Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Als ich mich rasch um­wen­de­te, blick­te ich in das er­zürn­te Ge­sicht ei­nes al­ten Man­nes, wäh­rend ich zu­gleich fühl­te, wie ein kräf­ti­ger Hund an mei­nem Rücken em­por­sprang. Ehe wir – näm­lich ich und mein eben­falls durch einen zwei­ten, et­was jün­ge­ren Mann ge­stör­ter Ka­me­rad – uns zu ir­gend ei­nem Wor­te der Ver­wun­de­rung ge­sam­melt hat­ten, er­scholl be­reits in dro­hen­dem und hef­ti­gem Tone die Rede des Grei­ses. »Nein! Nein!«, rief er uns zu, »hier wird nicht du­el­lirt! Am we­nigs­ten dürft ihr es, ihr stu­die­ren­den Jüng­lin­ge! Fort mit den Pis­to­len! Be­ru­higt euch, ver­söhnt euch, reicht euch die Hän­de! Wie? Das wäre das Salz der Erde, die In­tel­li­genz der Zu­kunft, der Same un­se­rer Hoff­nun­gen – und das kann sich nicht ein­mal von dem ver­rück­ten Ehren­ka­te­chis­mus und sei­nen Fau­st­rechts­sat­zun­gen frei­ma­chen? Eu­rem Her­zen will ich da­bei nicht zu nahe tre­ten, aber eu­ren Köp­fen macht es we­nig Ehre. Ihr, de­ren Ju­gend die Spra­che und Weis­heit Hel­las’ und La­ti­um’s zur Pfle­ge­rin er­hielt, und auf de­ren jun­gen Geist man die Licht­strah­len der Wei­sen und Ed­len des schö­nen Al­ter­thums früh­zei­tig fal­len zu las­sen die un­schätz­ba­re Sor­ge ge­tra­gen hat – ihr wollt da­mit an­fan­gen, daß ihr den Co­dex der rit­ter­li­chen Ehre, das heißt den Co­dex des Un­ver­stands und der Bru­ta­li­tät zur Richt­schnur eu­res Wan­dels macht? – Seht ihn doch ein­mal recht an, bringt ihn euch auf deut­li­che Be­grif­fe, ent­hüllt sei­ne er­bärm­li­che Be­schränkt­heit und laßt ihn den Prüf­stein nicht eu­res Hei­zens, aber eu­res Ver­stan­des sein. Ver­wirft die­ser ihn jetzt nicht, so ist euer Kopf nicht ge­eig­net, in dem Fel­de zu ar­bei­ten, wo eine ener­gi­sche Urt­heils­kraft, wel­che die Ban­de des Vor­urt­heils leicht zer­reißt, ein rich­tig an­spre­chen­der Ver­stand, der Wah­res und Fal­sches selbst dort, wo der Un­ter­schied tief ver­bor­gen liegt und nicht wie hier mit Hän­den zu grei­fen ist, rein zu son­dern ver­mag, die nothwen­di­gen Er­for­der­nis­se sind: in die­sem Fal­le also, mei­ne Gu­ten, sucht auf eine an­de­re ehr­li­che Wei­se durch die Welt zu kom­men, wer­det Sol­da­ten oder ler­net ein Hand­werk, das hat einen gol­de­nen Bo­den.«

Auf die­se gro­be, ob­schon wah­re Rede ant­wor­te­ten wir er­regt, in­dem wir uns im­mer ge­gen­sei­tig in’s Wort fie­len: »Ers­tens ir­ren Sie in der Haupt­sa­che; denn wir sind kei­nes­falls da, um uns zu du­el­li­ren, son­dern um uns im Pis­to­len­schie­ßen zu üben. Zwei­tens schei­nen Sie gar nicht zu wis­sen, wie es bei ei­nem Duell zu­geht: den­ken Sie, daß wir uns, wie zwei We­ge­la­ge­rer, in die­ser Ein­sam­keit ein­an­der ge­gen­über­stel­len wür­den, ohne Se­kun­dan­ten, ohne Ärz­te u. s. w.? Drit­tens end­lich ha­ben wir in der Duell­fra­ge – ein Je­der für sich – un­se­ren eig­nen Stand­punkt und wol­len nicht durch Be­leh­run­gen Ih­rer Art über­fal­len und er­schreckt wer­den.«

Die­se ge­wiß nicht höf­li­che Ent­geg­nung hat­te auf den al­ten Mann einen üb­len Ein­druck ge­macht; wäh­rend er zu­erst, als er merk­te, daß es sich um kein Duell han­de­le, freund­li­cher auf uns hin­blick­te, ver­droß ihn uns­re schließ­li­che Wen­dung, so daß er brumm­te; und als wir gar von un­se­ren eig­nen Stand­punk­ten zu re­den wag­ten, faß­te er hef­tig sei­nen Beglei­ter, dreh­te sich rasch um und rief uns bit­ter nach: »Man muß nicht nur Stand­punk­te, son­dern auch Ge­dan­ken ha­ben!« Und, rief der Beglei­ter da­zwi­schen: »Ehr­furcht, selbst wenn ein sol­cher Mann ein­mal irrt!«

In­zwi­schen hat­te aber mein Freund be­reits wie­der ge­la­den und schoß von Neu­em, in­dem er: »Vor­sicht!« rief, nach dem Pen­ta­gramm. Dies so­for­ti­ge Knat­tern hin­ter sei­nem Rücken mach­te den al­ten Mann wüthend; noch ein­mal kehr­te er sich um, sah mei­nen Freund mit Haß an und sag­te dann zu sei­nem jün­ge­ren Beglei­ter mit wei­che­rer Stim­me: »Was sol­len wir thun? Die­se jun­gen Män­ner rui­ni­ren mich durch ihre Ex­plo­sio­nen.« – »Sie müs­sen näm­lich wis­sen«, hub der Jün­ge­re zu uns ge­wen­det an, »daß Ihre ex­plo­di­ren­den Ver­gnü­gun­gen in dem jet­zi­gen Fal­le ein wah­res At­ten­tat ge­gen die Phi­lo­so­phie sind. Be­mer­ken Sie die­sen ehr­wür­di­gen Mann, – er ist im Stan­de, Sie zu bit­ten, hier nicht zu schie­ßen. Und wenn ein sol­cher Mann bit­tet –« »Nun so thut man es doch wohl«, un­ter­brach ihn der Greis und sah uns streng an.

Im Grun­de wuß­ten wir nicht recht, was wir von ei­nem sol­chen Vor­gan­ge zu hal­ten hat­ten; wir wa­ren uns nicht deut­lich be­wußt, was un­se­re et­was lär­men­den Ver­gnü­gun­gen mit der Phi­lo­so­phie ge­mein hät­ten, wir sa­hen eben­so we­nig ein, wes­halb wir, aus un­ver­ständ­li­chen Rück­sich­ten der Höf­lich­keit, un­sern Schieß­platz auf­ge­ben soll­ten, und mö­gen in die­sem Au­gen­bli­cke recht un­schlüs­sig und ver­dros­sen da­ge­stan­den ha­ben. Der Beglei­ter sah uns­re au­gen­blick­li­che Be­trof­fen­heit und er­klär­te uns den Her­gang. »Wir sind ge­nö­thigt«, sag­te er, »hier in Ih­rer nächs­ten Nähe ein paar Stun­den zu war­ten, wir ha­ben eine Verab­re­dung, nach der ein be­deu­ten­der Freund die­ses be­deu­ten­den Man­nes noch die­sen Abend hier ein­tref­fen will; und zwar ha­ben wir einen ru­hi­gen Platz, mit ei­ni­gen Bän­ken, hier am Ge­hölz, für die­se Zu­sam­men­kunft ge­wählt. Es ist nichts An­ge­neh­mes, wenn wir hier durch Ihre be­nach­bar­ten Schieß­übun­gen fort­wäh­rend auf­ge­schreckt wer­den; es ist für Ihre eig­ne Emp­fin­dung, wie wir vor­aus­set­zen, un­mög­lich, hier wei­ter zu schie­ßen, wenn Sie hö­ren, daß es ei­ner uns­rer ers­ten Phi­lo­so­phen ist, der die­se ru­hi­ge und ab­ge­le­ge­ne Ein­sam­keit für ein Wie­der­se­hen mit sei­nem Freun­de aus­ge­sucht hat.« –

Die­se Aus­ein­an­der­set­zung be­un­ru­hig­te uns noch mehr: wir sa­hen jetzt eine noch grö­ße­re Ge­fahr, als nur den Ver­lust un­se­res Schieß­plat­zes, auf uns zu­kom­men und frag­ten has­tig: »Wo ist die­ser Ru­he­platz? Doch nicht hier links im Ge­hölz?«

»Gera­de die­ser ist es.«

»Aber die­ser Platz ge­hört heu­te Abend uns Bei­den«, rief mein Freund da­zwi­schen. »Wir müs­sen die­sen Platz ha­ben« rie­fen wir Bei­de.

Uns­re längst be­schlos­se­ne Fest­fei­er war uns au­gen­blick­lich wich­ti­ger als alle Phi­lo­so­phen der Welt, und wir drück­ten so leb­haft und er­regt uns­re Emp­fin­dung aus, daß wir uns, mit un­serm an sich un­ver­ständ­li­chen, aber so drin­gend ge­äu­ßer­ten Ver­lan­gen, viel­leicht et­was lä­cher­lich aus­nah­men. We­nigs­tens sa­hen uns uns­re phi­lo­so­phi­schen Stö­ren­frie­de lä­chelnd und fra­gend an, als ob wir nun, zu uns­rer Ent­schul­di­gung, re­den müß­ten. Aber wir schwie­gen; denn wir woll­ten am we­nigs­ten uns ver­rat­hen.

Und so stan­den sich die bei­den Grup­pen stumm ge­gen­über, wäh­rend über den Wip­feln der Bäu­me ein weit­hin aus­ge­goss­nes Aben­d­roth lag. Der Phi­lo­soph sah nach der Son­ne zu, der Beglei­ter nach dem Phi­lo­so­phen und wir Bei­de nach un­serm Ver­steck im Wal­de, das für uns ge­ra­de heu­te so ge­fähr­det sein soll­te. Eine et­was grim­mi­ge Emp­fin­dung über­kam uns. Was ist alle Phi­lo­so­phie, dach­ten wir, wenn sie hin­dert, für sich zu sein und ein­sam mit Freun­den sich zu freu­en, wenn sie uns ab­hält, selbst Phi­lo­so­phen zu wer­den. Denn wir glaub­ten, uns­re Erin­ne­rungs­fei­er sei recht ei­gent­lich phi­lo­so­phi­scher Na­tur: bei ihr wünsch­ten wir für uns­re wei­te­re Exis­tenz erns­te Vor­sät­ze und Plä­ne zu fas­sen; in ein­sa­mem Nach­den­ken hoff­ten wir Et­was zu fin­den, was in ähn­li­cher Wei­se uns­re in­ners­te See­le in der Zu­kunft bil­den und be­frie­di­gen soll­te, wie jene ehe­ma­li­ge pro­duk­ti­ve Thä­tig­keit der frü­he­ren Jüng­lings­jah­re. Gera­de dar­in soll­te je­ner ei­gent­li­che Wei­he­akt be­ste­hen; Nichts war be­schlos­sen als ge­ra­de dies – ein­sam zu sein, nach­denk­lich da­zu­sit­zen, so wie da­mals vor fünf Jah­ren, als wir uns zu je­nem Ent­schlus­se ge­mein­sam sam­mel­ten. Es soll­te eine schwei­gen­de Fei­er­lich­keit sein, ganz Erin­ne­rung, ganz Zu­kunft – die Ge­gen­wart nichts als ein Ge­dan­ken­strich da­zwi­schen. Und nun trat ein feind­li­ches Schick­sal in un­sern Zau­ber­kreis – und wir wuß­ten nicht, wie es zu ent­fer­nen sei; in wir fühl­ten, bei der Selt­sam­keit des gan­zen Zu­sam­men­tref­fens et­was Ge­heim­niß­voll-An­rei­zen­des.

Wäh­rend wir so stumm, in feind­se­li­ge Grup­pen ge­schie­den, ge­rau­me Zeit bei ein­an­der stan­den, die Abend­wol­ken über uns sich im­mer mehr rö­the­ten und der Abend im­mer ru­hi­ger und mil­der wur­de, wäh­rend wir gleich­sam das re­gel­mä­ßi­ge Ath­men der Na­tur be­lausch­ten, wie sie zu­frie­den über ihr Kunst­werk, den voll­komm­nen Tag, ihr Ta­ge­werk be­schließt – riß sich mit­ten durch die däm­mern­de Stil­le ein un­ge­stü­mer, ver­worr­ner Ju­bel­ruf, vom Rhei­ne her her­auf­klin­gend; vie­le Stim­men wur­den in der Fer­ne laut – das muß­ten uns­re stu­den­ti­schen Ge­fähr­ten sein, die wohl jetzt auf dem Rhei­ne in Käh­nen her­um­fah­ren moch­ten. Wir dach­ten dar­an, daß wir ver­mißt wür­den und ver­miß­ten selbst Et­was: fast gleich­zei­tig er­hob ich mit mei­nem Freund das Pis­tol: das Echo warf uns­re Schüs­se zu­rück: und mit ihm zu­sam­men kam auch schon ein wohl­be­kann­tes Ge­schrei, als Er­ken­nungs­zei­chen, aus der Tie­fe her­auf. Denn wir wa­ren bei uns­rer Ver­bin­dung als pas­sio­nir­te Pis­to­len­schüt­zen eben­so be­kannt als be­rüch­tigt. Im glei­chen Au­gen­bli­cke aber emp­fan­den wir un­ser Be­neh­men als die höchs­te Un­höf­lich­keit ge­gen die stum­men phi­lo­so­phi­schen An­kömm­lin­ge, die in ru­hi­ger Be­trach­tung bis jetzt da­ge­stan­den hat­ten und bei un­se­rem Dop­pel­schuß er­schreckt bei Sei­te ge­sprun­gen wa­ren. Wir tra­ten rasch auf sie zu und rie­fen ab­wech­selnd: »Ver­zei­hen Sie uns. Jetzt wur­de zum letz­ten Male ge­schos­sen, und das galt un­se­ren Ka­me­ra­den auf dem Rhein. Die ha­ben es auch ver­stan­den, Hö­ren Sie? – Wenn Sie durch­aus je­nen Ru­he­platz hier links im Ge­büsch ha­ben wol­len, so müs­sen Sie we­nigs­tens ge­stat­ten, daß auch wir dort uns nie­der­las­sen. Es giebt meh­re­re Bän­ke dort: wir stö­ren Sie nicht: wir sit­zen ru­hig und wer­den schwei­gen: aber sie­ben Uhr ist be­reits vor­bei und wir müs­sen jetzt dort­hin.«

 

»Das klingt ge­heim­nis­vol­ler als es ist«, setz­te ich nach ei­ner Pau­se hin­zu? »es giebt un­ter uns ein erns­tes Ver­spre­chen, die­se nächs­te Stun­de dort zu ver­brin­gen; es giebt auch Grün­de da­für. Die Stät­te ist für uns durch eine gute Erin­ne­rung ge­hei­ligt, sie soll uns auch eine gute Zu­kunft in­au­gur­i­ren. Wir wer­den uns auch des­halb be­mü­hen, bei Ih­nen kei­ne schlech­te Erin­ne­rung zu hin­ter­las­sen – nach­dem wir Sie doch mehr­fach be­un­ru­higt und er­schreckt ha­ben.«

Der Phi­lo­soph schwieg; sein jün­ge­rer Ge­fähr­te aber sag­te: »Uns­re Ver­spre­chun­gen und Verab­re­dun­gen bin­den uns lei­der in glei­cher Wei­se, so­wohl für den­sel­ben Ort als für die­sel­ben Stun­den. Wir ha­ben nun die Wahl, ob wir ir­gend ein Schick­sal oder einen Ko­bold für das Zu­sam­men­tref­fen ver­ant­wort­lich ma­chen wol­len.«

»Im üb­ri­gen, mein Freund«, sag­te der Phi­lo­soph be­gü­tigt, »bin ich mit un­sern pis­to­len­schie­ßen­den Jüng­lin­gen zu­fried­ner als vor­dem. Hast du be­merkt, wie ru­hig sie vor­hin wa­ren, als wir nach der Son­ne sa­hen? Sie spra­chen nicht, sie rauch­ten nicht, sie stan­den still – ich glau­be fast, sie ha­ben nach­ge­dacht.«

Und mit ra­scher Wen­dung zu uns: » Ha­ben Sie nach­ge­dacht? Das sa­gen Sie mir, wäh­rend wir zu­sam­men nach un­serm ge­mein­sa­men Ru­he­platz ge­hen.« Wir mach­ten jetzt zu­sam­men ei­ni­ge Schrit­te und ka­men ab­wärts klim­mend in die war­me duns­ti­ge At­mo­sphä­re des Wal­des, in dem es schon dunk­ler war. Im Ge­hen er­zähl­te mein Freund dem Phi­lo­so­phen un­ver­hoh­len sei­ne Ge­dan­ken: wie er ge­fürch­tet habe, daß heu­te zum ers­ten Male der Phi­lo­soph ihn am Phi­lo­so­phien hin­dern wer­de.

Der Greis lach­te. »Wie? Sie fürch­ten, daß der Phi­lo­soph Sie am Phi­lo­so­phi­ren hin­dern wer­de? So et­was mag schon vor­kom­men: und Sie ha­ben es noch nicht er­lebt? Ha­ben Sie auf Ih­rer Uni­ver­si­tät kei­ne Er­fah­run­gen ge­macht? Und Sie hö­ren doch die phi­lo­so­phi­schen Vor­le­sun­gen?« –

Die­se Fra­ge war für uns un­be­quem; denn es war durch­aus nichts da­von der Fall ge­we­sen. Auch hat­ten wir da­mals noch den harm­lo­sen Glau­ben, daß Je­der, der auf ei­ner Uni­ver­si­tät Amt und Wür­de ei­nes Phi­lo­so­phen be­sit­ze, auch ein Phi­lo­soph sei: wir wa­ren eben ohne Er­fah­run­gen und schlecht be­lehrt. Wir sag­ten ehr­lich, daß wir noch kei­ne phi­lo­so­phi­schen Col­le­gi­en ge­hört hät­ten, aber ge­wiß das Ver­säum­te noch ein­mal nach­ho­len wür­den.

»Was nen­nen Sie nun aber,« frag­te er, »Ihr Phi­lo­so­phi­ren?« – »Wir sind«, sag­te ich, »um eine De­fi­ni­ti­on ver­le­gen. Doch mei­nen wir wohl un­ge­fähr so viel, daß wir uns ernst­lich be­mü­hen wol­len, nach­zu­den­ken, wie wir wohl am bes­ten ge­bil­de­te Men­schen wer­den.« »Das ist viel und we­nig«, brumm­te der Phi­lo­soph, »den­ken Sie nur recht dar­über nach! Hier sind uns­re Bän­ke: wir wol­len uns recht weit aus­ein­an­der­set­zen: ich will Sie ja nicht stö­ren nach­zu­den­ken, wie Sie zu ge­bil­de­ten Men­schen wer­den. Ich wün­sche Ih­nen Glück und – Stand­punk­te, wie in Ih­rer Duell­fra­ge, rech­te eig­ne na­gel­neue ge­bil­de­te Stand­punk­te. Der Phi­lo­soph will Sie nicht am Phi­lo­so­phi­ren hin­dern: er­schre­cken Sie ihn nur nicht durch Ihre Pis­to­len. Ma­chen Sie es heu­te ein­mal den jun­gen Py­tha­go­re­ern nach: die­se muß­ten fünf Jah­re schwei­gen, als Die­ner ei­ner rech­ten Phi­lo­so­phie – viel­leicht brin­gen Sie es für fünf Vier­tel­stun­den auch zu Stan­de, im Diens­te Ih­rer eig­nen zu­künf­ti­gen Bil­dung, mit der Sie sich ja so an­ge­le­gent­lich be­fas­sen.«

Wir wa­ren an un­se­rem Zie­le: uns­re Erin­ne­rungs­fei­er be­gann. Wie­der wie da­mals vor fünf Jah­ren schwamm der Rhein in ei­nem zar­ten Duns­te, wie­der wie da­mals leuch­te­te der Him­mel, duf­te­te der Wald. Die ent­le­gens­te Ecke ei­ner ent­fern­ten Bank nahm uns auf; hier sa­ßen wir fast wie ver­steckt und so, daß we­der der Phi­lo­soph noch sein Beglei­ter uns in’s Ge­sicht sehn konn­ten. Wir wa­ren al­lein; wenn die Stim­me des Phi­lo­so­phen ge­dämpft zu uns her­über­kam, war sie in­zwi­schen un­ter der ra­scheln­den Be­we­gung des Lau­bes, un­ter dem sum­men­den Geräusch ei­nes tau­send­fäl­ti­gen wim­meln­den Da­seins in der Höhe des Wal­des fast zu ei­ner Na­tur­mu­sik ge­wor­den; sie wirk­te als Laut, wie eine fer­ne ein­tö­ni­ge Kla­ge. Wir wa­ren wirk­lich un­ge­stört.

Und so ver­gieng eine Zeit, in der das Aben­d­roth im­mer mehr ver­blaß­te, und die Erin­ne­rung an uns­re ju­gend­li­che Bil­dungs­un­ter­neh­mung im­mer deut­li­cher vor uns auf­stieg. Es schi­en uns so, als ob wir je­nem son­der­ba­ren Ve­rein den höchs­ten Dank schul­dig sei­en: er war uns nicht etwa nur ein Supp­le­ment für uns­re Gym­na­si­al­stu­di­en ge­we­sen, son­dern ge­ra­de­zu die ei­gent­li­che frucht­brin­gen­de Ge­sell­schaft, in de­ren Rah­men wir auch un­ser Gym­na­si­um mit hin­ein­ge­zeich­net hat­ten, als ein ein­zel­nes Mit­tel im Diens­te un­se­res all­ge­mei­nen Stre­bens nach Bil­dung.

Wir wa­ren uns be­wußt, daß wir da­mals an einen so­ge­nann­ten Be­ruf ins­ge­sammt nie ge­dacht hat­ten, Dank un­se­rem Verei­ne. Die nur zu häu­fi­ge Aus­beu­tung die­ser Jah­re durch den Staat, der sich mög­lichst bald brauch­ba­re Be­am­te her­an­ziehn und sich ih­rer un­be­ding­ten Füg­sam­keit durch über­mä­ßig an­stren­gen­de Exa­mi­na ver­si­chern will, war durch­aus von uns­rer Bil­dung in wei­tes­ter Ent­fer­nung ge­blie­ben; und wie we­nig ir­gend ein Nütz­lich­keits­sinn, ir­gend eine Ab­sicht auf ra­sche Be­för­de­rung und schnel­le Lauf­bahn uns be­stimmt hat­te, lag für Je­den von uns in der heu­te ein­mal tröst­lich er­schei­nen­den That­sa­che, daß wir auch jetzt Bei­de nicht recht wuß­ten, was wir wer­den soll­ten, ja daß wir uns um die­sen Punkt gar nicht be­küm­mer­ten. Die­se glück­li­che Un­be­küm­mert­heit hat­te un­ser Ve­rein in uns ge­nährt; ge­ra­de für sie wa­ren wir bei sei­nem Erin­ne­rungs­fes­te recht von Her­zen dank­bar. Ich habe schon ein­mal ge­sagt, daß ein sol­ches zweck­lo­ses Sich-Be­ha­gen­las­sen am Mo­ment, ein sol­ches Sich-Wie­gen auf dem Schau­kel­stuhl des Au­gen­blicks für uns­re al­lem Un­nüt­zen ab­hol­de Ge­gen­wart fast un­glaub­wür­dig, je­den­falls ta­delns­werth er­schei­nen muß. Wie un­nütz wa­ren wir! Und wie stolz wa­ren wir dar­auf, so un­nütz zu sein! Wir hät­ten mit ein­an­der uns um den Ruhm strei­ten kön­nen, wer von Bei­den der Un­nüt­ze­re sei. Wir woll­ten Nichts be­deu­ten, Nichts ver­tre­ten, Nichts bezwe­cken, wir woll­ten ohne Zu­kunft sein, nichts als be­quem auf der Schwel­le der Ge­gen­wart hin­ge­streck­te Nichts­nut­ze – und wir wa­ren es auch. Heil uns!

– So näm­lich er­schi­en es uns da­mals, mei­ne ge­ehr­ten Zu­hö­rer! –

Die­sen wei­he­vol­len Selbst­be­trach­tun­gen hin­ge­ge­ben, war ich un­ge­fähr im Be­griff, mir nun auch die Fra­ge nach der Zu­kunft un­se­rer Bil­dungs­an­stalt in die­sem selbst­zu­fried­nen Tone zu be­ant­wor­ten, als mir es all­mäh­lich schi­en, daß die von der ent­fern­ten Phi­lo­so­phen­bank her tö­nen­de Na­tur­mu­sik ih­ren bis­he­ri­gen Cha­rak­ter ver­lö­re und viel ein­dring­li­cher und ar­ti­ku­lir­ter zu uns her­über­käme. Plötz­lich wur­de ich mir be­wußt, daß ich zu­hör­te, daß ich lausch­te, daß ich mit Lei­den­schaft lausch­te, mit vor­ge­streck­tem Ohre zu­hör­te. Ich stieß mei­nen viel­leicht et­was er­mü­de­ten Freund an und sag­te ihm lei­se: »Schlaf nicht! Es giebt dort für uns Et­was zu ler­nen. Es paßt auf uns, wenn es uns auch nicht gilt.«

Ich hör­te näm­lich, wie der jun­ge Beglei­ter sich ziem­lich er­regt vert­hei­dig­te, wie da­ge­gen der Phi­lo­soph mit im­mer kräf­ti­ge­rem Klan­ge der Stim­me ihn an­griff. »Du bist un­ver­än­dert,« rief er ihm zu, »lei­der un­ver­än­dert, mir ist es un­glaub­lich, wie du noch der­sel­be bist, wie vor sie­ben Jah­ren, wo ich dich zum letz­ten Male sah, wo ich dich mit zwei­fel­haf­ten Hoff­nun­gen entließ. Dei­ne in­zwi­schen über­ge­häng­te mo­der­ne Bil­dungs­haut muß ich dir lei­der wie­der, nicht zu mei­nem Ver­gnü­gen, ab­ziehn – und was fin­de ich dar­un­ter? Zwar den glei­chen un­ver­än­der­li­chen »in­tel­le­gi­beln« Cha­rak­ter, wie ihn Kant ver­steht, aber lei­der auch den un­ver­än­der­ten in­tel­lek­tu­el­len – was wahr­schein­lich auch eine No­thwen­dig­keit, aber eine we­nig tröst­li­che ist. Ich fra­ge mich, wozu ich als Phi­lo­soph ge­lebt habe, wenn gan­ze Jah­re, die du in mei­nem Um­gang ver­lebt hast, bei nicht stump­fem Geis­te und wirk­li­cher Lern­be­gier­de, doch kei­ne deut­li­che­ren Im­pres­sio­nen zu­rück­ge­las­sen ha­ben! Jetzt be­nimmst du dich, als hät­test du noch nie, in Be­treff al­ler Bil­dung, den Car­di­nal­satz ge­hört, auf den ich doch so oft, in un­se­rem frü­he­ren Ver­kehr, zu­rück­ge­kom­men bin. Nun, wel­ches war der Satz?«

»Ich er­in­ne­re mich,« ant­wor­te­te der ge­schol­te­ne Schü­ler; »Sie pfleg­ten zu sa­gen, es wür­de kein Mensch nach Bil­dung stre­ben, wenn er wüß­te, wie un­glaub­lich klein die Zahl der wirk­lich Ge­bil­de­ten zu­letzt ist und über­haupt sein kann. Und trotz­dem sei auch die­se klei­ne An­zahl von wahr­haft Ge­bil­de­ten nicht ein­mal mög­lich, wenn nicht eine große Mas­se, im Grun­de ge­gen ihre Na­tur, und nur durch eine ver­lo­cken­de Täu­schung be­stimmt, sich mit der Bil­dung ein­lie­ße. Man dür­fe des­halb von je­ner lä­cher­li­chen Im­pro­por­tio­na­li­tät zwi­schen der Zahl der wahr­haft Ge­bil­de­ten und dem un­ge­heu­er großen Bil­dungs­ap­pa­rat nichts öf­fent­lich ver­rat­hen; hier ste­cke das ei­gent­li­che Bil­dungs­ge­heim­niß: daß näm­lich zahl­lo­se Men­schen schein­bar für sich, im Grun­de nur, um ei­ni­ge we­ni­ge Men­schen mög­lich zu ma­chen, nach Bil­dung rin­gen, für die Bil­dung ar­bei­ten.«

»Dies ist der Satz,« sag­te der Phi­lo­soph – »und doch konn­test du so sei­nen wah­ren Sinn ver­ges­sen, um zu glau­ben, sel­ber ei­ner je­ner We­ni­gen zu sein? Da­ran hast du ge­dacht – ich mer­ke es wohl. Das aber ge­hört zu der nichts­wür­di­gen Si­gna­tur un­se­rer ge­bil­de­ten Ge­gen­wart. Man de­mo­kra­ti­sirt die Rech­te des Ge­ni­us, um der eig­nen Bil­dungs­ar­beit und Bil­dungs­noth ent­ho­ben zu sein. Es will sich ein Je­der wo­mög­lich im Schat­ten des Bau­mes nie­der­las­sen, den der Ge­ni­us ge­pflanzt hat. Man möch­te sich je­ner schwe­ren No­thwen­dig­keit ent­ziehn, für den Ge­ni­us ar­bei­ten zu müs­sen, um sei­ne Er­zeu­gung mög­lich zu ma­chen. Wie? Du bist zu stolz, ein Leh­rer sein zu wol­len? Du ver­ach­test die sich he­randrän­gen­de Men­ge der Ler­nen­den? Du sprichst mit Ge­ring­schät­zung über die Auf­ga­be des Leh­rers? Und möch­test dann, in ei­ner feind­se­li­gen Ab­gren­zung von je­ner Men­ge, ein ein­sa­mes Le­ben füh­ren, mich und mei­ne Le­bens­wei­se co­pi­rend? Du glaubst im Sprun­ge so­fort Das er­rei­chen zu kön­nen, was ich, nach lan­gem hart­nä­cki­gem Kamp­fe, um als Phi­lo­soph über­haupt nur le­ben zu kön­nen, mir end­lich er­rin­gen muß­te? Und du fürch­test nicht, daß die Ein­sam­keit sich an dir rä­chen wer­de? Ver­su­che es nur, ein Bil­dungs­ein­sied­ler zu sein – man muß einen über­schüs­si­gen Reicht­hum ha­ben, um von sich aus für Alle le­ben zu kön­nen! – Son­der­ba­re Jün­ger! Gera­de im­mer das Schwers­te und Höchs­te, was eben nur dem Meis­ter mög­lich ge­wor­den ist, glau­ben sie nach­ma­chen zu müs­sen: wäh­rend ge­ra­de sie wis­sen soll­ten, wie schwer und ge­fähr­lich dies sei und wie vie­le treff­li­che Be­ga­bun­gen noch dar­an zu Grun­de ge­hen könn­ten!«

»Ich will Ih­nen Nichts ver­ber­gen, mein Leh­rer,« sag­te hier der Beglei­ter. »Ich habe zu viel von Ih­nen ge­hört und bin zu lan­ge in Ih­rer Nähe ge­we­sen, um mich un­se­rem jet­zi­gen Bil­dungs- und Er­zie­hungs­we­sen noch mit Haut und Haar hin­ge­ben zu kön­nen. Ich emp­fin­de zu deut­lich jene heil­lo­sen Irr­t­hü­mer und Miß­stän­de, auf die Sie mit dem Fin­ger zu zei­gen pfleg­ten – und doch mer­ke ich we­nig von der Kraft in mir, mit der ich, bei tap­fe­rem Kamp­fe, Er­fol­ge ha­ben wür­de. Eine all­ge­mei­ne Muth­lo­sig­keit über­kam mich; die Flucht in die Ein­sam­keit war nicht Hoch­muth, nicht Über­he­bung. Ich will Ih­nen gern be­schrei­ben, wel­che Si­gna­tur ich an den jetzt so leb­haft und zu­dring­lich sich be­we­gen­den Bil­dungs- und Er­zie­hungs­fra­gen vor­ge­fun­den habe. Es schi­en mir, daß ich zwei Haup­trich­tun­gen un­ter­schei­den müs­se, – zwei schein­bar ent­ge­gen­ge­setz­te, in ih­rem Wir­ken gleich ver­derb­li­che, in ih­ren Re­sul­ta­ten end­lich zu­sam­men­flie­ßen­de Strö­mun­gen be­herr­schen die Ge­gen­wart uns­rer Bil­dungs­an­stal­ten: ein­mal der Trieb nach mög­lichs­ter Er­wei­te­rung und Ver­brei­tung der Bil­dung, dann der Trieb nach Ver­rin­ge­rung und Ab­schwä­chung der Bil­dung selbst. Die Bil­dung soll aus ver­schie­de­nen Grün­den in die al­ler­wei­tes­ten Krei­se ge­tra­gen wer­den – das ver­langt die eine Ten­denz. Die an­de­re mu­thet da­ge­gen der Bil­dung selbst zu, ihre höchs­ten edels­ten und er­ha­bens­ten An­sprü­che auf­zu­ge­ben und sich im Diens­te ir­gend ei­ner an­dern Le­bens­form, etwa des Staa­tes, zu be­schei­den.

 

Ich glau­be be­merkt zu ha­ben, von wel­cher Sei­te aus der Ruf nach mög­lichs­ter Er­wei­te­rung und Aus­brei­tung der Bil­dung am deut­lichs­ten er­schallt. Die­se Er­wei­te­rung ge­hört un­ter die be­lieb­ten na­tio­nal­öko­no­mi­schen Dog­men der Ge­gen­wart. Mög­lichst viel Er­kennt­nis; und Bil­dung – da­her mög­lichst viel Pro­duk­ti­on und Be­dürf­nis; – da­her mög­lichst viel Glück: – so lau­tet etwa die For­mel. Hier ha­ben wir den Nut­zen als Ziel und Zweck der Bil­dung, noch ge­nau­er den Er­werb, den mög­lichst großen Geld­ge­winn. Die Bil­dung wür­de un­ge­fähr von die­ser Rich­tung aus de­fi­nirt wer­den als die Ein­sicht mit der man sich »auf der Höhe sei­ner Zeit« hält, mit der man alle Wege kennt, auf de­nen am leich­tes­ten Geld ge­macht wird, mit der man alle Mit­tel be­herrscht, durch die der Ver­kehr zwi­schen Men­schen und Völ­kern geht. Die ei­gent­li­che Bil­dungs­auf­ga­be wäre dem­nach, mög­lichst »cou­ran­te« Men­schen zu bil­den, in der Art Des­sen, was man an ei­ner Mün­ze »cou­rant« nennt. Je mehr es sol­che cou­ran­te Men­schen gäbe, um so glück­li­cher sei ein Volk: und ge­ra­de Das müs­se die Ab­sicht der mo­der­nen Bil­dungs­in­sti­tu­te sein, Je­den so weit zu för­dern, als es in sei­ner Na­tur liegt »cou­rant« zu wer­den, Je­den der­ar­tig aus­zu­bil­den, daß er von sei­nem Maaß von Er­kennt­nis; und Wis­sen das größt­mög­li­che Maaß von Glück und Ge­winn hat. Ein Je­der müs­se sich selbst ge­nau ta­xi­ren kön­nen, er müs­se wis­sen, wie viel er vom Le­ben zu for­dern habe. Der »Bund von In­tel­li­genz und Be­sitz«, den man nach die­sen An­schau­un­gen be­haup­tet, gilt ge­ra­de­zu als eine sitt­li­che An­for­de­rung. Jede Bil­dung ist hier ver­haßt, die ein­sam macht, die über Geld und Er­werb hin­aus Zie­le steckt, die viel Zeit ver­braucht: man pflegt wohl sol­che an­de­re Bil­dungs­ten­den­zen als »hö­he­ren Ego­is­mus«, als »un­sitt­li­chen Bil­dungs­epi­ku­reis­mus« ab­zut­hun. Nach der hier gel­ten­den Sitt­lich­keit wird frei­lich et­was Um­ge­kehr­tes ver­langt, näm­lich eine ra­sche Bil­dung, um schnell ein geld­ver­die­nen­des We­sen wer­den zu kön­nen, und doch eine so gründ­li­che Bil­dung, um ein sehr viel Geld ver­die­nen­des We­sen wer­den zu kön­nen. Dem Men­schen wird nur so viel Cul­tur ge­stat­tet als im In­ter­es­se des Er­werbs ist, aber so viel wird auch von ihm ge­for­dert. Kurz: die Mensch­heit hat einen nothwen­di­gen An­spruch auf Er­den­glück – dar­um ist die Bil­dung nothwen­dig – aber auch nur dar­um!«

»Hier will ich Et­was ein­schal­ten,« sag­te der Phi­lo­soph. »Bei die­ser nicht un­deut­lich cha­rak­te­ri­sir­ten An­schau­ung ent­steht die große, ja un­ge­heu­re Ge­fahr, daß die große Mas­se ir­gend­wann ein­mal die Mit­tel­stu­fe über­springt und di­rekt auf die­ses Er­den­glück los­geht. Das nennt man jetzt die »so­cia­le Fra­ge«. Es möch­te näm­lich die­ser Mas­se so schei­nen, daß dem­nach die Bil­dung für den größ­ten Theil der Men­schen nur ein Mit­tel für das Er­den­glück der We­nigs­ten sei: die »mög­lichst all­ge­mei­ne Bil­dung« schwächt die Bil­dung so ab, daß sie gar kei­ne Pri­vi­le­gi­en und gar kei­nen Re­spekt mehr ver­lei­hen kann. Die al­ler­all­ge­meins­te Bil­dung ist eben die Bar­ba­rei. Doch ich will dei­ne Er­ör­te­rung nicht un­ter­bre­chen.«

Der Beglei­ter fuhr fort: »Es giebt noch an­de­re Mo­ti­ve für die über­all so tap­fer an­ge­streb­te Er­wei­te­rung und Ver­brei­tung der Bil­dung, au­ßer je­nem so be­lieb­ten na­tio­nal­öko­no­mi­schen Dog­ma. In ei­ni­gen Län­dern ist die Angst vor ei­ner re­li­gi­ösen Un­ter­drückung so all­ge­mein und die Furcht vor den Fol­gen die­ser Un­ter­drückung so aus­ge­prägt, daß man in al­len Ge­sell­schafts­klas­sen der Bil­dung mit lech­zen­der Be­gier­de ent­ge­gen­kommt und ge­ra­de die Ele­men­te der­sel­ben ein­schlürft, wel­che die re­li­gi­ösen In­stink­te auf­zu­lö­sen pfle­gen. An­der­wärts hin­wie­der­um strebt ein Staat hier und da um sei­ner eig­nen Exis­tenz wil­len nach ei­ner mög­lichs­ten Aus­deh­nung der Bil­dung, weil er sich im­mer noch stark ge­nug weiß, auch die stärks­te Ent­fes­se­lung der Bil­dung noch un­ter sein Joch span­nen zu kön­nen, und es be­währt ge­fun­den hat, wenn die aus­ge­dehn­tes­te Bil­dung sei­ner Be­am­ten oder sei­ner Hee­re zu­letzt im­mer nur ihm selbst, dem Staa­te, im Wett­ei­fer mit an­de­ren Staa­ten, zu gute kommt. In die­sem Fal­le muß das Fun­da­ment ei­nes Staa­tes eben so breit und fest sein, um das com­pli­cir­te Bil­dungs­ge­wöl­be noch ba­lan­ci­ren zu kön­nen, wie im ers­ten Fal­le die Spu­ren ei­ner frü­he­ren re­li­gi­ösen Un­ter­drückung noch fühl­bar ge­nug sein müs­sen, um zu ei­nem so ver­zwei­fel­ten Ge­gen­mit­tel zu drän­gen. Wo also nur das Feld­ge­schrei der Mas­se nach wei­tes­ter Volks­bil­dung ver­langt, da pfle­ge ich wohl zu un­ter­schei­den, ob eine üp­pi­ge Ten­denz nach Er­werb und Be­sitz, ob die Brand­ma­le ei­ner frü­he­ren re­li­gi­ösen Un­ter­drückung, ob das klu­ge Selbst­ge­fühl ei­nes Staa­tes zu die­sem Feld­ge­schrei sti­mu­lirt hat.

Da­ge­gen woll­te es mir er­schei­nen, als ob zwar nicht so laut, aber min­des­tens so nach­drück­lich von ver­schie­de­nen Sei­ten aus eine an­de­re Wei­se an­ge­stimmt wür­de, die Wei­se von der Ver­min­de­rung der Bil­dung.

Man pflegt sich et­was von die­ser Wei­se in al­len ge­lehr­ten Krei­sen in’s Ohr zu flüs­tern: die all­ge­mei­ne That­sa­che, daß mit der jetzt an­ge­streb­ten Aus­nüt­zung des Ge­lehr­ten im Diens­te sei­ner Wis­sen­schaft die Bil­dung des Ge­lehr­ten im­mer zu­fäl­li­ger und un­wahr­schein­li­cher wer­de. Denn so in die Brei­te aus­ge­dehnt ist jetzt das Stu­di­um der Wis­sen­schaf­ten, daß, wer, bei gu­ten, wenn­gleich nicht ex­tre­men An­la­gen, noch in ih­nen Et­was leis­ten will, ein ganz spe­ci­el­les Fach be­trei­ben wird, um alle üb­ri­gen dann aber un­be­küm­mert bleibt. Wird er nun schon in sei­nem Fach über dem vul­gus ste­hen, in al­lem Üb­ri­gen ge­hört er doch zu ihm, das heißt in al­len Haupt­sa­chen. So ein ex­klu­si­ver Fach­ge­lehr­ter ist dann dem Fa­brik­ar­bei­ter ähn­lich, der, sein Le­ben lang, nichts An­de­res macht als eine be­stimm­te Schrau­be oder Hand­ha­be, zu ei­nem be­stimm­ten Werk­zeug oder zu ei­ner Ma­schi­ne, worin er dann frei­lich eine un­glaub­li­che Vir­tuo­si­tät er­langt. In Deutsch­land, wo man ver­steht, auch sol­chen schmerz­li­chen That­sa­chen einen glo­rio­sen Man­tel des Ge­dan­kens über­zu­hän­gen, be­wun­dert man wohl gar die­se enge Fach­mä­ßig­keit un­se­rer Ge­lehr­ten und ihre im­mer wei­te­re Abir­rung von der rech­ten Bil­dung als ein sitt­li­ches Phä­no­men: die »Treue im Klei­nen«, die »Kärr­ner­treue« wird zum Prunkt­he­ma, die Un­bil­dung jen­seits des Fachs wird als Zei­chen ed­ler Ge­nüg­sam­keit zur Schau ge­tra­gen.