Nun aber beginnt die Oper, nach den deutlichsten Zeugnissen, mit der Forderung des Zuhörers, das Wort zu verstehn.
Wie? Der Zuhörer fordert? Das Wort soll verstanden werden?
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Die Musik aber nun gar in den Dienst einer Reihe von Bildern und Begriffen zu stellen, sie als Mittel zum Zweck, zu ihrer Verstärkung und Verdeutlichung, zu verwenden – diese sonderbare Anmaßung, die im Begriff der »Oper« gefunden wird, erinnert mich an den lächerlichen Menschen, der sich mit seinen eignen Armen in die Luft zu heben versucht: was dieser Narr, und was die Oper nach jenem Begriffe versuchen, sind reine Unmöglichkeiten. Jener Opernbegriff fordert nicht etwa von der Musik einen Mißbrauch, sondern – wie ich sagte – eine Unmöglichkeit! Die Musik kann nie Mittel werden, man mag sie stoßen, schrauben, foltern: als Ton, als Trommelwirbel, auf ihren rohesten und einfachsten Stufen überwindet sie noch die Dichtung und erniedrigt sie zu ihrem Wiederschein. Die Oper als Kunstgattung nach jenem Begriff ist somit nicht sowohl Verirrung der Musik, als eine irrthümliche Vorstellung der Ästhetik. Wenn ich übrigens hiermit das Wesen der Oper für die Ästhetik rechtfertige, so bin ich natürlich weit entfernt, damit schlechte Opernmusik oder schlechte Operndichtungen rechtfertigen zu wollen. Die schlechteste Musik kann immer noch der besten Dichtung gegenüber den dionysischen Weltuntergrund bedeuten, und die schlechteste Dichtung Spiegel, Abbild und Wiederschein dieses Untergrundes sein, bei der besten Musik: so gewiß nämlich der einzelne Ton, dem Bild gegenüber, bereits dionysisch, und das einzelne Bild, sammt dem Begriff und Wort der Musik gegenüber, bereits apollinisch ist. Ja selbst schlechte Musik sammt schlechter Poesie kann noch über das Wesen der Musik und der Poesie belehren.
Wenn also zum Beispiel Schopenhauer die Norma Bellini’s als Erfüllung der Tragödie, hinsichtlich ihrer Musik und Dichtung, empfand, so war er, in seiner dionysisch-apollinischen Erregung und Selbstvergessenheit, dazu völlig berechtigt, weil er Musik und Dichtung in ihrem allgemeinsten, gleichsam philosophischen Werthe, als Musik und Dichtung überhaupt, empfand: während er mit jenem Urtheil einen nur wenig gebildeten, d. h. historisch vergleichenden Geschmack bewies. Uns, die wir in dieser Untersuchung absichtlich jeder Frage nach dem historischen Werthe einer Kunsterscheinung aus dem Wege gehen und nur die Erscheinung selbst, in ihrer unveränderten gleichsam ewigen Bedeutung, somit auch in ihrem höchsten Typus, in’s Auge zu fassen uns bemühn – uns gilt die Kunstgattung der Oper als ebenso berechtigt wie das Volkslied, insofern wir in beiden jene Vereinigung des Dionysischen und Apollinischen vorfinden und für die Oper – nämlich für den höchsten Typus der Oper – eine analoge Entstehung voraussetzen dürfen wie für das Volkslied. Nur insofern die uns historisch bekannte Oper seit ihrem Anfang eine völlig verschiedene Entstehung hat als das Volkslied, verwerfen wir diese »Oper«: als welche sich zu jenem eben von uns vertheidigten Gattungsbegriff der Oper verhält wie die Marionette zum lebenden Menschen. So gewiß auch die Musik nie Mittel, im Dienste des Textes, werden kann, sondern auf jeden Fall den Text überwindet: so wird sie doch sicherlich schlechte Musik, wenn der Componist jede in ihm aufsteigende dionysische Kraft durch einen ängstlichen Blick auf die Worte und Gesten seiner Marionetten bricht. Hat ihm der Operndichter überhaupt nicht mehr als die üblichen schematisirten Figuren mit ihrer ägyptischen Regelmäßigkeit geboten, so wird der Werth der Oper um so höher sein, je freier, unbedingter, dionysischer die Musik sich entfaltet und je mehr sie alle sogenannten dramatischen Anforderungen verachtet. Die Oper in diesem Sinne ist dann freilich im besten Falle gute Musik und nur Musik: während die dabei abgespielte Gaukelei gleichsam nur eine phantastische Verkleidung des Orchesters, vor Allem seiner wichtigsten Instrumente, der Sänger, ist, von der der Einsichtige sich lachend abwendet. Wenn die große Masse sich gerade an ihr ergötzt und die Musik dabei nur gestattet: so geht es ihr wie allen Denen, die den goldenen Rahmen eines guten Gemäldes höher als dieses selbst schätzen: Vermöchte solchen naiven Verirrungen noch eine ernsthafte oder gar pathetische Abfertigung gönnen?
Was wird aber die Oper als »dramatische« Musik zu bedeuten haben, in ihrer möglichst weiten Entfernung von reiner, an sich wirkender, allein dionysischer Musik? Denken wir uns ein buntes leidenschaftliches und den Zuschauer fortreißendes Drama, das als Aktion bereits seines Erfolges sicher ist: was wird hier »dramatische« Musik noch hinzuthun können, wenn sie nichts davonnimmt? Sie wird aber erstens viel davonnehmen: denn in jedem Momente, wo einmal die dionysische Gewalt der Musik in den Zuhörer einschlägt, umflort sich das Auge, das die Aktion sieht, das sich in die vor ihm auftretenden Individuen versenkt hat: der Zuhörer vergißt jetzt das Drama und wacht erst wieder für dasselbe auf, wenn ihn der dionysische Zauber losgelassen hat. Insofern die Musik aber den Zuhörer das Drama vergessen macht, ist sie noch nicht »dramatische« Musik: was ist das aber für Musik, die keine dionysische Gewalt auf den Hörer äußern darf? Und wie ist sie möglich? Sie ist möglich als rein conventionelle Symbolik, in der die Convention alle natürliche Kraft ausgesogen hat: als Musik, die sich zu Erinnerungszeichen abgeschwächt hat: und ihre Wirkung hat darin ihr Ziel, den Zuschauer an Etwas zu mahnen, was ihn beim Anblick des Dramas, zu dessen Verständniß, nicht entgehn darf: wie ein Trompetensignal für das Pferd eine Aufforderung zum Trabe ist. Endlich wäre noch vor Beginn des Dramas und in Zwischenscenen oder in langweiligen, für die dramatische Wirkung zweifelhaften Stellen, ja selbst in seinen höchsten Momenten, eine andere, nicht mehr rein conventionelle Erinnerungsmusik erlaubt, nämlich Aufregungsmusik, als Stimulanzmittel für stumpfe oder abgespannte Nerven. Diese beiden Elemente vermag ich allein in der sogenannten dramatischen Musik zu unterscheiden: eine conventionelle Rhetorik und Erinnerungsmusik und eine vor Allem physisch wirkende Aufregungsmusik: und so schwankt sie zwischen Trommellärm und Signalhorn einher, wie die Stimmung des Kriegers, der in die Schlacht zieht. Nun aber verlangt der durch Vergleichung gebildete und an reiner Musik sich erlabende Sinn für jene beiden mißbräuchlichen Tendenzen der Musik eine Maskerade; es soll »Erinnerung« und »Aufregung« geblasen werden, aber in guter Musik, die an sich genießbar, ja werthvoll sein muß: welche Verzweiflung für den dramatischen Musiker, der die große Trommel maskiren muß durch gute Musik, die aber doch nicht »rein musikalisch« sondern nur aufregend wirken darf! Und nun kommt das große mit tausend Köpfen wackelnde Philister-Publikum und genießt diese sich immer vor sich selbst schämende »dramatische Musik« mit Haut und Haar, ohne etwas von ihrer Scham und Verlegenheit zu merken. Vielmehr fühlt es sein Fell angenehm gekitzelt: ihm wird ja gehuldigt in allen Formen und Weisen, ihm dem zerstreuungssüchtigen mattäugigen Genüßling, der Aufregung braucht, ihm dem eingebildeten Gebildeten, der an gutes Drama und gute Musik wie an gute Kost sich gewöhnt hat, ohne übrigens viel daraus zu machen, ihm dem vergeßlichen und zerstreuten Egoisten, der zum Kunstwerke mit Gewalt und mit Signalhörnern zurückgeführt werden muß, weil fortwährend ihm eigensüchtige Pläne, auf Gewinn oder Genuß gerichtet, durch den Kopf kreuzen. Wehselige dramatische Musiker! »Beseht die Gönner in der Nähe! Halb sind sie kalt, halb sind sie roh.« »Was plagt ihr armen Thoren viel, zu solchem Zweck, die holden Musen?« Und daß diese von ihnen geplagt, ja gemartert und geschunden werden – sie leugnen es selbst nicht, die Aufrichtig-Unglücklichen!
Wir hatten ein leidenschaftliches den Zuhörer fortreißendes Drama vorausgesetzt, das auch ohne Musik seiner Wirkung gewiß sei: ich fürchte, Das, was an ihm »Dichtung« und nicht eigentliche »Handlung« ist, wird sich zu wahrer Dichtung ähnlich verhalten wie die dramatische Musik zur Musik überhaupt: es wird Erinnerungs- und Aufregungsdichtung sein. Die Poesie wird als Mittel dienen, um conventionsmäßig an Gefühle und Leidenschaften zu erinnern, deren Ausdruck durch wirkliche Dichter gefunden und mit ihnen berühmt, ja normal geworden ist. Sodann wird ihr zugemuthet werden, der eigentlichen »Handlung«, sei das nun eine criminalistische Schreckensgeschichte oder eine verwandlungstolle Zauberei, in den gefährlichen Momenten aufzuhelfen und um die Rohheit der Aktion selbst einen verhüllenden Schleier zu breiten. Im Gefühl der Scham, daß die Dichtung nur Maskerade ist, die kein Tageslicht verträgt, verlangt nun eine solche »dramatische« Dichterei nach der »dramatischen« Musik: wie anderseits dem Dichterling solcher Dramen wieder der dramatische Musiker auf dreiviertel des Wegs entgegenläuft, mit seiner Begabung zur Trommel und zum Signalhorn und seiner Scheu vor ächter, sich vertrauender und selbstgenugsamer Musik. Und nun sehn sie sich und umarmen sich, diese apollinischen und dionysischen Karikaturen, dieses par nobile fratrum!
Vorrede zu einem ungeschriebenen Buch.
(1872.)
Wenn man von Humanität redet, so liegt die Vorstellung zu Grunde, es möge Das sein, was den Menschen von der Natur abscheidet und auszeichnet. Aber eine solche Abscheidung giebt es in Wirklichkeit nicht: die »natürlichen« Eigenschaften und die eigentlich »menschlich« genannten sind untrennbar verwachsen. Der Mensch, in seinen höchsten und edelsten Kräften, ist ganz Natur und trägt ihren unheimlichen Doppelcharakter an sich. Seine furchtbaren und als unmenschlich geltenden Befähigungen sind vielleicht sogar der fruchtbare Boden, aus dem allein alle Humanität, in Regungen, Thaten und Werten hervorwachsen kann.
So haben die Griechen, die humansten Menschen der alten Zeit, einen Zug von Grausamkeit, von tigerartiger Vernichtungslust an sich: ein Zug, der auch in dem in’s Groteske vergrößernden Spiegelbilde des Hellenen, in Alexander dem Großen, sehr sichtbar ist, der aber in ihrer ganzen Geschichte, ebenso wie in ihrer Mythologie uns, die wir mit dem weichlichen Begriff der modernen Humanität ihnen entgegenkommen, in Angst versetzen muß. Wenn Alexander die Füße des tapferen Vertheidigers von Gaza, Batis, durchbohren läßt und seinen Leib lebend an seinen Wagen bindet, um ihn unter dem Hohne seiner Soldaten herumzuschleifen: so ist dies die Ekel erregende Karrikatur des Achilles, der den Leichnam des Hektor nächtlich durch ein ähnliches Herumschleifen mißhandelt; aber selbst dieser Zug hat für uns etwas Beleidigendes und Grausen Einflößendes. Wir sehen hier in die Abgründe des Hasses. Mit derselben Empfindung stehen wir etwa auch vor dem blutigen und unersättlichen Sichzerfleischen zweier griechischer Parteien, zum Beispiel in der korkyräischen Revolution. Wenn der Sieger, in einem Kampf der Städte, nach dem Rechte des Krieges, die gesammte männliche Bürgerschaft hinrichtet und alle Frauen und Kinder in die Sklaverei verkauft, so sehen wir, in der Sanktion eines solchen Rechtes, daß der Grieche ein volles Ausströmenlassen seines Hasses als ernste Nothwendigkeit erachtete; in solchen Momenten erleichterte sich die zusammengedrängte und geschwollene Empfindung: der Tiger schnellte hervor, eine wollüstige Grausamkeit blickte aus seinem fürchterlichen Auge. Warum mußte der griechische Bildhauer immer wieder Krieg und Kämpfe in zahllosen Wiederholungen ausprägen, ausgereckte Menschenleiber, deren Sehnen vom Hasse gespannt sind oder vom Übermuthe des Triumphes, sich krümmende Verwundete, ausröchelnde Sterbende? Warum jauchzte die ganze griechische Welt bei den Kampfbildern der Ilias? Ich fürchte, daß wir diese nicht »griechisch« genug verstehen, ja daß wir schaudern würden, wenn wir sie einmal griechisch verstünden.
Was aber liegt, als der Geburtsschoß alles Hellenischen, hinter der homerischen Welt? In dieser werden wir bereits durch die außerordentliche künstlerische Bestimmtheit, Ruhe und Reinheit der Linien über die rein stoffliche Verschmelzung hinweggehoben: ihre Farben erscheinen, durch eine künstlerische Täuschung, lichter, milder, wärmer, ihre Menschen, in dieser farbigen, warmen Beleuchtung, besser und sympathischer – aber wohin schauen wir, wenn wir, von der Hand Homer’s nicht mehr geleitet und geschützt, rückwärts, in die vorhomerische Welt hinein schreiten? Nur in Nacht und Grauen, in die Erzeugnisse einer an das Gräßliche gewöhnten Phantasie. Welche irdische Existenz spiegeln diese widerlich-furchtbaren theogonischen Sagen wieder: ein Leben, über dem allein die Kinder der Nacht, der Streit, die Liebesbegier, die Täuschung, das Alter und der Tod walten. Denken wir uns die schwer zu athmende Luft des hesiodischen Gedichtes noch verdichtet und verfinstert und ohne alle die Milderungen und Reinigungen, welche, von Delphi und zahlreichen Göttersitzen aus, über Hellas hinströmten: mischen wir diese verdickte böotische Luft mit der finsteren Wollüstigkeit der Etrusker; dann würde uns eine solche Wirklichkeit eine Mythenwelt erpressen, in der Uranos, Kronos und Zeus und die Titanenkämpfe wie eine Erleichterung dünken müßten; der Kampf ist in dieser brütenden Atmosphäre das Heil, die Rettung, die Grausamkeit des Sieges ist die Spitze des Lebensjubel Und wie sich in Wahrheit vom Morde und der Mordsühne aus der Begriff des griechischen Rechtes entwickelt hat, so nimmt auch die edlere Cultur ihren ersten Siegeskranz vom Altar der Mordsühne. Hinter jenem blutigen Zeitalter her zieht sich eine Wellenfurche tief hinein in die hellenische Geschichte. Die Namen des Orpheus, des Musäus und ihrer Culte verrathen, zu welchen Folgerungen der unausgesetzte Anblick einer Welt des Kampfes und der Grausamkeit drängte – zum Ekel am Dasein, zur Auffassung dieses Daseins als einer abzubüßenden Strafe, zum Glauben an die Identität von Dasein und Verschuldetsein. Gerade diese Folgerungen aber sind nicht specifisch hellenisch: in ihnen berührt sich Griechenland mit Indien und überhaupt mit dem Orient. Der hellenische Genius hatte noch eine andere Antwort auf die Frage bereit »was will ein Leben des Kampfes und des Sieges?« und giebt diese Antwort in der ganzen Breite der griechischen Geschichte.
Um sie zu verstehen, müssen wir davon ausgehen, daß der griechische Genius den einmal so furchtbar vorhandenen Trieb gelten ließ und als berechtigt erachtete: während in der orphischen Wendung der Gedanke lag, daß ein Leben, mit einem solchen Trieb als Wurzel, nicht lebenswerth sei. Der Kampf und die Luft des Sieges wurden anerkannt: und nichts scheidet die griechische Welt so sehr von der unseren, als die hieraus abzuleitende Färbung einzelner ethischer Begriffe, zum Beispiel der Eris und des Neides.
Als der Reisende Pausanias auf seiner Wanderschaft durch Griechenland den Helikon besuchte, wurde ihm ein uraltes Exemplar des ersten didaktischen Gedichtes der Griechen, der »Werke und Tage« Hesiod’s gezeigt, auf Bleiplatten eingeschrieben und arg durch Zeit und Wetter verwüstet. Doch erkannte er soviel, daß es, im Gegensatz zu den gewöhnlichen Exemplaren, an seiner Spitze jenen kleinen Hymnus auf Zeus nicht besaß, sondern sofort mit der Erklärung begann, » zwei Erisgöttinnen sind auf Erden«. Dies ist einer der merkwürdigsten hellenischen Gedanken und werth dem Kommenden gleich am Eingangsthore der hellenischen Ethik eingeprägt zu werden. »Die eine Eris möchte man, wenn man Verstand hat, ebenso loben als die andere tadeln; denn eine ganz getrennte Gemüthsart haben diese beiden Göttinnen. Denn die eine fördert den schlimmen Krieg und Hader, die Grausame! Kein Sterblicher mag sie leiden, sondern unter dem Joch der Noth erweist man der schwerlastenden Eris Ehre, nach dem Rathschlusse der Unsterblichen. Diese gebar, als die Ältere, die schwarze Nacht; die Andere aber stellte Zeus, der hochwaltende, hin auf die Wurzeln der Erde und unter die Menschen, als eine viel bessere. Sie treibt auch den ungeschickten Mann zur Arbeit! und schaut Einer, der des Besitzthums ermangelt, auf den Anderen, der reich ist, so eilt er sich in gleicher Weise zu säen und zu pflanzen und das Haus wohl zu bestellen; der Nachbar wetteifert mit dem Nachbarn, der zum Wohlstande hinstrebt. Gut ist diese Eris für die Menschen. Auch der Töpfer grollt dem Töpfer und der Zimmermann dem Zimmermann, es neidet der Bettler den Bettler und der Sänger den Sänger.«
Die zwei letzten Verse, die vom odium figulinum handeln, erscheinen unseren Gelehrten an dieser Stelle unbegreiflich. Nach ihrem Urtheile passen die Prädikate »Groll« und »Neid« nur zum Wesen der schlimmen Eris; weshalb sie keinen Anstand nehmen, die Verse als unecht oder durch Zufall an diesen Ort verschlagen zu bezeichnen. Hierzu aber muß sie unvermerkt eine andere Ethik, als die hellenische ist, inspirirt haben: denn Aristoteles empfindet in der Beziehung dieser Verse auf die gute Eris keinen Anstoß. Und nicht Aristoteles allein, sondern das gesammte griechische Alterthum denkt anders über Groll und Neid als wir und urteilt wie Hesiod, der einmal eine Eris als böse bezeichnet, diejenige nämlich, welche die Menschen zum feindseligen Vernichtungskampfe gegen einander führt, und dann wieder eine andre Eris als gute preist, die als Eifersucht, Groll, Neid die Menschen zur That reizt, aber nicht zur That des Vernichtungskampfes, sondern zur That des Wettkampfes. Der Grieche ist neidisch und empfindet diese Eigenschaft nicht als Makel, sondern als Wirkung einer wohlthätigen Gottheit: welche Kluft des ethischen Urtheils zwischen uns und ihm! Weil er neidisch ist, fühlt er auch, bei jedem Übermaaß von Ehre, Reichthum, Glanz und Glück, das neidische Auge eines Gottes auf sich ruhen und er fürchtet diesen Neid; in diesem Falle mahnt er ihn an das Vergängliche jedes Menschenlooses, ihm graut vor seinem Glücke und das Beste davon opfernd beugt er sich vor dem göttlichen Neide. Diese Vorstellung entfremdet ihm nicht etwa seine Götter: deren Bedeutung im Gegentheil damit umschrieben ist, daß mit ihnen der Mensch nie den Wettkampf wagen darf, er, dessen Seele gegen jedes andre lebende Wesen eifersüchtig erglüht. Im Kampfe des Thamyris mit den Musen, des Marsyas mit Apoll, im ergreifenden Schicksale der Niobe erschien das schreckliche Gegeneinander der zwei Mächte, die nie mit einander kämpfen dürfen, von Mensch und Gott.
Je größer und erhabener aber ein griechischer Mensch ist, um so heller bricht aus ihm die ehrgeizige Flamme heraus, Jeden verzehrend, der mit ihm auf gleicher Bahn läuft. Aristoteles hat einmal eine Liste von solchen feindseligen Wettkämpfen im großen Stile gemacht: darunter ist das auffallendste Beispiel, daß selbst ein Todter einen Lebenden noch zu verzehrender Eifersucht reizen kann. So nämlich bezeichnet Aristoteles das Verhältniß des Kolophoniers Xenophanes zu Homer. Wir verstehen diesen Angriff auf den nationalen Heros der Dichtkunst nicht in seiner Stärke, wenn wir nicht, wie später auch bei Plato, die ungeheure Begierde als Wurzel dieses Angriffs uns denken, selbst an die Stelle des gestürzten Dichters zu treten und dessen Ruhm zu erben. Jeder große Hellene giebt die Fackel des Wettkampfes weiter; an jeder großen Tugend entzündet sich eine neue Größe. Wenn der junge Themistokles im Gedanken an die Lorbeern des Miltiades nicht schlafen konnte, so entfesselte sich sein frühgeweckter Trieb erst im langen Wetteifer mit Aristides zu jener einzig merkwürdigen rein instinktiven Genialität seines politischen Handelns, die uns Thukydides beschreibt. Wie charakteristisch ist Frage und Antwort, wenn ein namhafter Gegner des Perikles gefragt wird, ob er oder Perikles der beste Ringer in der Stadt sei, und die Antwort giebt: »selbst wenn ich ihn niederwerfe, leugnet er, daß er gefallen sei, erreicht seine Absicht und überredet Die, welche ihn fallen sahen.«
Will man recht unverhüllt jenes Gefühl in seinen naiven Äußerungen sehen, das Gefühl von der Nothwendigkeit des Wettkampfes, wenn anders das Heil des Staates bestehen soll, so denke man an den ursprünglichen Sinn des Ostrakismos: wie ihn zum Beispiel die Ephesier bei der Verbannung des Hermodor aussprechen. »Unter uns soll Niemand der Beste sein; ist Jemand es aber, so sei er anderswo und bei Anderen«. Denn weshalb soll Niemand der Beste sein? Weil damit der Wettkampf versiegen würde und der ewige Lebensgrund des hellenischen Staates gefährdet wäre. Später bekommt der Ostrakismos eine andere Stellung zum Wettkampfe: er wird angewendet, wenn die Gefahr offenkundig ist, daß einer der großen um die Wette kämpfenden Politiker und Parteihäupter zu schädlichen und zerstörenden Mitteln und zu bedenklichen Staatsstreichen, in der Hitze des Kampfes, sich gereizt fühlt. Der ursprüngliche Sinn dieser sonderbaren Einrichtung ist aber nicht der eines Ventils, sondern der eines Stimulanzmittels: man beseitigt den überragenden Einzelnen, damit nun wieder das Wettspiel der Kräfte erwache: ein Gedanke, der der »Exklusivität« des Genius im modernen Sinne feindlich ist, aber voraussetzt, daß, in einer natürlichen Ordnung der Dinge, es immer mehrere Genies giebt, die sich gegenseitig zur That reizen, wie sie sich auch gegenseitig in der Grenze des Maaßes halten. Das ist der Kern der hellenischen Wettkampf-Vorstellung: sie verabscheut die Alleinherrschaft und fürchtet ihre Gefahren, sie begehrt, als Schutzmittel gegen das Genie – ein zweites Genie.
Jede Begabung muß sich kämpfend entfalten, so gebietet die hellenische Volkspädagogik: während die neueren Erzieher vor Nichts eine so große Scheu haben als vor der Entfesselung des sogenannten Ehrgeizes. Hier fürchtet man die Selbstsucht als das »Böse an sich« – mit Ausnahme der Jesuiten, die wie die Alten darin gesinnt sind und deshalb wohl die wirksamsten Erzieher unserer Zeit sein mögen. Sie scheinen zu glauben, daß die Selbstsucht d. h. das Individuelle nur das kräftigste agens ist, seinen Charakter aber als »gut« und »böse« wesentlich von den Zielen bekommt, nach denen es sich ausreckt. Für die Alten aber war das Ziel der agonalen Erziehung die Wohlfahrt des Ganzen, der staatlichen Gesellschaft. Jeder Athener z. B. sollte sein Selbst im Wettkampfe so weit entwickeln, als es Athen vom höchsten Nutzen sei und am wenigsten Schaden bringe. Es war kein Ehrgeiz in’s Ungemessene und Unzumessende, wie meistens der moderne Ehrgeiz: an das Wohl seiner Mutterstadt dachte der Jüngling, wenn er um die Wette lief oder warf oder sang; ihren Ruhm wollte er in dem seinigen mehren; seinen Stadtgöttern weihte er die Kränze, die die Kampfrichter ehrend auf sein Haupt setzten. Jeder Grieche empfand in sich von Kindheit an den brennenden Wunsch, im Wettkampf der Städte ein Werkzeug zum Heile seiner Stadt zu sein: darin war seine Selbstsucht entflammt, darin war sie gezügelt und umschränkt. Deshalb waren die Individuen im Alterthume freier, weil ihre Ziele näher und greifbarer waren. Der moderne Mensch ist dagegen überall gekreuzt von der Unendlichkeit, wie der schnellfüßige Achill im Gleichnisse des Eleaten Zeno: die Unendlichkeit hemmt ihn, er holt nicht einmal die Schildkröte ein.
Wie aber die zu erziehenden Jünglinge mit einander wettkämpfend erzogen wurden, so waren wiederum ihre Erzieher unter sich im Wetteifer. Mißtrauisch-eifersüchtig traten die großen musikalischen Meister, Pindar und Simonides, nebeneinander hin; wetteifernd begegnet der Sophist, der höhere Lehrer des Alterthums, dem anderen Sophisten; selbst die allgemeinste Art der Belehrung, durch das Drama, wurde dem Volke nur ertheilt unter der Form eines ungeheuren Ringens der großen musikalischen und dramatischen Künstler. Wie wunderbar! »Auch der Künstler grollt dem Künstler!« Und der moderne Mensch fürchtet nichts so sehr an einem Künstler als die persönliche Kampfregung, während der Grieche den Künstler nur im persönlichen Kampfe kennt. Dort wo der moderne Mensch die Schwäche des Kunstwerks wittert, sucht der Hellene die Quelle seiner höchsten Kraft! Das, was zum Beispiel bei Plato von besonderer künstlerischer Bedeutung an seinen Dialogen ist, ist meistens das Resultat eines Wetteifers mit der Kunst der Redner, der Sophisten, der Dramatiker seiner Zeit, zu dem Zweck erfunden, daß er zuletzt sagen konnte: »Seht, ich kann Das auch, was meine großen Nebenbuhler können; ja, ich kann es besser als sie. Kein Protagoras hat so schöne Mythen gedichtet wie ich, kein Dramatiker ein so belebtes und fesselndes Ganze, wie das Symposion, kein Redner solche Rede verfaßt, wie ich sie im Gorgias hinstelle – und nun verwerfe ich das Alles zusammen und verurtheile alle nachbildende Kunst! Nur der Wettkampf machte mich zum Dichter, zum Sophisten, zum Redner!« Welches Problem erschließt sich uns da, wenn wir nach dem Verhältniß des Wettkampfes zur Conception des Kunstwerkes fragen! –
Nehmen wir dagegen den Wettkampf aus dem griechischen Leben hinweg, so sehen wir sofort in jenen vorhomerischen Abgrund einer grauenhaften Wildheit des Hasses und der Vernichtungslust. Dies Phänomen zeigt sich leider so häufig, wenn eine große Persönlichkeit durch eine ungeheure glänzende That plötzlich dem Wettkampfe entrückt wurde und hors de concours, nach seinem und seiner Mitbürger Urtheil war. Die Wirkung ist, fast ohne Ausnahme, eine entsetzliche; und wenn man gewöhnlich aus diesen Wirkungen den Schluß zieht, daß der Grieche unvermögend gewesen sei Ruhm und Glück zu ertragen: so sollte man genauer reden, daß er den Ruhm ohne weiteren Wettkampf, das Glück am Schlusse des Wettkampfes nicht zu tragen vermochte. Es giebt kein deutlicheres Beispiel als die letzten Schicksale des Miltiades. Durch den unvergleichlichen Erfolg bei Marathon auf einen einsamen Gipfel gestellt und weit hinaus über jeden Mitkämpfenden gehoben: fühlt er in sich ein niedriges rachsüchtiges Gelüst erwachen, gegen einen parischen Bürger, mit dem er vor Alters eine Feindschaft hatte. Dies Gelüst zu befriedigen mißbraucht er Ruf, Staatsvermögen, Bürgerehre und entehrt sich selbst. Im Gefühl des Mißlingens verfällt er auf unwürdige Machinationen. Er tritt mir der Demeterpriesterin Timo in eine heimliche und gottlose Verbindung und betritt Nachts den heiligen Tempel, aus dem jeder Mann ausgeschlossen war. Als er die Mauer übersprungen hat und dem Heiligthum der Göttin immer näher kommt, überfällt ihn plötzlich das furchtbare Grauen eines panischen Schreckens: fast zusammenbrechend und ohne Besinnung fühlt er sich zurückgetrieben und über die Mauer zurückspringend stürzt er gelähmt und schwer verletzt nieder. Die Belagerung muß aufgehoben werden, das Volksgericht erwartet ihn, und ein schmählicher Tod drückt sein Siegel auf eine glänzende Heldenlaufbahn, um sie für alle Nachwelt zu verdunkeln. Nach der Schlacht bei Marathon hat ihn der Neid der Himmlischen ergriffen. Und dieser göttliche Neid entzündet sich, wenn er den Menschen ohne jeden Wettkämpfer gegnerlos auf einsamer Ruhmeshöhe erblickt. Nur die Götter hat er jetzt neben sich – und deshalb hat er sie gegen sich. Diese aber verleiten ihn zu einer That der Hybris, und unter ihr bricht er zusammen.