Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Wir wis­sen aber, was Jene er­stre­ben, die je­nen hei­len­den Ge­sund­heits­schlaf des Vol­kes un­ter­bre­chen wol­len, die ihm fort­wäh­rend zu­ru­fen: »Sei wach, sei be­wußt! Sei klug!«; wir wis­sen, wo­hin Die zie­len, wel­che durch eine au­ßer­or­dent­li­che Ver­meh­rung al­ler Bil­dungs­an­stal­ten, durch einen da­durch er­zeug­ten selbst­be­wuß­ten Leh­rer­stand ein ge­wal­ti­ges Bil­dungs­be­dürf­nis; zu be­frie­di­gen vor­ge­ben. Gera­de die­se und ge­ra­de mit die­sen Mit­teln kämp­fen sie ge­gen die na­tür­li­che Rang­ord­nung im Rei­che des In­tel­lekts, zer­stö­ren sie die Wur­zeln je­ner aus dem Un­be­wußt­sein des Vol­kes her­vor­bre­chen­den höchs­ten und edels­ten Bil­dungs­kräf­te, die im Ge­bä­ren des Ge­ni­us und so­dann in der rich­ti­gen Er­zie­hung und Pfle­ge des­sel­ben ihre müt­ter­li­che Be­stim­mung ha­ben. Nur an dem Gleich­nis­se der Mut­ter wer­den wir die Be­deu­tung und die Ver­pflich­tung be­grei­fen, die die wah­re Bil­dung ei­nes Vol­kes in Hin­sicht auf den Ge­ni­us hat: sei­ne ei­gent­li­che Ent­ste­hung liegt nicht in ihr, er hat gleich­sam nur einen me­ta­phy­si­schen Ur­sprung, eine me­ta­phy­si­sche Hei­mat. Aber daß er in die Er­schei­nung tritt, daß er mit­ten aus ei­nem Vol­ke her­vortaucht, daß er gleich­sam das zu­rück­ge­worf­ne Bild, das ge­sät­tig­te Far­ben­spiel al­ler ei­gent­hüm­li­chen Kräf­te die­ses Vol­kes dar­stellt, daß er die höchs­te Be­stim­mung ei­nes Vol­kes in dem gleich­niß­ar­ti­gen We­sen ei­nes In­di­vi­du­ums und in ei­nem ewi­gen Wer­ke zu er­ken­nen giebt, sein Volk selbst da­mit an das Ewi­ge an­knüp­fend und aus der wech­seln­den Sphä­re des Mo­men­ta­nen er­lö­send – das Al­les ver­mag der Ge­ni­us nur, wenn er im Mut­ter­scho­ße der Bil­dung ei­nes Vol­kes ge­reift und ge­nährt ist – wäh­rend er, ohne die­se schir­men­de und wär­me­n­de Hei­mat, über­haupt nicht die Schwin­gen zu sei­nem ewi­gen Flu­ge ent­fal­ten wird, son­dern trau­rig, bei Zei­ten, wie ein in win­ter­li­che Ein­öden ver­schla­ge­ner Fremd­ling, aus dem un­wir­th­ba­ren Lan­de da­v­on­schleicht.«

»Mein Leh­rer«, sag­te hier der Beglei­ter, »Sie set­zen mich mit die­ser Me­ta­phy­sik des Ge­ni­us in Er­stau­nen, und nur ganz von fer­ne ahne ich das Rich­ti­ge die­ser Gleich­niß. Da­ge­gen be­grei­fe ich voll­stän­dig, was Sie über die Über­zahl der Gym­na­si­en und da­durch ver­an­laß­te Über­zahl von hö­he­ren Leh­rern sag­ten; und ge­ra­de auf die­sem Ge­bie­te habe ich Er­fah­run­gen ge­sam­melt, wel­che mir be­zeu­gen, daß die Bil­dungs­ten­denz des Gym­na­si­ums sich ge­ra­de­zu nach die­ser un­ge­heu­ren Ma­jo­ri­tät von Leh­rern rich­ten muß, wel­che, im Grun­de, nichts mit der Bil­dung zu thun ha­ben und nur durch jene Noth auf die­se Bahn und zu die­sen An­sprü­chen ge­kom­men sind. Alle die Men­schen, die in ei­nem glän­zen­den Mo­ment der Er­leuch­tung sich ein­mal von der Sin­gu­la­ri­tät und Un­nah­bar­keit des hel­le­ni­schen Al­ter­thums über­zeug­ten und mit müh­sa­mem Kamp­fe vor sich selbst die­se Über­zeu­gung vert­hei­digt ha­ben, alle die­se wis­sen, wie der Zu­gang zu die­sen Er­leuch­tun­gen nie­mals Vie­len of­fen stehn wird, und hal­ten es für eine ab­sur­de, ja un­wür­di­ge Ma­nier, daß Je­mand mit den Grie­chen gleich­sam von Be­rufs­we­gen, zum Zwe­cke des Bro­d­er­werbs, wie mit ei­nem all­täg­li­chen Hand­werks­zeu­ge ver­kehrt und ohne Scheu und mit Hand­wer­ker­hän­den an die­sen Hei­ligt­hü­mern her­um­tas­tet. Gera­de in dem Stan­de aber, aus dem der größ­te Theil der Gym­na­si­al­leh­rer ent­nom­men wird, in dem Stan­de der Phi­lo­lo­gen, ist die­se rohe und re­spekt­lo­se Emp­fin­dung das ganz All­ge­mei­ne: wes­halb nun auch wie­der­um das Fort­pflan­zen und Wei­ter­tra­gen ei­ner sol­chen Ge­sin­nung an den Gym­na­si­en nicht über­ra­schen wird.

Man sehe sich nur eine jun­ge Ge­ne­ra­ti­on von Phi­lo­lo­gen an; wie sel­ten be­merkt man bei ih­nen je­nes be­schäm­te Ge­fühl, daß wir, an­ge­sichts ei­ner sol­chen Welt, wie die hel­le­ni­sche ist, gar kein Recht zur Exis­tenz ha­ben, wie kühl und dreist da­ge­gen baut jene jun­ge Brut ihre elen­den Nes­ter mit­ten in den groß­ar­tigs­ten Tem­peln! Den Al­ler­meis­ten von De­nen, wel­che von ih­rer Uni­ver­si­täts­zeit an so selbst­ge­fäl­lig und ohne Scheu in den er­staun­li­chen Trüm­mern je­ner Welt her­um­wan­dern, soll­te ei­gent­lich aus je­dem Win­kel eine mäch­ti­ge Stim­me ent­ge­gen­tö­nen: »Weg von hier, ihr Un­ein­ge­weih­ten, ihr nie­mals Ein­zu­wei­hen­den, flüch­tet schwei­gend aus die­sem Hei­ligt­hum, schwei­gend und be­schämt!« Ach, die­se Stim­me tönt ver­ge­bens: denn man muß schon et­was von grie­chi­scher Art sein, um auch nur eine grie­chi­sche Ver­wün­schung und Bann­for­mel zu ver­ste­hen! Jene aber sind so bar­ba­risch, daß sie es sich nach ih­rer Ge­wöh­nung un­ter die­sen Rui­nen be­hag­lich ein­rich­ten: alle ihre mo­der­nen Be­quem­lich­kei­ten und Lieb­ha­be­rei­en brin­gen sie mit und ver­ste­cken sie auch wohl hin­ter an­ti­ken Säu­len und Grab­mo­nu­men­ten: wo­bei es dann großen Ju­bel giebt, wenn man Das in an­ti­ker Um­ge­bung wie­der­fin­det, was man erst selbst vor­her lis­tig hin­ein­prak­tizirt hat. Der Eine macht Ver­se und ver­steht im Le­xi­kon des He­sy­chi­us nach­zu­schla­gen: so­fort ist er über­zeugt, daß er zum Nach­dich­ter des Äschy­lus be­ru­fen sei, und fin­det auch Gläu­bi­ge, wel­che be­haup­ten, daß er dem Äschy­lus »con­ge­ni­al« sei, er, der dich­ten­de Scha­cher! Wie­der ein And­rer spürt mit dem arg­wöh­ni­schen Auge ei­nes Po­li­zei­manns nach al­len Wi­der­sprü­chen, nach den Schat­ten von Wi­der­sprü­chen, de­ren sich Ho­mer schul­dig ge­macht hat: er ver­geu­det sein Le­ben im Aus­ein­an­der­rei­ßen und An­ein­an­der­nä­hen ho­me­ri­scher Fet­zen, die er selbst erst dem herr­li­chen Ge­wan­de ab­ge­stoh­len hat. Ei­nem Drit­ten wird es bei al­len den mys­te­ri­en­haf­ten und or­gias­ti­schen Sei­ten des Al­ter­thums un­be­hag­lich: er ent­schließt sich ein für al­le­mal, nur den auf­ge­klär­ten Apol­lo gel­ten zu las­sen und im Athe­ner einen hei­te­ren, ver­stän­di­gen, doch et­was un­mo­ra­li­schen Apol­li­ni­ker zu se­hen. Wie ath­met er aus, wenn er wie­der einen dunklen Win­kel des Al­ter­thums auf die Höhe sei­ner eig­nen Auf­klä­rung ge­bracht hat, wenn er zum Bei­spiel im al­ten Py­tha­go­ras einen wa­cke­ren Mit­bru­der in auf­klä­re­ri­schen po­li­ti­cis ent­deckt hat. Ein And­rer quält sich mit der Über­le­gung, warum Ödi­pus vom Schick­sa­le zu so ab­scheu­li­chen Din­gen ver­urt­heilt wor­den sei, sei­nen Va­ter töd­ten, sei­ne Mut­ter hei­rat­hen zu müs­sen. Wo bleibt die Schuld! Wo die poe­ti­sche Ge­rech­tig­keit! Plötz­lich weiß er es: Ödi­pus sei doch ei­gent­lich ein lei­den­schaft­li­cher Ge­sell ge­we­sen, ohne alle christ­li­che Mil­de: er ge­rat­he ja ein­mal so­gar in eine ganz un­ziem­li­che Hit­ze – als ihn Ti­re­si­as das Scheu­sal und den Fluch des gan­zen Lan­des nen­ne. Seid sanft­müthig! woll­te viel­leicht So­pho­kles leh­ren: sonst müßt ihr eure Mut­ter hei­rat­hen und eu­ren Va­ter töd­ten! Wie­der And­re zäh­len ihr Le­ben lang an den Ver­sen grie­chi­scher und rö­mi­scher Dich­ter her­um und er­freu­en sich an der Pro­por­ti­on 7:13 = 14:26. End­lich ver­heißt wohl Ei­ner gar die Lö­sung ei­ner sol­chen Fra­ge, wie die ho­me­ri­sche vom Stand­punkt der Prä­po­si­tio­nen und glaubt mit ἀνά und ϰατά die Wahr­heit aus dem Brun­nen zu ziehn. Alle aber, bei den ver­schie­dens­ten Ten­den­zen gra­ben und wüh­len in dem grie­chi­schen Bo­den mit ei­ner Rast­lo­sig­keit, ei­nem täp­pi­schen Un­ge­schick, daß ein erns­ter Freund des Al­ter­thums ge­ra­de­zu ängst­lich wer­den muß: und so möch­te ich je­den be­gab­ten oder un­be­gab­ten Men­schen, der eine ge­wis­se be­rufs­mä­ßi­ge Nei­gung zu dem Al­ter­thu­me hin ah­nen läßt, an die Hand neh­men und vor ihm in fol­gen­der Wei­se per­or­i­ren: »Weißt du auch, was für Ge­fah­ren dir dro­hen, jun­ger, mit ei­nem mä­ßi­gen Schul­wis­sen auf die Rei­se ge­schick­ter Mensch? Hast du ge­hört, daß es nach Ari­sto­te­les ein un­tra­gi­scher Tod ist, von ei­ner Bild­säu­le er­schla­gen zu wer­den? Und ge­ra­de die­ser Tod droht dir. Du wun­derst dich? So wis­se denn, daß die Phi­lo­lo­gen seit Jahr­hun­der­ten ver­su­chen, die in die Erde ver­sun­kne um­ge­fall­ne Sta­tue des grie­chi­schen Al­ter­thums wie­der auf­zu­rich­ten, bis jetzt im­mer mit un­zu­rei­chen­den Kräf­ten: denn das ist ein Ko­loß, auf dem die Ein­zel­nen wie Zwer­ge her­um­klet­tern. Un­ge­heu­re ver­ein­te Mühe und alle He­bel­kräf­te mo­der­ner Cul­tur sind an­ge­wen­det: im­mer wie­der, kaum vom Bo­den ge­ho­ben, fällt sie zu­rück und zer­trüm­mert im Fall die Men­schen un­ter ihr. Das möch­te noch an­gehn: denn je­des We­sen muß an Et­was zu Grun­de gehn: wer aber steht da­für, daß bei die­sen Ver­su­chen die Sta­tue selbst nicht in Stücke bricht! Die Phi­lo­lo­gen ge­hen an den Grie­chen zu Grun­de – das wäre etwa zu ver­schmer­zen – aber das Al­ter­thum zer­bricht durch die Phi­lo­lo­gen selbst in Stücke! Dies über­le­ge dir, jun­ger leicht­sin­ni­ger Mensch, gehe zu­rück, falls du kein Bil­der­stür­mer bist!«

»In der That«, sag­te der Phi­lo­soph la­chend, »giebt es jetzt zahl­rei­che Phi­lo­lo­gen, wel­che zu­rück­ge­gan­gen sind, wie du es ver­langst: und ich neh­me einen großen Con­trast ge­gen die Er­fah­run­gen mei­ner Ju­gend wahr. Eine große Men­ge von ih­nen kommt, be­wußt oder un­be­wußt, zu der Über­zeu­gung, daß die di­rek­te Berüh­rung mit dem clas­si­schen Al­ter­thu­me für sie nutz­los und hoff­nungs­los sei: wes­halb auch jetzt die­ses Stu­di­um bei der Mehr­zahl der Phi­lo­lo­gen selbst als ste­ril, als aus­ge­lebt, als epi­go­nen­haft gilt. Mit um so grö­ße­rer Lust hat sich die­se Schaar auf die Sprach­wis­sen­schaft ge­stürzt: hier, in ei­nem un­end­li­chen Be­reich frisch auf­ge­worf­nen Acker­lan­des, wo ge­gen­wär­tig noch die mä­ßigs­te Be­ga­bung mit Nut­zen ver­braucht wer­den kann und eine ge­wis­se Nüch­tern­heit so­gar be­reits als po­si­ti­ves Ta­lent be­trach­tet wird, bei der Neu­heit und Un­si­cher­heit der Metho­den und der fort­wäh­ren­den Ge­fahr phan­tas­ti­scher Ver­ir­run­gen – hier, wo eine Ar­beit in Reih und Glied ge­ra­de das Wün­schens­wer­tes­te ist – hier über­rascht den Heran­kom­men­den nicht jene ab­wei­sen­de ma­je­stä­ti­sche Stim­me, die aus der Trüm­mer­welt des Al­ter­thums ihm ent­ge­gen­klingt: hier nimmt man Je­den noch mit off­nen Ar­men auf, und auch Der, wel­cher es vor So­pho­kles und Ari­sto­pha­nes nie­mals zu ei­nem un­ge­wöhn­li­chen Ein­druck, zu ei­nem acht­ba­ren Ge­dan­ken brach­te, wird etwa mit Er­folg an einen ety­mo­lo­gi­schen Web­stuhl ge­stellt oder zum Sam­meln ent­le­ge­ner Dialek­tres­te auf­ge­for­dert – und un­ter Ver­knüp­fen und Tren­nen, Sam­meln und Zer­streu­en, Hin- und Her­lau­fen und Bü­cher­nach­schla­gen ver­geht ihm der Tag. Nun aber soll ein so nütz­lich ver­wen­de­ter Sprach­for­scher noch vor Al­lem Leh­rer sein! Und nun soll er ge­ra­de, sei­nen Ver­pflich­tun­gen ge­mäß, über alte Au­to­ren, zum Hei­le der Gym­na­sial­ju­gend, et­was zu leh­ren ha­ben, über die er es doch selbst nie zu Ein­drücken, noch we­ni­ger zu Ein­sich­ten ge­bracht hat! Wel­che Ver­le­gen­heit! Das Al­ter­thum sagt ihm nichts, und folg­lich hat er nichts über das Al­ter­thum zu sa­gen. Plötz­lich wird ihm licht und wohl: wozu ist er Sprach­ge­lehr­ter! Wa­rum ha­ben jene Au­to­ren grie­chisch und la­tei­nisch ge­schrie­ben! Und nun fängt er lus­tig, so­gleich bei Ho­mer an, zu ety­mo­lo­gi­si­ren und das Lit­haui­sche oder das Kir­chens­la­vi­sche, vor Al­lem aber das hei­li­ge Sans­krit zu Hül­fe zu neh­men, als ob die grie­chi­schen Schul­stun­den nur der Vor­wand für eine all­ge­mei­ne Ein­lei­tung in das Sprach­stu­di­um sei­en und als ob Ho­mer nur an ei­nem prin­zi­pi­el­len Feh­ler lei­de, näm­lich nicht urin­do­ger­ma­nisch ge­schrie­ben zu sein. Wer die jet­zi­gen Gym­na­si­en kennt, der weiß, wie sehr ihre Leh­rer der clas­si­schen Ten­denz ent­frem­det sind, und wie aus ei­nem Ge­füh­le die­ses Man­gels ge­ra­de jene ge­lehr­ten Be­schäf­ti­gun­gen mit der ver­glei­chen­den Sprach­wis­sen­schaft so über­hand ge­nom­men ha­ben.«

 

»Ich mei­ne doch«, sag­te der Beglei­ter, »es käme ge­ra­de dar­auf an, daß ein Leh­rer der clas­si­schen Bil­dung sei­ne Grie­chen und Rö­mer eben nicht mit den an­de­ren, mit den bar­ba­ri­schen Völ­kern ver­wech­se­le, und daß für ihn Grie­chisch und La­tei­nisch nie eine Spra­che ne­ben an­de­ren sein kön­ne: ge­ra­de für sei­ne clas­si­sche Ten­denz ist es gleich­gül­tig, ob das Kno­chen­ge­rüs­te die­ser Spra­chen mit dem an­de­rer Spra­chen über­ein­stim­me und ver­wandt sei: auf das Über­ein­stim­men­de kommt es ihm nicht an: ge­ra­de an dem Nicht­ge­mein­sa­men, ge­ra­de an Dem, was jene Völ­ker als nicht bar­ba­ri­sche über alle an­dern Völ­ker stellt, haf­tet sei­ne wirk­li­che Theil­nah­me, so­weit er eben ein Leh­rer der Bil­dung ist und sich selbst an dem er­ha­be­nen Vor­bild des Clas­si­schen um­bil­den will.«

»Und, täu­sche ich mich«, sag­te der Phi­lo­soph, »ich habe den Arg­wohn, daß bei der Art, wie jetzt auf den Gym­na­si­en La­tei­nisch und Grie­chisch ge­lehrt wird, ge­ra­de das Kön­nen, die be­que­me in Spre­chen und Schrei­ben sich äu­ßern­de Herr­schaft über die Spra­che ver­lo­ren geht: Et­was, worin sich mei­ne jetzt frei­lich schon sehr ver­al­te­te und spär­lich ge­wor­de­ne Ge­ne­ra­ti­on aus­zeich­ne­te: wäh­rend mir die jet­zi­gen Leh­rer so ge­ne­tisch und his­to­risch mit ih­ren Schü­lern um­zu­ge­hen schei­nen, daß zu­letzt bes­ten Falls auch wie­der klei­ne Sans­kri­ta­ner oder ety­mo­lo­gi­sche Sprüht­eu­fel­chen oder Kon­jek­tu­ren-Wüst­lin­ge dar­aus wer­den, aber Kei­ner von ih­nen, zu sei­nem Be­ha­gen, gleich uns Al­ten, sei­nen Pla­to, sei­nen Ta­ci­tus le­sen kann. So mö­gen die Gym­na­si­en auch jetzt noch Pflanz­stät­ten der Ge­lehr­sam­keit sein, aber nicht der Ge­lehr­sam­keit, wel­che gleich­sam nur die na­tür­li­che und un­ab­sicht­li­che Ne­ben­wir­kung ei­ner auf die edels­ten Zie­le ge­rich­te­ten Bil­dung ist, son­dern viel­mehr je­ner, wel­che mit der hy­per­tro­phi­schen An­schwel­lung ei­nes un­ge­sun­den Lei­bes zu ver­glei­chen wäre. Für die­se ge­lehr­te Fett­sucht sind die Gym­na­si­en die Pflanz­stät­ten: wenn sie nicht gar zu Ring­schu­len je­ner ele­gan­ten Bar­ba­rei ent­ar­tet sind, die sich jetzt als »deut­sche Cul­tur der Jetzt­zeit« zu brüs­ten pflegt.«

»Wo­hin aber«, ant­wor­te­te der Beglei­ter, »sol­len sich jene ar­men zahl­rei­chen Leh­rer flüch­ten, de­nen die Na­tur zu wah­rer Bil­dung kei­ne Mit­gift ver­lie­hen, die viel­mehr nur durch eine Noth, weil das Über­maß von Schu­len ein Über­maß von Leh­rern braucht, und um sich selbst zu er­näh­ren, zu dem An­spru­che ge­kom­men sind, Bil­dungs­leh­rer vor­zu­stel­len! Wo­hin sol­len sie sich flüch­ten, wenn das Al­ter­thum sie ge­bie­te­risch zu­rück­weist! Müs­sen sie nicht den­je­ni­gen Mäch­ten der Ge­gen­wart zum Op­fer fal­len, die Tag für Tag, aus dem un­er­müd­lich tö­nen­den Or­gan der Pres­se, ih­nen zu­ru­fen: »Wir sind die Cul­tur! Wir sind die Bil­dung! Wir sind auf der Höhe! Wir sind die Spit­ze der Py­ra­mi­de! Wir sind das Ziel der Welt­ge­schich­te!« – wenn sie die ver­füh­re­ri­schen Ver­hei­ßun­gen hö­ren, wenn ih­nen ge­ra­de die schmäh­lichs­ten An­zei­chen der Un­cul­tur, die ple­be­ji­sche Öf­fent­lich­keit der so­ge­nann­ten »Cul­tu­r­in­ter­es­sen« in Jour­nal und Zei­tung als das Fun­da­ment ei­ner ganz neu­en al­ler­höchs­ten reifs­ten Bil­dungs­form an­ge­prie­sen wird! Wo­hin sol­len sich die Ar­men flüch­ten, wenn in ih­nen auch nur der Rest ei­ner Ah­nung lebt, daß es mit je­nen Ver­hei­ßun­gen sehr lü­gen­haft be­stellt sei – wo­hin an­ders als in die stump­fes­te, mi­kro­lo­gisch dürrs­te Wis­sen­schaft­lich­keit, um nur hier von dem un­er­müd­li­chen Bil­dungs­ge­schrei nichts mehr zu hö­ren? Müs­sen sie nicht, in die­ser Wei­se ver­folgt, end­lich wie der Vo­gel Strauß ih­ren Kopf in einen Hau­fen San­des ste­cken! Ist es nicht ein wah­res Glück für sie, daß sie, ver­gra­ben un­ter Dia­lek­ten, Ety­mo­lo­gi­en und Con­jek­tu­ren, ein Amei­sen­le­ben füh­ren, wenn auch in mei­len­wei­ter Ent­fer­nung von wah­rer Bil­dung, so doch we­nigs­tens mit ver­kleb­ten Ohren und ge­gen die Stim­me der ele­gan­ten Zeit­cul­tur taub und ab­ge­schlos­sen?«

»Du hast Recht, mein Freund«, sag­te der Phi­lo­soph, »aber wo liegt jene eher­ne No­thwen­dig­keit, daß ein Über­maß von Bil­dungs­schu­len be­ste­hen müs­se, und daß da­durch wie­der ein Über­maß von Bil­dungs­leh­rern nö­thig wer­de? – wenn wir doch so deut­lich er­ken­nen, daß die For­de­rung die­ses Über­ma­ßes aus ei­ner der Bil­dung feind­li­chen Sphä­re her er­schallt, und daß die Con­se­quen­zen die­ses Über­ma­ßes auch nur der Um­bil­dung zu gute kom­men? In der That kann von ei­ner sol­chen eher­nen No­thwen­dig­keit nur in­so­fern die Rede sein, als der mo­der­ne Staat in die­sen Din­gen mit­zu­re­den ge­wohnt ist und sei­ne For­de­run­gen mit ei­nem Schlag an sei­ne Rüs­tung zu be­glei­ten pflegt: wel­ches Phä­no­men dann frei­lich auf die Meis­ten den glei­chen Ein­druck macht, als ob die ewi­ge eher­ne No­thwen­dig­keit, das Ur­ge­setz der Din­ge zu ih­nen re­de­te. Im Üb­ri­gen ist ein mit sol­chen For­de­run­gen re­den­der »Cul­tur­staat«, wie man jetzt sagt, et­was Jun­ges und ist erst in dem letz­ten hal­b­en Jahr­hun­dert zu ei­ner »Selbst­ver­ständ­lich­keit« ge­wor­den, das heißt in ei­ner Zeit, der, nach ih­rem Lieb­lings­wort, so vie­ler­lei »selbst­ver­ständ­lich« vor­kommt, was an sich durch­aus sich nicht von selbst ver­steht. Gera­de von dem kräf­tigs­ten mo­der­nen Staa­te, von Preu­ßen, ist die­ses Recht der obers­ten Füh­rung in Bil­dung und Schu­le so ernst ge­nom­men wor­den, daß, bei der Kühn­heit, die die­sem Staats­we­sen zu ei­gen ist, das von ihm er­griff­ne be­denk­li­che Prin­cip eine all­ge­mein­hin be­droh­li­che und für den wah­ren deut­schen Geist ge­fähr­li­che Be­deu­tung be­kommt. Denn von die­ser Sei­te aus fin­den wir das Be­stre­ben, das Gym­na­si­um auf die so­ge­nann­te »Höhe der Zeit« zu brin­gen, förm­lich sys­te­ma­ti­sirt: hier blü­hen alle jene Vor­rich­tun­gen, wo­durch mög­lichst viel Schü­ler zu ei­ner Gym­na­sial­er­zie­hung an­ge­spornt wer­den: hier hat so­gar der Staat sein al­ler­mäch­tigs­tes Mit­tel, die Ver­lei­hung ge­wis­ser auf den Mi­li­tär­dienst be­züg­li­cher Pri­vi­le­gi­en, mit dem Er­fol­ge an­ge­wen­det, daß, nach dem un­be­fang­nen Zeug­nis­se sta­tis­ti­scher Be­am­ten, ge­ra­de dar­aus und nur dar­aus die all­ge­mei­ne Üb­er­fül­lung al­ler preu­ßi­schen Gym­na­si­en und das drin­gends­te fort­wäh­ren­de Be­dürf­niß zu neu­en Grün­dun­gen zu er­klä­ren wäre. Was kann der Staat mehr thun, zu Guns­ten ei­nes Über­ma­ßes von Bil­dungs­an­stal­ten, als wenn er alle hö­he­ren und den größ­ten Theil der nie­de­ren Be­am­ten­stel­len, den Be­such der Uni­ver­si­tät, ja die ein­fluß­reichs­ten mi­li­tä­ri­schen Ver­güns­ti­gun­gen in eine nothwen­di­ge Ver­bin­dung mit dem Gym­na­si­um bringt und dies in ei­nem Lan­de, wo eben­so­wohl die all­ge­mei­ne durch­aus volks­thüm­lich ap­pro­bir­te Wehr­pflicht als der un­um­schränk­tes­te po­li­ti­sche Be­am­ten­ehr­geiz un­be­wußt alle be­gab­ten Na­tu­ren nach die­sen Rich­tun­gen hin­ziehn. Hier wird das Gym­na­si­um vor Al­lem als eine ge­wis­se Staf­fel der Ehre an­ge­sehn: und Al­les was einen Trieb nach der Sphä­re der Re­gie­rung zu fühlt, wird auf der Bahn des Gym­na­si­ums ge­fun­den wer­den. Dies ist eine neue und je­den­falls ori­gi­nel­le Er­schei­nung: der Staat zeigt sich als ein Mys­t­ago­ge der Cul­tur, und wäh­rend er sei­ne Zwe­cke för­dert, zwingt er je­den sei­ner Die­ner, nur mit der Fa­ckel der all­ge­mei­nen Staats­bil­dung in den Hän­den vor ihm zu er­schei­nen: in de­ren un­ru­hi­gem Lich­te sie ihn selbst wie­der er­ken­nen sol­len als das höchs­te Ziel, als die Be­loh­nung al­ler ih­rer Bil­dungs­be­mü­hun­gen.

Das letz­te Phä­no­men nun zwar soll­te sie stut­zig ma­chen, es soll­te sie zum Bei­spiel an jene ver­wand­te all­mäh­lich be­griff­ne Ten­denz ei­ner ehe­mals von Staats­we­gen ge­för­der­ten und auf Staats­zwe­cke es ab­se­hen­den Phi­lo­so­phie er­in­nern, an die Ten­denz der He­gel’­schen Phi­lo­so­phie: ja, es wäre viel­leicht nicht über­trie­ben, zu be­haup­ten, daß in der Un­ter­ord­nung al­ler Bil­dungs­be­stre­bun­gen un­ter Staats­zwe­cke Preu­ßen das prak­tisch ver­wert­h­ba­re Erb­stück der He­gel’­schen Phi­lo­so­phie sich mit Er­folg an­ge­eig­net habe: de­ren Apo­theo­se des Staats al­ler­dings in die­ser Un­ter­ord­nung ih­ren Gip­fel er­reicht.«

»Aber«, frag­te der Beglei­ter, »was mag ein Staat in ei­ner so be­fremd­li­chen Ten­denz für Ab­sich­ten ver­fol­gen? Denn daß er Staats­ab­sich­ten ver­folgt, geht schon dar­aus her­vor, wie jene preu­ßi­schen Schul­zu­stän­de von an­de­ren Staa­ten be­wun­dert, reif­lich er­wo­gen, hier und da nach­ge­ahmt wer­den. Die­se an­de­ren Staa­ten ver­muthen hier of­fen­bar Et­was, was in ähn­li­cher Wei­se der Fort­dau­er und Kraft des Staa­tes zu Nut­ze käme, wie etwa jene be­rühm­te und durch­aus po­pu­lär ge­wor­de­ne all­ge­mei­ne Wehr­pflicht. Dort wo Je­der­mann pe­ri­odisch und mit Stolz die sol­da­ti­sche Uni­form trägt, wo fast Je­der die uni­for­mir­te Staats­cul­tur durch die Gym­na­si­en in sich auf­ge­nom­men hat, möch­ten Über­schwäng­li­che fast von an­ti­ken Zu­stän­den spre­chen, von ei­ner nur im Al­ter­thum ein­mal er­reich­ten All­macht des Staa­tes, den als Blü­the und höchs­ten Zweck des mensch­li­chen Da­seins zu emp­fin­den fast je­der jun­ge Mensch durch In­stink­te und Er­zie­hung an­ge­hal­ten ist.«

»Die­ser Ver­gleich«, sag­te der Phi­lo­soph, »wäre nun frei­lich über­schwäng­lich und wür­de nicht nur auf ei­nem Bei­ne hin­ken. Denn ge­ra­de von die­ser Uti­li­täts­rück­sicht ist das an­ti­ke Staats­we­sen so fern wie mög­lich ge­blie­ben, die Bil­dung nur gel­ten zu las­sen, so­weit sie ihm di­rekt nütz­te und wohl gar die Trie­be zu ver­nich­ten, die sich nicht so­fort zu sei­nen Ab­sich­ten ver­wend­bar er­wie­sen. Der tief­sin­ni­ge Grie­che emp­fand ge­ra­de des­halb ge­gen den Staat je­nes für mo­der­ne Men­schen fast an­stö­ßig star­ke Ge­fühl der Be­wun­de­rung und Dank­bar­keit, weil er er­kann­te, daß ohne eine sol­che Noth- und Schutz­an­stalt auch kein ein­zi­ger Keim der Cul­tur sich ent­wi­ckeln kön­ne, und daß sei­ne gan­ze un­nach­ahm­li­che und für alle Zei­ten ein­zi­ge Cul­tur ge­ra­de un­ter der sorg­sa­men und wei­sen Ob­hut sei­ner Noth- und Schutz­an­stal­ten so üp­pig em­por­ge­wach­sen sei. Nicht Grenzwäch­ter, Re­gu­la­tor, Auf­se­her war für sei­ne Cul­tur der Staat, son­dern der der­be mus­ku­lö­se zum Kampf ge­rüs­te­te Ka­me­rad und Weg­ge­nos­se, der dem be­wun­der­ten, ed­le­ren und gleich­sam über­ir­di­schen Freund das Ge­leit durch rau­he Wirk­lich­kei­ten giebt und da­für des­sen Dank­bar­keit ern­tet. Wenn jetzt da­ge­gen der mo­der­ne Staat eine sol­che schwär­me­n­de Dank­bar­keit in An­spruch nimmt, so ge­schieht dies ge­wiß nicht, weil er sich der rit­ter­li­chen Diens­te ge­gen die höchs­te deut­sche Bil­dung und Kunst be­wußt wäre: denn nach die­ser Sei­te hin ist sei­ne Ver­gan­gen­heit eben­so schmach­voll wie sei­ne Ge­gen­wart: wo­bei man nur an die Art und Wei­se zu den­ken hat, wie das An­den­ken an uns­re großen Dich­ter und Künst­ler in deut­schen Haupt­städ­ten ge­fei­ert wird, und wie die höchs­ten Kunst­plä­ne die­ser deut­schen Meis­ter je von Sei­te die­ses Staa­tes un­ter­stützt wor­den sind.

 

Es muß also eine eig­ne Be­wandt­niß ha­ben, so­wohl mit je­ner Staats­ten­denz, wel­che auf alle Wei­se Das, was hier »Bil­dung« heißt, för­dert, als mit je­ner der­ar­tig ge­for­der­ten Cul­tur, die sich die­ser Staats­ten­denz un­ter­ord­net. Mit dem äch­ten deut­schen Geis­te und ei­ner aus ihm ab­zu­lei­ten­den Bil­dung, wie ich sie dir, mein Freund, mit zö­gern­den Stri­chen hin­zeich­ne­te, be­fin­det sich jene Staats­ten­denz in of­fe­ner oder ver­steck­ter Feh­de: der Geist der Bil­dung, der je­ner Staats­ten­denz wohl­thut und von ihr mit so re­ger Theil­nah­me ge­tra­gen wird, des­sent­we­gen sie ihr Schul­we­sen im Aus­lan­de be­wun­dern läßt, muß dem­nach wohl aus ei­ner Sphä­re stam­men, die mit je­nem äch­ten deut­schen Geis­te sich nicht be­rührt, mit je­nem Geis­te, der aus dem in­ners­ten Ker­ne der deut­schen Re­for­ma­ti­on, der deut­schen Mu­sik, der deut­schen Phi­lo­so­phie so wun­der­bar zu uns re­det, und der, wie ein ed­ler Ver­bann­ter, ge­ra­de von je­ner von Staats­we­gen lu­xu­ri­i­ren­den Bil­dung so gleich­gül­tig, so schnö­de an­ge­sehn wird. Er ist ein Fremd­ling: in ein­sa­mer Trau­er zieht er vor­bei: und dort wird das Rauch­faß vor je­ner Pseu­do­cul­tur ge­schwun­gen, die, un­ter dem Zu­ruf der »ge­bil­de­ten« Leh­rer und Zei­tungs­schrei­ber, sich sei­nen Na­men, sei­ne Wür­den an­ge­maßt hat und mit dem Wor­te »deutsch« ein schmäh­li­ches Spiel treibt. Wozu braucht der Staat jene Über­zahl von Bil­dungs­an­stal­ten, von Bil­dungs­leh­rern? Wozu die­se auf die Brei­te ge­grün­de­te Volks­bil­dung und Volks­auf­klä­rung? Weil der äch­te deut­sche Geist ge­haßt wird, weil man die ari­sto­kra­ti­sche Na­tur der wah­ren Bil­dung fürch­tet, weil man die großen Ein­zel­nen da­durch zur Selbst­ver­ban­nung trei­ben will, daß man bei den Vie­len die Bil­dungs­prä­ten­si­on pflanzt und nährt, weil man der stren­gen und har­ten Zucht der großen Füh­rer da­mit zu ent­lau­fen sucht, daß man der Mas­se ein­re­det, sie wer­de schon selbst den Weg fin­den – un­ter dem Leit­stern des Staa­tes!

Ein neu­es Phä­no­men! Der Staat als Leit­stern der Bil­dung! In­zwi­schen trös­tet mich eins: die­ser deut­sche Geist, den man so be­kämpft, dem man einen bunt be­häng­ten Vi­car sub­sti­tu­irt hat, die­ser Geist ist tap­fer: er wird sich kämp­fend in eine rei­ne­re Pe­ri­ode hin­durch­ret­ten, er wird sich selbst, edel, wie er ist, und sieg­reich, wie er sein wird, eine ge­wis­se mit­lei­di­ge Emp­fin­dung ge­gen das Staats­we­sen be­wah­ren, wenn dies in sei­ner Noth und auf das Äu­ßers­te be­drängt, eine sol­che Pseu­do­cul­tur als Bun­des­ge­nos­sen er­faßt. Denn was weiß man schließ­lich von der Schwie­rig­keit der Auf­ga­be, Men­schen zu re­gie­ren, das heißt un­ter vie­len Mil­lio­nen ei­nes, der großen Mehr­zahl nach, gren­zen­los egois­ti­schen, un­ge­rech­ten, un­bil­li­gen, un­red­li­chen, nei­di­schen, bos­haf­ten und da­bei sehr be­schränk­ten und quer­köp­fi­gen Ge­schlech­tes Ge­setz, Ord­nung, Ruhe und Frie­den auf­recht zu er­hal­ten und da­bei das We­ni­ge, was der Staat selbst als Be­sitz er­wor­ben, fort­wäh­rend ge­gen be­gehr­li­che Nach­barn und tücki­sche Räu­ber zu schüt­zen? Ein so be­dräng­ter Staat greift nach je­dem Bun­des­ge­nos­sen: und wenn ein sol­cher gar, in pom­pö­sen Wen­dun­gen sich selbst an­bie­tet, wenn er ihn, den Staat, etwa, wie dies He­gel gethan, als »ab­so­lut vollen­de­ten ethi­schen Or­ga­nis­mus« be­zeich­net und als Auf­ga­be der Bil­dung für Je­den hin­stellt, den Ort und die Lage aus­fin­dig zu ma­chen, wo er dem Staat am nütz­lichs­ten die­ne – wen wird es Wun­der neh­men, wenn der Staat ei­nem sol­chen sich an­bie­ten­den Bun­des­ge­nos­sen ohne Wei­te­res um den Hals fällt und nun auch mit sei­ner tie­fen bar­ba­ri­schen Stim­me und in vol­ler Über­zeu­gung ihm zu­ruft: »Ja! Du bist die Bil­dung! Du bist die Cul­tur!«

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Vier­ter Vor­trag.

(Ge­hal­ten am 5. März 1872.)

Mei­ne ver­ehr­ten Zu­hö­rer! Nach­dem Sie bis hier­her mei­ner Er­zäh­lung ge­treu­lich ge­folgt sind, und wir ge­mein­sam je­nes ein­sa­me, ent­le­ge­ne, hier und da be­lei­di­gen­de Zwie­ge­spräch des Phi­lo­so­phen und sei­nes Beglei­ters über­wun­den ha­ben, muß ich mir Hoff­nung ma­chen, daß Sie nun auch, wie rüs­ti­ge Schwim­mer, die zwei­te Hälf­te un­se­rer Fahrt zu über­ste­hen Lust ha­ben, zu­mal ich Ih­nen ver­spre­chen kann, daß auf dem klei­nen Ma­rio­net­ten­thea­ter mei­nes Er­leb­nis­ses jetzt ei­ni­ge an­de­re Pup­pen sich zei­gen wer­den und daß über­haupt, falls Sie nur bis hier­her aus­ge­hal­ten ha­ben, die Wel­len der Er­zäh­lung Sie jetzt leich­ter und schnel­ler bis zu Ende tra­gen sol­len. Wir sind näm­lich jetzt bald an ei­ner Wen­dung an­ge­langt: und um so rath­sa­mer möch­te es sein, uns des­sen noch ein­mal, mit kur­z­em Rück­blick, zu ver­si­chern, was wir aus dem so wech­sel­rei­chen Ge­spräch ge­won­nen zu ha­ben mei­nen.

»Blei­be an dei­nem Pos­ten«, so schi­en der Phi­lo­soph sei­nem Beglei­ter zu­zu­ru­fen: »denn du darfst Hoff­nun­gen he­gen. Denn im­mer deut­li­cher zeigt es sich, daß wir kei­ne Bil­dungs­an­stal­ten ha­ben, daß wir sie aber ha­ben müs­sen. Un­se­re Gym­na­si­en, ih­rer An­la­ge nach zu die­sem er­ha­be­nen Zwe­cke prä­sta­bi­lirt, sind ent­we­der zu Pfle­ge­stät­ten ei­ner be­denk­li­chen Cul­tur ge­wor­den, die eine wah­re, das heißt eine ari­sto­kra­ti­sche, auf eine wei­se Aus­wahl der Geis­ter ge­stütz­te Bil­dung mit tie­fem Has­se von sich ab­wehrt: oder sie zie­hen eine mi­kro­lo­gi­sche, dür­re oder je­den­falls der Bil­dung fern­blei­ben­de Ge­lehr­sam­keit auf, de­ren Werth viel­leicht ge­ra­de dar­in be­steht, we­nigs­tens ge­gen die Ver­füh­run­gen je­ner frag­wür­di­gen Cul­tur Auge und Ohr stumpf zu ma­chen«. Der Phi­lo­soph hat­te vor Al­lem sei­nen Beglei­ter auf die selt­sa­me Ent­ar­tung auf­merk­sam ge­macht, die in dem Ker­ne ei­ner Cul­tur ein­ge­tre­ten sein muß, wenn der Staat glau­ben darf, sie zu be­herr­schen, wenn er durch sie Staats­zie­le er­reicht, wenn er, mit ihr ver­bün­det, ge­gen feind­se­li­ge an­de­re Mäch­te eben­so­wohl als ge­gen den Geist an­kämpft, den der Phi­lo­soph den »wahr­haft deut­schen« zu nen­nen wag­te. Die­ser Geist, durch das edels­te Be­dürf­niß an die Grie­chen ge­ket­tet, in schwe­rer Ver­gan­gen­heit als aus­dau­ernd und muthig be­währt, rein und er­ha­ben in sei­nen Zie­len, durch sei­ne Kunst zur höchs­ten Aus­ga­be be­fä­higt, den mo­der­nen Men­schen vom Flu­che des Mo­der­nen zu er­lö­sen – die­ser Geist ist ver­urt­heilt, ab­seits, sei­nem Erbe ent­frem­det zu le­ben: wenn aber sei­ne lang­sa­men Kla­ge­lau­te durch die Wüs­te der Ge­gen­wart schal­len, dann erschrickt die über­häuf­te und bunt­be­häng­te Bil­dungs­ka­ra­wa­ne die­ser Ge­gen­wart. Nicht nur Er­stau­nen, son­dern Schre­cken sol­len wir brin­gen, das war die Mei­nung des Phi­lo­so­phen, nicht scheu da­von­zu­fliehn, son­dern an­zu­grei­fen war sein Rath: be­son­ders aber re­de­te er sei­nem Beglei­ter zu, nicht zu ängst­lich und ab­wä­gend an das In­di­vi­du­um zu den­ken, aus dem, durch einen hö­he­ren In­stinkt, jene Ab­nei­gung ge­gen die jet­zi­ge Bar­ba­rei her­vor­strömt. »Mag es zu Grun­de gehn: der py­thi­sche Gott war nicht ver­le­gen dar­um, einen neu­en Drei­fuß, eine zwei­te Py­thia zu fin­den, so lan­ge über­haupt der mys­ti­sche Dampf noch aus der Tie­fe quoll«.