolge in der Tiefe, nach kurzer Wiederholung, erstarb. Der erste, der zweite und dritte Schuß giengen schneidig in die Nacht hinaus – jetzt schrie der Philosoph: »Falscher Takt!« denn plötzlich waren wir unserer rythmischen Aufgabe untreu geworden: eine Sternschnuppe kam, unmittelbar nach dem dritten Schuß, pfeilschnell heruntergeflogen und fast unwillkürlich ertönte der vierte und fünfte Schuß zugleich, in der Richtung ihres Niederfalls.
»Falscher Takt!« schrie der Philosoph, »wer heißt euch nach Sternschnuppen zu zielen! Das platzt schon von selbst, ohne euch; man muß wissen, was man will, wenn man mit Waffen hantirt.«
In diesem Augenblicke wiederholte sich, vom Rheine her herübergetragen, jene, jetzt von zahlreicheren und lauteren Stimmen intonirte Melodie. »Man hat uns doch verstanden«, rief lachend mein Freund, »und wer kann auch widerstehen, wenn so ein leuchtendes Gespenst gerade in Schußweite kommt?« – »Still!« unterbrach ihn der Begleiter, »was mag das für ein Schwarm sein, der uns dies Signal entgegensingt! Ich rathe auf zwanzig bis vierzig Stimmen, kräftige männliche Stimmen – und von wo aus begrüßt uns jener Schwarm? Er scheint noch nicht das jenseitige Ufer des Rheins verlassen zu haben – doch das müssen wir ja sehen können, von unserer Bank aus. Kommen Sie schnell dahin!«
An der Stelle nämlich, auf der wir bis jetzt auf- und abgegangen waren, in der Nähe jenes gewaltigen Baumstumpfes, war die Aussicht nach dem Rheine zu durch das dichte finstere und hohe Gehölz abgeschnitten. Dagegen habe ich erzählt, daß man von jenem Ruheplatz aus, etwas tiefer als die ebene Fläche auf der Höhe des Berges, einen Durchblick durch die Baumgipfel hindurch hatte und daß gerade der Rhein, mit der Insel Nonnenwörth im Arme, den Mittelpunkt des gerundeten Ausschnittes für den Beschauer ausfüllte. Wir liefen eilig, doch mit Vorsicht für den greifen Philosophen, nach diesem Ruheplätze hin: es war schwarze Dunkelheit im Walde, und den Philosophen rechts und links geleitend, erriethen wir mehr den gebahnten Weg, als daß wir ihn wahrnahmen.
Kaum hatten wir die Bänke erreicht, als uns ein feuriges, trübes, breites und unruhiges Leuchten, offenbar von der anderen Seite des Rheines her, in’s Auge fiel. »Das sind Fackeln«, rief ich; »Nichts ist sicherer, als daß dort drüben meine Kameraden aus Bonn sind und daß Ihr Freund in ihrer Mitte sein muß. Diese haben gesungen, diese werden ihm das Geleit geben. Sehen Sie! Hören Sie! Jetzt steigt man in die Kähne: in wenig mehr als einer halben Stunde wird der Fackelzug hier oben angelangt sein.«
Der Philosoph sprang zurück. »Was sagen Sie?« versetzte er, »Ihre Kameraden aus Bonn, also Studenten, mit Studenten käme meine Freund?«
Diese fast ingrimmig vorgestoßene Frage regte uns auf. »Was haben Sie gegen die Studenten?« entgegneten wir und bekamen keine Antwort. Erst nach einer Weile begann der Philosoph langsam, in klagendem Tone und gleichsam den noch Entfernten anredend: »Also selbst um Mitternacht, mein Freund, selbst auf dem einsamen Berge werden wir nicht allein sein, und du selbst bringst eine Schaar studentischer Störenfriede zu mir herauf, der du doch weißt, daß ich diesem genus omne gern und behutsam aus dem Wege gehe. Ich verstehe dich darin nicht, mein ferner Freund: es will doch Etwas sagen, wenn wir uns nach langer Trennung zum Wiedersehn zusammenfinden und einen solchen entlegenen Winkel und solche ungewöhnliche Stunden dazu auslesen. Wozu brauchten wir einen Chor von Zeugen und von solchen Zeugen! Was uns ja für heute zusammenruft, das ist doch am wenigsten ein sentimentalisches weichmüthiges Bedürfniß: denn wir haben Beide bei Zeiten gelernt, allein und in würdevoller Isolation leben zu können. Nicht um unsertwillen, etwa um zärtliche Gefühle zu pflegen oder um eine Scene der Freundschaft pathetisch darzustellen, haben wir beschlossen uns hier zu sehen; sondern hier, wo ich dich einst, in denkwürdiger Stunde, feierlich vereinsamt, antraf, wollten wir miteinander, gleichsam als Ritter einer neuen Vehme, des ernstesten Rathes pflegen. Mag uns dabei hören, wer uns versteht, aber warum bringst du einen Schwarm mit, der uns gewiß nicht versteht! Ich erkenne dich darin nicht, mein ferner Freund!«
Wir hielten es nicht für schicklich, den so ungemuth Klagenden zu unterbrechen: und als er melancholisch verstummte, wagten wir doch nicht, ihm zu sagen, wie sehr uns diese mißtrauische Ablehnung der Studenten verdrießen mußte.
Endlich wendete sich der Begleiter an den Philosophen und sagte: »Sie erinnern mich, mein Lehrer, daran, daß Sie ja auch in früherer Zeit, bevor ich Sie kennen lernte, an mehreren Universitäten gelebt haben und daß Gerüchte über Ihren Verkehr mit Studierenden, über die Methode Ihres Unterrichts noch aus jener Periode im Umlauf sind. Aus dem Tone der Resignation, mit dem Sie eben von den Studenten sprachen, dürfte Mancher wohl auf eigenthümliche verstimmende Erfahrungen rathen; ich aber glaube vielmehr, daß Sie eben Das erfahren und gesehen haben, was Jeder dort erfährt und sieht, daß Sie aber dies strenger und richtiger beurtheilt haben als jeder Andere. Denn soviel habe ich aus Ihrem Umgange gelernt, daß die merkwürdigsten, lehrreichsten und entscheidenden Erfahrungen und Erlebnisse die alltäglichen sind, daß aber gerade Das, was als ungeheures Räthsel vor aller Augen liegt, von den Wenigsten als Räthsel verstanden wird, und daß für die wenigen rechten Philosophen eben diese Probleme unberührt, mitten auf der Fahrstraße und gleichsam unter den Füßen der Menge, liegen bleiben, um von ihnen dann sorgsam aufgehoben zu werden und von nun an als Edelsteine der Erkenntniß zu leuchten. Vielleicht sagen Sie uns in der kurzen Pause, die uns noch bis zur Ankunft Ihres Freundes bleibt, noch Etwas über Ihre Erkenntnisse und Erfahrungen in der Sphäre der Universität und vollenden damit den Kreis der Betrachtungen, zu denen wir unwillkürlich in Betreff unserer Bildungsanstalten genöthigt worden sind. Zudem sei es uns erlaubt, Sie daran zu erinnern, daß Sie, auf einer früheren Stufe Ihrer, Besprechungen, mir sogar eine derartige Verheißung gemacht haben. Von dem Gymnasium ausgehend, behaupteten Sie für dasselbe eine außerordentliche Bedeutung: an seinem Bildungsziele, je nachdem es gesteckt ist, müßten sich alle anderen Institute messen, an den Verirrungen seiner Tendenz hätten jene mitzuleiden. Eine solche Bedeutung, als bewegender Mittelpunkt, könne setzt selbst die Universität nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die, bei ihrer jetzigen Formation, wenigstens nach einer wichtigen Seite hin nur als Ausbau der Gymnasialtendenz gelten dürfe. Hier versprachen Sie mir eine spätere Ausführung: Etwas, was vielleicht auch unsere studierenden Freunde bezeugen können, die unser damaliges Gespräch möglicher Weise mit angehört haben.«
»Dies bezeugen wir«, versetzte ich. Der Philosoph wendete sich gegen uns und versetzte: »Nun, wenn ihr wirklich zugehört habt, so könnt ihr mir einmal beschreiben, was ihr, nach allem Gesagten, unter der jetzigen Gymnasialtendenz versteht. Zudem steht ihr dieser Sphäre noch nahe genug, um meine Gedanken an euren Erfahrungen und Empfindungen messen zu können.«
Mein Freund erwiderte, schnell und behend wie seine Art ist, etwa Folgendes: »Bis jetzt hatten wir immer geglaubt, daß die einzige Absicht des Gymnasiums sei, für die Universität vorzubereiten. Diese Vorbereitung aber soll uns selbständig genug für die außerordentlich freie Stellung eines Akademikers machen. Denn es scheint mir, daß in keinem Gebiete des jetzigen Lebens dem Einzelnen so viel zu entscheiden und zu verfügen überlassen sei, wie im Bereiche des studentischen Lebens. Er muß sich selbst, auf einer weiten, ihm völlig freigegebnen Fläche, auf mehrere Jahre hinaus führen können: also wird das Gymnasium versuchen müssen, ihn selbständig zu machen.«
Ich setzte die Rede meines Kameraden fort. »Es scheint mir sogar,« sagte ich, »daß alles Das, was Sie, gewiß mit Recht, an dem Gymnasium zu tadeln haben, nur nothwendige Mittel sind, um, für ein so jugendliches Alter, eine Art von Selbständigkeit und mindestens den Glauben daran zu erzeugen. Dieser Selbständigkeit soll der deutsche Unterricht dienen: das Individuum muß seiner Ansichten und Absichten zeitig froh werden, um ohne Krücken, allein gehen zu können. Deshalb wird es schon frühe zur Produktion und noch früher zu scharfer Beurteilung und Kritik angehalten. Wenn die lateinischen und griechischen Studien auch nicht im Stande sind, den Schüler für das ferne Alterthum zu entzünden, so erwacht doch wohl, bei der Methode, mit der sie betrieben werden, der wissenschaftliche Sinn, die Lust an strenger Causalität der Erkenntniß, die Begier zum Finden und Erfinden: wie Viele mögen durch eine auf dem Gymnasium gefundene, mit jugendlichem Tasten erhaschte neue Lesart zu den Reizungen der Wissenschaft dauernd verführt worden sein! Vielerlei muß der Gymnasiast lernen und in sich einsammeln: dadurch wird wahrscheinlich allgemach ein Trieb erzeugt, von dem geleitet er dann auf der Universität selbständig in ähnlicher Weise lernt und einsammelt. Kurz, wir glauben, es möge die Gymnasialtendenz sein, den Schüler so vorzubereiten und einzugewöhnen, daß er nachher so selbständig weiter lebe und lerne, wie er unter dem Zwange der Gymnasialordnung leben und lernen mußte.«
Der Philosoph lachte hierauf, doch nicht gerade gutmüthig, und versetzte: »Da habt ihr mir sogleich eine schöne Probe dieser Selbständigkeit gegeben. Und gerade diese Selbständigkeit ist es, die mich so erschreckt und mir die Nähe von Studierenden der Gegenwart immer so unerquicklich macht. Ja, meine Guten ihr seid fertig, ihr seid ausgewachsen, die Natur hat eure Form zerbrochen, und eure Lehrer dürfen sich an euch weiden. Welche Freiheit, Bestimmtheit, Unbekümmertheit des Urtheils, welche Neuheit und Frische der Einsicht! Ihr sitzt zu Gericht – und alle Kulturen aller Zeiten laufen davon. Der wissenschaftliche Sinn ist entzündet und schlägt als Flamme aus euch heraus – es hüte sich Jeder, an euch nicht zu verbrennen! Nehme ich nun gleich eure Professoren noch hinzu, so bekomme ich dieselbe Selbständigkeit noch einmal, in einer kräftigen und anmuthigen Steigerung; nie war eine Zeit so reich an den schönsten Selbständigkeiten, nie haßte man so stark jede Sklaverei, auch freilich die Sklaverei der Erziehung und der Bildung.
Erlaubt mir aber, diese eure Selbständigkeit einmal an dem Maßstabe eben dieser Bildung zu messen und eure Universität nur als Bildungsanstalt in Betracht zu ziehn. Wenn ein Ausländer unser Universitätswesen kennen lernen will, so fragt er zuerst mit Nachdruck: »Wie hängt bei euch der Student mit der Universität zusammen?« Wir antworten: »Durch das Ohr, als Hörer.« Der Ausländer erstaunt. »Nur durch das Ohr?« fragt er nochmals. »Nur durch das Ohr«, antworten wir nochmals. Der Student hört. Wenn er spricht, wenn er sieht, wenn er gesellig ist, wenn er Künste treibt, kurz, wenn er lebt, ist er selbständig, das heißt unabhängig von der Bildungsanstalt. Sehr häufig schreibt der Student zugleich, während er hört. Dies sind die Momente, in denen er an der Nabelschnur der Universität hängt. Er kann sich wählen, was er hören will, er braucht nicht zu glauben, was er hört, er kann das Ohr schließen, wenn er nicht hören mag. Dies ist die »akroamatische« Lehrmethode.
Der Lehrer aber spricht zu diesen hörenden Studenten. Was er sonst denkt und thut, ist durch eine ungeheure Kluft von der Wahrnehmung des Studenten abgeschieden. Häufig liest der Professor, während er spricht. Im Allgemeinen will er möglichst viele solche Hörer haben, in der Noth begnügt er sich mit wenigen, fast nie mit einem. Ein redender Mund und sehr viele Ohren, mit halbsoviel schreibenden Händen – das ist der äußerliche akademische Apparat, das ist die in Thätigkeit gesetzte Bildungsmaschine der Universität. Im Übrigen ist der Inhaber dieses Mundes von den Besitzern der vielen Ohren getrennt und unabhängig: und diese doppelte Selbständigkeit preist man mit Hochgefühl als »akademische Freiheit«. Übrigens kann der Eine – um diese Freiheit noch zu erhöhen – ungefähr reden, was er will, der Andre ungefähr hören, was er will: nur daß hinter beiden Gruppen in bescheidener Entfernung der Staat mit einer gewissen gespannten Aufsehermiene steht, um von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, daß er Zweck, Ziel und Inbegriff der sonderbaren Sprech- und Hörprocedur sei.
Wir, denen es einmal gestattet sein muß, dieses überraschende Phänomen nur als Bildungsinstitution zu berücksichtigen, berichten also dem forschenden Ausländer, daß Das, was auf unsern Universitäten Bildung ist, aus dem Munde zum Ohre geht, daß alle Erziehung zur Bildung, wie gesagt, nur »akroamatisch« ist. Da aber selbst das Hören und die Auswahl des zu Hörenden dem akademisch freigesinnten Studenten zu selbständiger Entscheidung überlassen ist, da er andererseits allem Gehörten Glaubwürdigkeit und Auktorität absprechen kann, so fällt, in einem strengen Sinne, alle Erziehung zur Bildung ihm selbst zu, und die durch das Gymnasium zu erstrebende Selbständigkeit zeigt sich jetzt mit höchstem Stolze als »akademische Selbsterziehung zur Bildung« und prunkt mit ihrem glänzendsten Gefieder.
Glückliche Zeit, in der die Jünglinge weise und gebildet genug sind, um sich selbst am Gängelbande führen zu können! Unübertreffliche Gymnasien, denen es gelingt, Selbständigkeit zu pflanzen, wo andre Zeiten glaubten, Abhängigkeit, Zucht, Unterordnung, Gehorsam pflanzen und allen Selbständigkeitsdünkel abwehren zu müssen! Wird euch hier deutlich, meine Guten, weshalb ich, nach der Seite der Bildung hin, die jetzige Universität als Ausbau der Gymnasialtendenz zu betrachten liebe? Die durch das Gymnasium anerzogne Bildung tritt, als etwas Ganzes und Fertiges, mit wählerischen Ansprüchen in die Thore der Universität: sie fordert, sie giebt Gesetze, sie sitzt zu Gericht. Täuscht euch also über den gebildeten Studenten nicht: dieser ist, soweit er eben die Bildungsweihen empfangen zu haben glaubt, immer noch der in den Händen seiner Lehrer geformte Gymnasiast: als welcher nun, seit seiner akademischen Isolation, und nachdem er das Gymnasium verlassen hat, damit gänzlich aller weiteren Formung und Leitung zur Bildung entzogen ist, um von nun an von sich selbst zu leben und frei zu sein.
Frei! Prüft diese Freiheit, ihr Menschenkenner! Aufgebaut auf dem thönernen Grunde der jetzigen Gymnasialcultur, auf zerbröckelndem Fundamente, steht ihr Gebäude schief gerichtet und unsicher bei dem Anhauche der Wirbelwinde. Seht euch den freien Studenten, den Herold der Selbständigkeitsbildung an, errathet ihn in seinen Instinkten, deutet ihn euch aus seinen Bedürfnissen! Was dünkt euch über seine Bildung, wenn ihr diese an drei Gradmessern zu messen wißt, einmal an seinem Bedürfniß zur Philosophie, sodann an seinem Instinkt für Kunst und endlich an dem griechischen und römischen Alterthum als an dem leibhaften kategorischen Imperativ aller Cultur.
Der Mensch ist so umlagert von den ernstesten und schwierigsten Problemen, daß er, in der rechten Weise an sie herangeführt, zeitig in jenes nachhaltige philosophische Erstaunen gerathen wird, auf dem allein, als auf einem fruchtbaren Untergründe, eine tiefere und edlere Bildung wachsen kann. Am häufigsten führen ihn wohl die eignen Erfahrungen an diese Probleme heran, und besonders in der stürmischen Jugendzeit spiegelt sich fast jedes persönliche Ereignis; in einem doppelten Schimmer, als Exemplifikation einer Alltäglichkeit und zugleich eines ewigen erstaunlichen und erklärungswürdigen Problems. In diesem Alter, das seine Erfahrungen gleichsam mit metaphysischen Regenbogen umringt sieht, ist der Mensch auf das Höchste einer führenden Hand bedürftig, weil er plötzlich und fast instinktiv sich von der Zweideutigkeit des Daseins überzeugt hat und den festen Boden der bisher gehegten überkommenen Meinungen verliert.