Friedrich Wilhelm Nietzsche – Gesammelte Werke

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Das Nachtwandler-Lied
1

In­zwi­schen aber war Ei­ner nach dem An­dern hin­aus ge­tre­ten, in’s Freie und in die küh­le nach­denk­li­che Nacht; Za­ra­thustra sel­ber aber führ­te den häss­lichs­ten Men­schen an der Hand, dass er ihm sei­ne Nacht-Welt und den gros­sen run­den Mond und die sil­ber­nen Was­ser­stür­ze bei sei­ner Höh­le zei­ge. Da stan­den sie end­lich still bei ein­an­der, lau­ter alte Leu­te, aber mit ei­nem ge­trös­te­ten tap­fe­ren Her­zen und ver­wun­dert bei sich, dass es ih­nen auf Er­den so wohl war; die Heim­lich­keit der Nacht aber kam ih­nen nä­her und nä­her an’s Herz. Und von Neu­em dach­te Za­ra­thustra bei sich: »oh wie gut sie mir nun ge­fal­len, die­se hö­he­ren Men­schen!« – aber er sprach es nicht aus, denn er ehr­te ihr Glück und ihr Still­schwei­gen. –

Da aber ge­sch­ah Das, was an je­nem er­staun­li­chen lan­gen Tage das Er­staun­lichs­te war: der häss­lichs­te Mensch be­gann noch ein Mal und zum letz­ten Mal zu gur­geln und zu schnau­ben, und als er es bis zu Wor­ten ge­bracht hat­te, sie­he, da sprang eine Fra­ge rund und rein­lich aus sei­nem Mun­de, eine gute tie­fe kla­re Fra­ge, wel­che Al­len, die ihm zu­hör­ten, das Herz im Lei­be be­weg­te.

»Mei­ne Freun­de ins­ge­sammt, sprach der häss­lichs­te Mensch, was dün­ket euch? Um die­ses Tags Wil­len – ich bin’s zum ers­ten Male zu­frie­den, dass ich das gan­ze Le­ben leb­te.

Und dass ich so viel be­zeu­ge, ist mir noch nicht ge­nug. Es lohnt sich auf der Erde zu le­ben: Ein Tag, Ein Fest mit Za­ra­thustra lehr­te mich die Erde lie­ben.

»War Das – das Le­ben?« will ich zum Tode spre­chen. »Wohl­an! Noch Ein Mal!«

Mei­ne Freun­de, was dün­ket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode spre­chen: War Das – das Le­ben? Um Za­ra­thustra’s Wil­len, wohl­an! Noch Ein Mal!« – –

Also sprach der häss­lichs­te Mensch; es war aber nicht lan­ge vor Mit­ter­nacht. Und was glaubt ihr wohl, dass da­mals sich zu­trug? So­bald die hö­he­ren Men­schen sei­ne Fra­ge hör­ten, wur­den sie sich mit Ei­nem Male ih­rer Ver­wand­lung und Ge­ne­sung be­wusst, und wer ih­nen die­sel­be ge­ge­ben habe: da spran­gen sie auf Za­ra­thustra zu, dan­kend, ver­eh­rend, lieb­ko­send, ihm die Hän­de küs­send, so wie es der Art ei­nes Je­den ei­gen war: also dass Ei­ni­ge lach­ten, Ei­ni­ge wein­ten. Der alte Wahr­sa­ger aber tanz­te vor Ver­gnü­gen; und wenn er auch, wie man­che Er­zäh­ler mei­nen, da­mals voll süs­sen Wei­nes war, so war er ge­wiss­lich noch vol­ler des süs­sen Le­bens und hat­te al­ler Mü­dig­keit ab­ge­sagt. Es giebt so­gar Sol­che, die er­zäh­len, dass da­mals der Esel ge­tanzt habe: nicht um­sonst näm­lich habe ihm der häss­lichs­te Mensch vor­her Wein zu trin­ken ge­ge­ben. Diess mag sich nun so ver­hal­ten oder auch an­ders; und wenn in Wahr­heit an je­nem Aben­de der Esel nicht ge­tanzt hat, so ge­sch­a­hen doch da­mals grös­se­re und selt­sa­me­re Wun­der­din­ge als es das Tan­zen ei­nes Esels wäre. Kurz, wie das Sprich­wort Za­ra­thustra’s lau­tet: »was liegt dar­an!«

2

Za­ra­thustra aber, als sich diess mit dem häss­lichs­ten Men­schen zu­trug, stand da, wie ein Trun­ke­ner: sein Blick er­losch, sei­ne Zun­ge lall­te, sei­ne Füs­se schwank­ten. Und wer möch­te auch er­rat­hen, wel­che Ge­dan­ken da­bei über Za­ra­thustra’s See­le lie­fen? Er­sicht­lich aber wich sein Geist zu­rück und floh vor­aus und war in wei­ten Fer­nen und gleich­sam »auf ho­hem Jo­che, wie ge­schrie­ben steht, zwi­schen zwei Mee­ren,

– zwi­schen Ver­gan­ge­nem und Zu­künf­ti­gem als schwe­re Wol­ke wan­delnd.« All­ge­mach aber, wäh­rend ihn die hö­he­ren Men­schen in den Ar­men hiel­ten, kam er ein We­nig zu sich sel­ber zu­rück und wehr­te mit den Hän­den dem Ge­drän­ge der Ver­eh­ren­den und Be­sorg­ten; doch sprach er nicht. Mit Ei­nem Male aber wand­te er schnell den Kopf, denn er schi­en Et­was zu hö­ren: da leg­te er den Fin­ger an den Mund und sprach: »Kommt!«

Und als­bald wur­de es rings still und heim­lich; aus der Tie­fe aber kam lang­sam der Klang ei­ner Glo­cke her­auf. Za­ra­thustra horch­te dar­nach, gleich den hö­he­ren Men­schen; dann aber leg­te er zum an­dern Male den Fin­ger an den Mund und sprach wie­der­um: »Kommt! Kommt! Es geht gen Mit­ter­nacht!« – und sei­ne Stim­me hat­te sich ver­wan­delt. Aber im­mer noch rühr­te er sich nicht von der Stel­le: da wur­de es noch stil­ler und heim­li­cher, und Al­les horch­te, auch der Esel, und Za­ra­thustra’s Ehr­ent­hie­re, der Ad­ler und die Schlan­ge, ins­glei­chen die Höh­le Za­ra­thustra’s und der gros­se küh­le Mond und die Nacht sel­ber. Za­ra­thustra aber leg­te zum drit­ten Male die Hand an den Mund und sprach:

Kommt! Kommt! Kommt! Lasst uns jet­zo wan­deln! Es ist die Stun­de: lasst uns in die Nacht wan­deln!

3

Ihr hö­he­ren Men­schen, es geht gen Mit­ter­nacht: da will ich euch Et­was in die Ohren sa­gen, wie jene alte Glo­cke es mir in’s Ohr sagt, –

– so heim­lich, so schreck­lich, so herz­lich, wie jene Mit­ter­nachts-Glo­cke zu mir es re­det, die mehr er­lebt hat als Ein Mensch:

– wel­che schon eu­rer Vä­ter Her­zens-Schmer­zens-Schlä­ge ab­zähl­te – ach! ach! wie sie seufzt! wie sie im Trau­me lacht! die alte tie­fe tie­fe Mit­ter­nacht!

Still! Still! Da hört sich Man­ches, das am Tage nicht laut wer­den darf; nun aber, bei küh­ler Luft, da auch al­ler Lärm eu­rer Her­zen stil­le ward, –

– nun re­det es, nun hört es sich, nun schleicht es sich in nächt­li­che über­wa­che See­len: ach! ach! wie sie seufzt! wie sie im Trau­me lacht!

– hörst du’s nicht, wie sie heim­lich, schreck­lich, herz­lich zu dir re­det, die alte tie­fe tie­fe Mit­ter­nacht? Oh Mensch, gieb Acht!

4

Wehe mir! Wo ist die Zeit hin? Sank ich nicht in tie­fe Brun­nen? Die Welt schläft –

Ach! Ach! Der Hund heult, der Mond scheint. Lie­ber will ich ster­ben, ster­ben, als euch sa­gen, was mein Mit­ter­nachts-Herz eben denkt.

Nun starb ich schon. Es ist da­hin. Spin­ne, was spinnst du um mich? Willst du Blut? Ach! Ach! der Thau fällt, die Stun­de kommt –

– die Stun­de, wo mich frös­telt und friert, die fragt und fragt und fragt: »wer hat Herz ge­nug dazu?

– wer soll der Erde Herr sein? Wer will sa­gen: so sollt ihr lau­fen, ihr gros­sen und klei­nen Strö­me!«

– die Stun­de naht: oh Mensch, du hö­he­rer Mensch, gieb Acht! die­se Rede ist für fei­ne Ohren, für dei­ne Ohren was spricht die tie­fe Mit­ter­nacht?

5

Es trägt mich da­hin, mei­ne See­le tanzt. Ta­ge­werk! Ta­ge­werk! Wer soll der Erde Herr sein?

Der Mond ist kühl, der Wind schweigt. Ach! Ach! Flogt ihr schon hoch ge­nug? Ihr tanz­tet: aber ein Bein ist doch kein Flü­gel.

Ihr gu­ten Tän­zer, nun ist alle Lust vor­bei, Wein ward Hefe, je­der Be­cher ward mür­be, die Grä­ber stam­meln.

Ihr flogt nicht hoch ge­nug: nun stam­meln die Grä­ber »er­löst doch die Tod­ten! Wa­rum ist so lan­ge Nacht? Macht uns nicht der Mond trun­ken?«

Ihr hö­he­ren Men­schen, er­löst doch die Grä­ber, weckt die Leich­na­me auf! Ach, was gräbt noch der Wurm? Es naht, es naht die Stun­de, –

– es brummt die Glo­cke, es schnarrt noch das Herz, es gräbt noch der Holz­wurm, der Her­zens­wurm. Ach! Ach! Die Welt ist tie­f!

6

Süs­se Lei­er! Süs­se Lei­er! Ich lie­be dei­nen Ton, dei­nen trun­ke­nen Un­ken-Ton! – wie lang her, wie fern her kommt mir dein Ton, weit her, von den Tei­chen der Lie­be!

Du alte Glo­cke, du süs­se Lei­er! Je­der Schmerz riss dir in’s Herz, Va­ter­schmerz, Vä­ter­schmerz, Ur­vä­ter­schmerz, dei­ne Rede wur­de reif,-

– reif gleich gol­de­nem Herbs­te und Nach­mit­tage, gleich mei­nem Ein­sied­ler­her­zen – nun re­dest du: die Welt sel­ber ward reif, die Trau­be bräunt,

– nun will sie ster­ben, vor Glück ster­ben. Ihr hö­he­ren Men­schen, riecht ih­r’s nicht? Es quillt heim­lich ein Ge­ruch her­auf,

– ein Duft und Ge­ruch der Ewig­keit, ein ro­sen­se­li­ger, brau­ner Gold-Wein-Ge­ruch von al­tem Glücke,

von trun­ke­nem Mit­ter­nachts-Ster­be­glücke, wel­ches singt: die Welt ist tief und tiefer als der Tag ge­dacht!

7

Lass mich! Lass mich! Ich bin zu rein für dich. Rüh­re mich nicht an! Ward mei­ne Welt nicht eben voll­kom­men?

Mei­ne Haut ist zu rein für dei­ne Hän­de. Lass mich, du dum­mer töl­pi­scher dump­fer Tag! Ist die Mit­ter­nacht nicht hel­ler?

Die Reins­ten sol­len der Erde Herrn sein, die Uner­kann­tes­ten, Stärks­ten, die Mit­ter­nachts-See­len, die hel­ler und tiefer sind als je­der Tag.

Oh Tag, du tappst nach mir? Du tas­test nach mei­nem Glücke? Ich bin dir reich, ein­sam, eine Schatz­gru­be, eine Gold­kam­mer?

Oh Welt, du willst mich? Bin ich dir welt­lich? Bin ich dir geist­lich? Bin ich dir gött­lich? Aber Tag und Welt, ihr seid zu plump, –

– habt klü­ge­re Hän­de, greift nach tiefe­rem Glücke, nach tiefe­rem Un­glücke, greift nach ir­gend ei­nem Got­te, greift nicht nach mir:

– mein Un­glück, mein Glück ist tief, du wun­der­li­cher Tag, aber doch bin ich kein Gott, kei­ne Got­tes-Höl­le: tief ist ihr Weh.

8

Got­tes Weh ist tiefer, du wun­der­li­che Welt! Grei­fe nach Got­tes Weh, nicht nach mir! Was bin ich! Eine trun­ke­ne süs­se Lei­er, –

 

eine Mit­ter­nachts-Lei­er, eine Glo­cken-Unke, die Nie­mand ver­steht, aber wel­che re­den muss, vor Tau­ben, ihr hö­he­ren Men­schen! Denn ihr ver­steht mich nicht!

Da­hin! Da­hin! Oh Ju­gend! Oh Mit­tag! Oh Nach­mit­tag! Nun kam Abend und Nacht und Mit­ter­nacht, – der Hund heult, der Wind:

– ist der Wind nicht ein Hund? Er win­selt, er kläfft, er heult. Ach! Ach! wie sie seufzt! wie sie lacht, wie sie rö­chelt und keucht, die Mit­ter­nacht!

Wie sie eben nüch­tern spricht, die­se trun­ke­ne Dich­te­rin! sie über­trat wohl ihre Trun­ken­heit? sie wur­de über­wach? sie käut zu­rück?

– ihr Weh käut sie zu­rück, im Trau­me, die alte tie­fe Mit­ter­nacht, und mehr noch ihre Lust. Lust näm­lich, wenn schon Weh tief ist: Lust ist tiefer noch als Her­ze­lei­d.

9

Du Wein­stock! Was prei­sest du mich? Ich schnitt dich doch! Ich bin grau­sam, du blu­test –: was will dein Lob mei­ner trun­ke­nen Grau­sam­keit?

»Was voll­kom­men ward, al­les Rei­fe – will ster­ben!« so re­dest du. Ge­seg­net, ge­seg­net sei das Win­zer­mes­ser! Aber al­les Un­rei­fe will le­ben: wehe!

Weh spricht: »Ver­geh! Weg, du Wehe!« Aber Al­les, was lei­det, will le­ben, dass es reif wer­de und lus­tig und sehn­süch­tig,

– sehn­süch­tig nach Fer­ne­rem, Hö­he­rem, Hel­le­rem. »Ich will Er­ben, so spricht Al­les, was lei­det, ich will Kin­der, ich will nicht mich,« –

Lust aber will nicht Er­ben, nicht Kin­der, – Lust will sich sel­ber, will Ewig­keit, will Wie­der­kunft, will Al­les-sich-ewig-gleich.

Weh spricht: »Brich, blu­te, Herz! Wand­le, Bein! Flü­gel, flieg! Hinan! Hin­auf! Schmerz!« Wohl­an! Wohl­auf! Oh mein al­tes Herz: Weh spricht: »ver­geh

10

Ihr hö­he­ren Men­schen, was dün­ket euch? Bin ich ein Wahr­sa­ger? Ein Träu­men­der? Trun­ke­ner? Ein Traum­deu­ter? Eine Mit­ter­nachts-Glo­cke?

Ein Trop­fen Thau’s? Ein Dunst und Duft der Ewig­keit? Hört ih­r’s nicht? Riecht ih­r’s nicht? Eben ward mei­ne Welt voll­kom­men, Mit­ter­nacht ist auch Mit­tag, –

Schmerz ist auch eine Lust, Fluch ist auch ein Se­gen, Nacht ist auch eine Son­ne, – geht da­von oder ihr lernt: ein Wei­ser ist auch ein Narr.

Sag­tet ihr je­mals ja zu Ei­ner Lust? Oh, mei­ne Freun­de, so sag­tet ihr Ja auch zu al­lem Wehe. Alle Din­ge sind ver­ket­tet, ver­fä­delt, ver­liebt, –

– woll­tet ihr je­mals Ein Mal Zwei Mal, spracht ihr je­mals »du ge­fällst mir, Glück! Husch! Au­gen­blick!« so woll­tet ihr Al­les zu­rück!

– Al­les von neu­em, Al­les ewig, Al­les ver­ket­tet, ver­fä­delt, ver­liebt, oh so lieb­tet ihr die Welt, –

– ihr Ewi­gen, liebt sie ewig und al­le­zeit: und auch zum Weh sprecht ihr: ver­geh, aber komm zu­rück! Denn alle Lust will – Ewig­keit!

11

Alle Lust will al­ler Din­ge Ewig­keit, will Ho­nig, will Hefe, will trun­ke­ne Mit­ter­nacht, will Grä­ber, will Grä­ber-Thrä­nen-Trost, will ver­gül­de­tes Aben­d­roth –

was will nicht Lust! sie ist durs­ti­ger, herz­li­cher, hung­ri­ger, schreck­li­cher, heim­li­cher als al­les Weh, sie will sich, sie bei­sst in sich, des Rin­ges Wil­le ringt in ihr, –

– sie will Lie­be, sie will Hass, sie ist über­reich, schenkt, wirft weg, bet­telt, dass Ei­ner sie nimmt, dankt dem Neh­men­den, sie möch­te gern ge­hasst sein, –

– so reich ist Lust, dass sie nach Wehe durs­tet, nach Höl­le, nach Hass, nach Schmach, nach dem Krüp­pel, nach Wel­t, – denn die­se Welt, oh ihr kennt sie ja!

Ihr hö­he­ren Men­schen, nach euch sehnt sie sich, die Lust, die un­bän­di­ge, se­li­ge, – nach eu­rem Weh, ihr Miss­rat­he­nen! Nach Miss­rat­he­nem sehnt sich alle ewi­ge Lust.

Denn alle Lust will sich sel­ber, drum will sie auch Her­ze­leid! Oh Glück, oh Schmerz! Oh brich, Herz! Ihr hö­he­ren Men­schen, lernt es doch, Lust will Ewig­keit,

– Lust will al­ler Din­ge Ewig­keit, will tie­fe, tie­fe Ewig­keit!

12

Lern­tet ihr nun mein Lied? Er­rie­thet ihr, was es will? Wohl­an! Wohl­auf! Ihr hö­he­ren Men­schen, so singt mir nun mei­nen Rund­ge­sang!

Singt mir nun sel­ber das Lied, dess Name ist »Noch ein Mal«, dess Sinn ist »in alle Ewig­keit!«, singt, ihr hö­he­ren Men­schen, Za­ra­thustra’s Rund­ge­sang!

Oh Mensch! Gieb Acht!

Was spricht die tie­fe Mit­ter­nacht?

»Ich schlief, ich schlief –,

»Aus tie­fem Traum bin ich er­wacht: –

»Die Welt ist tief,

»Und tiefer als der Tag ge­dacht.

»Tief ist ihr Weh –,

»Lust – tiefer noch als Her­ze­leid:

»Weh spricht: Ver­geh!

»Doch alle Lust will Ewig­keit

»will tie­fe, tie­fe Ewig­keit!«

Das Zeichen

Des Mor­gens aber nach die­ser Nacht sprang Za­ra­thustra von sei­nem La­ger auf, gür­te­te sich die Len­den und kam her­aus aus sei­ner Höh­le, glü­hend und stark, wie eine Mor­gen­son­ne, die aus dunklen Ber­gen kommt.

»Du gros­ses Gestirn, sprach er, wie er einst­mal ge­spro­chen hat­te, du tie­fes Glücks-Auge, was wäre all dein Glück, wenn du nicht Die hät­test, wel­chen du leuch­test!

Und wenn sie in ih­ren Kam­mern blie­ben, wäh­rend du schon wach bist und kommst und schenkst und aus­t­heilst: wie wür­de darob dei­ne stol­ze Scham zür­nen!

Wohl­an! sie schla­fen noch, die­se hö­he­ren Men­schen, wäh­rend ich wach bin: das sind nicht mei­ne rech­ten Ge­fähr­ten! Nicht auf sie war­te ich hier in mei­nen Ber­gen.

Zu mei­nem Wer­ke will ich, zu mei­nem Tage: aber sie ver­ste­hen nicht, was die Zei­chen mei­nes Mor­gens sind, mein Schritt – ist für sie kein Weck­ruf.

Sie schla­fen noch in mei­ner Höh­le, ihr Traum käut noch an mei­nen Mit­ter­näch­ten. Das Ohr, das nach mir horcht, – das ge­hor­chen­de Ohr fehlt in ih­ren Glie­dern.«

– Diess hat­te Za­ra­thustra zu sei­nem Her­zen ge­spro­chen, als die Son­ne auf­gieng: da blick­te er fra­gend in die Höhe, denn er hör­te über sich den schar­fen Ruf sei­nes Ad­lers. »Wohl­an! rief er hin­auf, so ge­fällt und ge­bührt es mir. Mei­ne Thie­re sind wach, denn ich bin wach.

Mein Ad­ler ist wach und ehrt gleich mir die Son­ne. Mit Ad­lers-Klau­en greift er nach dem neu­en Lich­te. Ihr seid mei­ne rech­ten Thie­re; ich lie­be euch.

Aber noch feh­len mir mei­ne rech­ten Men­schen!« –

Also sprach Za­ra­thustra; da aber ge­sch­ah es, dass er sich plötz­lich wie von un­zäh­li­gen Vö­geln um­schwärmt und um­flat­tert hör­te, – das Ge­schwirr so vie­ler Flü­gel aber und das Ge­dräng um sein Haupt war so gross, dass er die Au­gen schloss. Und wahr­lich, ei­ner Wol­ke gleich fiel es über ihn her, ei­ner Wol­ke von Pfei­len gleich, wel­che sich über einen neu­en Feind aus­schüt­tet. Aber sie­he, hier war es eine Wol­ke der Lie­be, und über einen neu­en Freund.

»Was ge­schieht mir?« dach­te Za­ra­thustra in sei­nem er­staun­ten Her­zen und liess sich lang­sam auf dem gros­sen Stei­ne nie­der, der ne­ben dem Aus­gan­ge sei­ner Höh­le lag. Aber, in­dem er mit den Hän­den um sich und über sich und un­ter sich griff, und den zärt­li­chen Vö­geln wehr­te, sie­he, da ge­sch­ah ihm et­was noch Selt­sa­me­res: er griff näm­lich da­bei un­ver­merkt in ein dich­tes war­mes Haar-Ge­zot­tel hin­ein; zu­gleich aber er­scholl vor ihm ein Ge­brüll, – ein sanf­tes lan­ges Lö­wen-Brül­len.

»Das Zei­chen komm­t,« sprach Za­ra­thustra und sein Herz ver­wan­del­te sich. Und in Wahr­heit, als es hel­le vor ihm wur­de, da lag ihm ein gel­bes mäch­ti­ges Gethier zu Füs­sen und schmieg­te das Haupt an sei­ne Knie und woll­te nicht von ihm las­sen vor Lie­be und that ei­nem Hun­de gleich, wel­cher sei­nen al­ten Herrn wie­der­fin­det. Die Tau­ben aber wa­ren mit ih­rer Lie­be nicht min­der eif­rig als der Löwe; und je­des Mal, wenn eine Tau­be über die Nase des Lö­wen husch­te, schüt­tel­te der Löwe das Haupt und wun­der­te sich und lach­te dazu.

Zu dem Al­len sprach Za­ra­thustra nur Ein Wort: »mei­ne Kin­der sind nahe, mei­ne Kin­der« –, dann wur­de er ganz stumm. Sein Herz aber war ge­löst, und aus sei­nen Au­gen tropf­ten Thrä­nen her­ab und fie­len auf sei­ne Hän­de. Und er ach­te­te kei­nes Dings mehr und sass da, un­be­weg­lich und ohne dass er sich noch ge­gen die Thie­re wehr­te. Da flo­gen die Tau­ben ab und zu und setz­ten sich ihm auf die Schul­ter und lieb­kos­ten sein weis­ses Haar und wur­den nicht müde mit Zärt­lich­keit und Frohlo­cken. Der star­ke Löwe aber leck­te im­mer die Thrä­nen, wel­che auf die Hän­de Za­ra­thustra’s her­ab­fie­len und brüll­te und brumm­te schüch­tern dazu. Also trie­ben es die­se Thie­re. –

Diess Al­les dau­er­te eine lan­ge Zeit, oder eine kur­ze Zeit: denn, recht ge­spro­chen, giebt es für der­glei­chen Din­ge auf Er­den k­ei­ne Zeit –. In­zwi­schen aber wa­ren die hö­he­ren Men­schen in der Höh­le Za­ra­thustra’s wach ge­wor­den und ord­ne­ten sich mit ein­an­der zu ei­nem Zuge an, dass sie Za­ra­thustra ent­ge­gen gien­gen und ihm den Mor­gen­gruss bö­ten: denn sie hat­ten ge­fun­den, als sie er­wach­ten, dass er schon nicht mehr un­ter ih­nen weil­te. Als sie aber zur Thür der Höh­le ge­lang­ten, und das Geräusch ih­rer Schrit­te ih­nen vor­an­lief, da stutz­te der Löwe ge­wal­tig, kehr­te sich mit Ei­nem Male von Za­ra­thustra ab und sprang, wild brül­lend, auf die Höh­le los; die hö­he­ren Men­schen aber, als sie ihn brül­len hör­ten, schri­en alle auf, wie mit Ei­nem Mun­de, und flo­hen zu­rück und wa­ren im Nu ver­schwun­den.

Za­ra­thustra sel­ber aber, be­täubt und fremd, er­hob sich von sei­nem Sit­ze, sah um sich, stand stau­nend da, frag­te sein Herz, be­sann sich und war al­lein. »Was hör­te ich doch? sprach er end­lich lang­sam, was ge­sch­ah mir eben?«

Und schon kam ihm die Erin­ne­rung, und er be­griff mit Ei­nem Bli­cke Al­les, was zwi­schen Ges­tern und Heu­te sich be­ge­ben hat­te. »Hier ist ja der Stein, sprach er und strich sich den Bart, auf dem sass ich ges­tern am Mor­gen; und hier trat der Wahr­sa­ger zu mir, und hier hör­te ich zu­erst den Schrei, den ich eben hör­te, den gros­sen Noth­schrei.

Oh ihr hö­he­ren Men­schen, von eu­rer Noth war’s ja, dass ges­tern am Mor­gen je­ner alte Wahr­sa­ger mir wahr­sag­te, –

– zu eu­rer Noth woll­te er mich ver­fuh­ren und ver­su­chen: oh Za­ra­thustra, sprach er zu mir, ich kom­me, dass ich dich zu dei­ner letz­ten Sün­de ver­füh­re.

Zu mei­ner letz­ten Sün­de? rief Za­ra­thustra und lach­te zor­nig über sein ei­ge­nes Wort: was blieb mir doch auf­ge­spart als mei­ne letz­te Sün­de?«

– Und noch ein Mal ver­sank Za­ra­thustra in sich und setz­te sich wie­der auf den gros­sen Stein nie­der und sann nach. Plötz­lich sprang er em­por, –

»Mit­lei­den! Das Mit­lei­den mit dem hö­he­ren Men­schen! schrie er auf, und sein Ant­litz ver­wan­del­te sich in Erz. Wohl­an! Das – hat­te sei­ne Zeit!

Mein Leid und mein Mit­lei­den – was liegt dar­an! Trach­te ich denn nach Glücke? Ich trach­te nach mei­nem Wer­ke!

Wohl­an! Der Löwe kam, mei­ne Kin­der sind nahe, Za­ra­thustra ward reif, mei­ne Stun­de kam: –

Dies ist mein Mor­gen, mein Tag hebt an: her­auf nun, her­auf, du gros­ser Mit­tag!« – –

Also sprach Za­ra­thustra und ver­liess sei­ne Höh­le, glü­hend und stark, wie eine Mor­gen­son­ne, die aus dunklen Ber­gen kommt.