Hauptwerke: Menschliches – Allzumenschliches, Also sprach Zarathustra, Jenseits von Gut und Böse

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97. Die Lust in der Sitte. – Eine wichtige Gattung der Lust und damit der Quelle der Moralität entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine Lust, und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewährt hat, also nützlich ist; eine Sitte, mit der sich leben lässt, ist als heilsam, förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewährten Versuchen. Die Sitte ist demnach die Vereinigung des Angenehmen und des Nützlichen, überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig. Sobald der Mensch Zwang ausüben kann, übt er ihn aus, um seine Sitten durchzusetzen und einzuführen, denn für ihn sind sie die bewährte Lebensweisheit. Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil man sich mit einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie gilt als die einzige Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann; das Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen. Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird bis auf die kleinsten Einzelheiten der Sitte durchgeführt: da die Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit abergläubischer Furcht darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe; selbst wo die Sitte schwer, hart, lästig ist, wird sie ihrer scheinbar höchsten Nützlichkeit wegen bewahrt. Man weiss nicht, dass der selbe Grad von Wohlbefinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst höhere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass alle Sitten, auch die härtesten, mit der Zeit angenehmer und milder werden, und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und damit zur Lust werden kann.

98. Lust und socialer Instinct. – Aus seinen Beziehungen zu andern Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von Lust zu jenen Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er das Reich der Lustempfindung überhaupt bedeutend umfänglicher macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hierher gehört, schon von den Thieren her überkommen, welche ersichtlich Lust empfinden, wenn sie mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den jungen. Sodann gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem Männchen ungefähr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen lassen, und umgekehrt. Die Lustempfindung auf Grund menschlicher Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemeinsame Freude, die Lust mitsammen genossen, erhöht dieselbe, sie giebt dem Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutmüthiger, löst das Misstrauen, den Neid: denn man fühlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher Weise sich wohl fühlen. Die gleichartigen Aeusserungen der Lust erwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gefühl etwas Gleiches zu sein: das Selbe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter, Gefahren, Feinde. Darauf baut sich dann wohl das älteste Bündniss auf: dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. Und so wächst der sociale Instinct aus der Lust heraus.

99. Das Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen. – Alle "bösen" Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse. "Schmerz bereiten an sich" existirt nicht, ausser im Gehirn der Philosophen, ebensowenig "Lust bereiten an sich" (Mitleid im Schopenhauerischen Sinne). In dem Zustand vor dem Staate tödten wir das Wesen, sei es Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere thun würden. – Die bösen Handlungen, welche uns jetzt am meisten empören, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem Belieben gelegen habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie, während wir einem Thiere viel weniger zürnen, weil wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung – ist Folge eines falschen Urtheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur Abschreckung andere Wesen hart und grausam behandeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewaltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft – und heisst nun Tugend.

100. Scham. – Die Scham existirt überall, wo es ein "Mysterium" giebt; diess aber ist ein religiöser Begriff, welcher in der älteren Zeit der menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Ueberall gab es umgränzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt versagte, ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fusse der Uneingeweihten nicht zu betreten waren und in deren Nähe Diese Schauder und Angst empfanden. Diess Gefühl wurde vielfach auf andere Verhältnisse übertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken der Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten: Verhältnisse, zu deren Schutz und Heilighaltung viele Götter thätig und im ehelichen Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heisst desshalb diess Gemach Harem "Heiligthum", wird also mit demselben Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.) So ist das Königthum als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt, dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs zu den verschämten gehören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt innerer Zustände, die sogenannte "Seele", auch jetzt noch für alle Nicht-Philosophen ein Mysterium, nachdem diese, endlose Zeit hindurch, als göttlichen Ursprungs, als göttlichen Verkehrs würdig geglaubt wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham.

101. Richtet nicht. – Man muss sich hüten, bei der Betrachtung früherer Perioden nicht in ein ungerechtes Schimpfen zu gerathen. Die Ungerechtigkeit in der Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung von Personen und Völkern ist nicht mit unserem Maasse zu messen. Denn damals war der Instinct der Gerechtigkeit noch nicht so weit gebildet. Wer darf dem Genfer Calvin die Verbrennung des Arztes Servet vorwerfen? Es war eine consequente aus seinen Ueberzeugungen fliessende Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine Consequenz, welche uns hart erscheint, weil uns jene Ansichten fremd geworden sind. Was ist übrigens Verbrennen eines Einzelnen im Vergleich mit ewigen Höllenstrafen für fast Alle! Und doch beherrschte diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel grösseren Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentlich Schaden zu thun. Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben gelernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie dort, wo wir die Anschauungen verwerfen. Die Grausamkeit gegen Thiere bei Kindern und Italiänern geht auf Unverständniss zurück; das Thier ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit hinter den Menschen zurückgesetzt worden. – Auch mildert sich vieles Schreckliche und Unmenschliche in der Geschichte, an welches man kaum glauben möchte, durch die Betrachtung, dass der Befehlende und der Ausführende andere Personen sind: ersterer hat den Anblick nicht und daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer gehorcht einem Vorgesetzten und fühlt sich unverantwortlich. Die meisten Fürsten und Militärchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam und hart, ohne es zu sein. – Der Egoismus ist nicht böse, weil die Vorstellung vom "Nächsten" -das Wort ist christlichen Ursprungs und entspricht der Wahrheit nicht – in uns sehr schwach ist; und wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und unverantwortlich fühlen. Dass der Andere leidet, ist zu lernen: und völlig kann es nie gelernt werden.

102. "Der Mensch handelt immer gut." – Wir klagen die Natur nicht als unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass macht: warum nennen wir den schädigenden Menschen unmoralisch? Weil wir hier einen willkürlich waltenden, freien Willen, dort Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum. Sodann: selbst das absichtliche Schädigen nennen wir nicht unter allen Umständen unmoralisch; man tödtet z. B. eine Mücke unbedenklich mit Absicht, blos weil uns ihr Singen missfällt, man straft den Verbrecher absichtlich und thut ihm Leid an, um uns und die Gesellschaft zu schützen. Im ersten Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu erhalten oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtlich Leid thut; im zweiten der Staat. Alle Moral lässt absichtliches Schadenthun gelten bei Nothwehr: das heisst wenn es sich um die Selbsterhaltung handelt! Aber diese beiden Gesichtspuncte genügen, um alle bösen Handlungen gegen Menschen, von Menschen ausgeübt, zu erklären: man will für sich Lust oder will Unlust abwehren; in irgend einem Sinne handelt es sich immer um Selbsterhaltung. Sokrates und Plato haben Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst: Das, was ihm gut (nützlich) scheint, je nach dem Grade seines Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernünftigkeit.

 

103. Das Harmlose an der Bosheit. – Die Bosheit hat nicht das Leid des Andern an sich zum Ziele, sondern unsern eigenen Genuss, zum Beispiel als Rachegefühl oder als stärkere Nervenaufregung. Schon jede Neckerei zeigt, wie es Vergnügen macht, am Andern unsere Macht auszulassen und es zum lustvollen Gefühle des Uebergewichts zu bringen. Ist nun das Unmoralische daran, Lust auf Grund der Unlust Anderer zu haben? Ist Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer sagt? Nun machen wir uns in der Natur Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen, Kampf mit wilden Thieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu werden. Das Wissen darum, dass ein Anderer durch uns leidet, soll hier die selbe Sache, in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich fühlen, unmoralisch machen? Aber wüsste man diess nicht, so hätte man die Lust an seiner eigenen Ueberlegenheit auch nicht dabei, diese kann eben sich nur im Leide des Anderen zuerkennen geben, zum Beispiel bei der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder gut noch böse; woher sollte die Bestimmung kommen, dass man, um Lust an sich selber zu haben, keine Unlust Anderer erregen dürfe? Allein vom Gesichtspuncte des Nutzens her, das heisst aus Rücksicht auf die Folgen, auf eventuelle Unlust, wenn der Geschädigte oder der stellvertretende Staat Ahndung und Rache erwarten lässt: nur Diess kann ursprünglich den Grund abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. – Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als, wie gesagt, die Bosheit den Schmerz des Andern an sich. Denn es birgt mindestens zwei (vielleicht mehr) Elemente einer persönlichen Lust in sich und ist dergestalt Selbstgenuss: einmal als Lust der Emotion, welcher Art Mitleid in der Tragödie ist, und dann, wenn es zur That treibt, als Lust der Befriedigung in der Ausübung der Macht. Steht uns überdiess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen durch Ausübung mitleidvoller Handlungen uns selbst ein Leid ab. – Abgesehen von einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid, in der Rangfolge moralischer Empfindungen immer ziemlich tief gestellt: mit Recht.

104. Nothwehr. – Wenn man überhaupt die Nothwehr als moralisch gelten lässt, so muss man fast alle Aeusserungen des sogenannten unmoralischen Egoismus' auch gelten lassen: man thut Leid an, raubt oder tödtet, um sich zu erhalten oder um sich zu schützen, dem persönlichen Unheil vorzubeugen; man lügt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der Selbsterhaltung sind. Absichtlich schädigen, wenn es sich um unsere Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbefindens) handelt, wird als moralisch concedirt; der Staat schädigt selber unter diesem Gesichtspunct, wenn er Strafen verhängt. Im unabsichtlichen Schädigen kann natürlich das Unmoralische nicht liegen, da regiert der Zufall. Giebt es denn eine Art des absichtlichen Schädigens, wo es sich nicht um unsere Existenz, um die Erhaltung unseres Wohlbefindens handelt? Giebt es ein Schädigen aus reiner Bosheit, zum Beispiel bei der Grausamkeit? Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, so ist sie keine Handlung der Bosheit; so ist das Kind gegen das Thier nicht boshaft, nicht böse: es untersucht und zerstört dasselbe wie sein Spielzeug. Weiss man aber je völlig, wie weh eine Handlung einem Andern thut? So weit unser Nervensystem reicht, hüten wir uns vor Schmerz: reichte es weiter, nämlich bis in die Mitmenschen hinein, so würden wir Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen Fällen, wo wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber schneiden, der Gesundheit halber uns mühen und anstrengen). Wir schliessen aus Analogie, dass Etwas jemandem weh thut, und durch die Erinnerung und die Stärke der Phantasie kann es uns dabei selber übel werden. Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes hervorruft? Also: bei dem Schädigen aus sogenannter Bosheit ist der Grad des erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt; insofern aber eine Lust bei der Handlung ist (Gefühl der eignen Macht, der eignen starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefinden des Individuums zu erhalten und fällt somit unter einen ähnlichen Gesichtspunct wie die Nothwehr, die Nothlüge. Ohne Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der Einzelne diesen Kampf so kämpft, dass die Menschen ihn gut, oder so, dass sie ihn böse nennen, darüber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit seines Intellects.

105. Die belohnende Gerechtigkeit. – Wer vollständig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin besteht, dass man jedem das Seine giebt. Denn Der, welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um fürderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken; ebenso verdient Der, welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer Aufmunterung für ihn und Andere, um also zu späteren Handlungen ein Motiv abzugeben; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen, nicht Dem, welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch Lohn sind Etwas, das Einem als das Seine zukommt; sie werden ihm aus Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch auf sie zu erheben hätte. Man muss ebenso sagen "der Weise belohnt nicht, weil gut gehandelt worden ist", als man gesagt hat "der Weise straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht schlecht gehandelt werde". Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen die kräftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu gewissen Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt der selbe Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit.

106. Am Wasserfall. – Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den zahllosen Biegungen, Schlängelungen, Brechungen der Wellen Freiheit des Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig, jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den menschlichen Handlungen; man müsste jede einzelne Handlung vorher ausrechnen können, wenn man allwissend wäre, ebenso jeden Fortschritt der Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst steckt freilich in der Illusion der Willkür; wenn in einem Augenblick das Rad der Welt still stände und ein allwissender, rechnender Verstand da wäre, um diese Pausen zu benützen, so könnte er bis in die fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererzählen und jede Spur bezeichnen, auf der jenes Rad noch rollen wird. Die Täuschung des Handelnden über sich, die Annahme des freien Willens, gehört mit hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus.

107. Unverantwortlichkeit und Unschuld. – Die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines Menschenthums zu sehen. Alle seine Schätzungen, Auszeichnungen, Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden: sein tiefstes Gefühl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem Irrthume gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu loben und zu tadeln. So wie er das gute Kunstwerk liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts für sich selber kann, wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den Handlungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann Kraft, Schönheit, Fülle an ihnen bewundern, aber darf keine Verdienste darin finden: der chemische Process und der Streit der Elemente, die Qual des Kranken, der nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste, als jene Seelenkämpfe und Nothzustände, bei denen man durch verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich für das mächtigste entscheidet – wie man sagt (in Wahrheit aber, bis das mächtigste Motiv über uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus den selben Wurzeln gewachsen, in denen wir die bösen Gifte wohnend glauben; zwischen guten und bösen Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte böse; böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umständen, der Mensch mag handeln, wie er kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache, Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkenntniss. Die Grade der Urtheilsfähigkeit entscheiden, wohin Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen lässt; fortwährend ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine Rangordnung der Güter gegenwärtig, wonach er seine Handlungen bestimmt und die der Anderen beurtheilt. Aber dieser Maassstab wandelt sich fortwährend, viele Handlungen werden böse genannt und sind nur dumm, weil der Grad der Intelligenz, welcher sich für sie entschied, sehr niedrig war. Ja, in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm, denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht werden kann, wird sicherlich noch überboten werden: und dann wird, bei einem Rückblick, all unser Handeln und Urtheilen so beschränkt und übereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen zurückgebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und übereilt vorkommt. – Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie: da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit fähig sind – wie wenige werden es sein! – wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit aus einer moralischen sich in eine weise Menschheit umwandeln könne. Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft ihren ersten Strahl auf die höchsten Gipfel in der Seele jener Einzelnen: da ballen sich die Nebel dichter, als je, und neben einander lagert der hellste Schein und die trübste Dämmerung. Alles ist Nothwendigkeit, – so sagt die neue Erkenntniss: und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust, Egoismus, Eitelkeit nothwendig zur Erzeugung der moralischen Phänomene und ihrer höchsten Blüthe, des Sinnes für Wahrheit und Gerechtigkeit der Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie das einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmählich zu diesem Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterlösung zu erheben vermochte – wer dürfte jene Mittel geringschätzen? Wer dürfte traurig sein, wenn er das Ziel, zu dem jene Wege führen, gewahr wird? Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse, es ist wahr: – aber Alles ist auch im Strome: nach Einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthümlichen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss der wachsenden Erkenntniss wird sie schwächer werden: eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Ueberschauens, pflanzt sich allmählich in uns auf dem selben Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmässig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen – das heisst die nothwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem – hervorbringt.