Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Billard und alkoholismus chronicus

Stu­der stieß zu. Die wei­ße Ku­gel roll­te über das grü­ne Tuch, klick­te an die rote, traf die Ban­de und saus­te haar­scharf an der zwei­ten wei­ßen Ku­gel vor­bei.

Stu­der stell­te die Queue auf den Bo­den, blin­zel­te und sag­te är­ger­lich:

»Bitz­li z’we­nig Ef­fet.«

Und ge­ra­de in die­sem Au­gen­bli­cke hör­te er zum ers­ten Male die dröh­nen­de Stim­me, die er noch oft hö­ren soll­te.

Die Stim­me sag­te:

»Und glaub mir, in der Af­fä­re Wit­schi ist auch nicht al­les Bock; glaub mir nur, da stimmt et­was nicht… und das weißt du ja auch. Dass sie den Schlumpf ge­schnappt ha­ben…« Mehr konn­te Stu­der nicht ver­ste­hen. Die Stil­le, die einen Au­gen­blick über dem Raum ge­schwebt hat­te, zer­sprang, der Lärm der Ge­sprä­che setz­te wie­der ein. Stu­der dreh­te sich um und sah sich an dem Mann mit der merk­wür­dig dröh­nen­den Stim­me fest.

Der war hoch­ge­wach­sen, mit ei­nem ma­ge­ren, zer­furch­ten Ge­sicht. Er saß in ei­ner Ecke des Cafés an ei­nem Tisch­chen zu­sam­men mit ei­nem klei­nen Di­cken. Der Di­cke nick­te, nick­te un­un­ter­bro­chen, wäh­rend der ma­ge­re Alte den Ell­bo­gen auf­ge­stützt hat­te und mit auf­ge­r­eck­tem Zei­ge­fin­ger wei­ter­sprach. Die Lip­pen wa­ren fast un­sicht­bar – dem Mann muss­ten alle Zäh­ne feh­len. Jetzt senk­te der Alte die Hand, hob das Glas zer­streut zum Mund, merk­te plötz­lich, dass es leer war: da zer­brach ein sehr sanf­tes Lä­cheln den har­ten Mund, so, wie ei­ner lä­chelt, der sich selbst nicht ganz ernst nimmt.

»Rösi«, sag­te er zur Kell­ne­rin, die ge­ra­de vor­bei­kam, »Rösi, noch zwei Be­cher.«

»Ja, Herr El­len­ber­ger.« Die rot­haa­ri­ge Kell­ne­rin ließ sich die Hand tät­scheln. Sie sah aus wie eine Kat­ze, die ger­ne schnur­ren möch­te, aber auf der Su­che nach ei­nem ru­hi­gen Platz ist, wo sie dies un­ge­stört tun kann.

»Du kommst…«, sag­te Stu­ders Spiel­part­ner, der No­tar Münch, der einen ho­hen stei­fen Kra­gen um sei­nen di­cken Hals trug. Und wäh­rend Stu­der mit ver­knif­fe­nen Au­gen die Stel­lung der Ku­geln prüf­te, dach­te er im­mer­fort: El­len­ber­ger? El­len­ber­ger? Und re­det von der Af­fä­re Wit­schi? Und wäh­rend er wei­ter dach­te, ob es wohl die­ser El­len­ber­ger sei, Baum­schu­len­be­sit­zer in Ger­zen­stein, Meis­ter des Schlumpf, ver­fehl­te er na­tür­lich sei­nen Stoß. Er hat­te nicht rich­tig ein­ge­krei­det, die Spit­ze der Queue sprang mit ei­nem un­an­ge­nehm ho­hen Gix von der Ku­gel ab.

Das Bil­lard­tuch, mit der sehr hel­len, nach un­ten ab­ge­blen­de­ten Lam­pe dar­über, warf einen grü­nen Schein in die Luft und gab dem Rauch, der lei­se durch die Luft wog­te, eine ku­rio­se Far­be. Ein La­chen, das wie ein Kräch­zen klang, kam vom Tisch des al­ten El­len­ber­ger, aber nicht der Alte hat­te ge­lacht, son­dern sein Beglei­ter, der klei­ne Di­cke. Und in die Stil­le, die dem La­chen folg­te, hör­te Stu­der den al­ten El­len­ber­ger sa­gen:

»Ja, der Wit­schi, der war nicht dumm. Aber der Äsch­ba­cher. Ein zwei­tä­gi­ges Kalb ist min­der…«

»Was ist los, Stu­der?« frag­te der No­tar Münch. Kei­ne Ant­wort.

Die Af­fä­re Wit­schi schi­en wirk­lich ver­hext zu sein.

Jetzt hat­te Stu­der ge­meint, sie die­sen Abend we­nigs­tens ver­ges­sen zu kön­nen.

Aber na­tür­lich: da kam man ins Café zum Bil­lard­spie­len und aus­ge­rech­net muss­te die­ser El­len­ber­ger auch hier hocken und laut über die Af­fä­re Wit­schi re­den. Dann war es na­tür­lich mit der Ruhe vor­bei…

Der Rücken des Er­mor­de­ten auf der Fo­to­gra­fie… Der Rücken, auf dem k­ei­ne Tan­nen­na­deln haf­te­ten… Die Wun­de im Hin­ter­kopf… Die ku­rio­sen Vor­na­men der Fa­mi­li­en­mit­glie­der… Wen­de­lin hieß der Va­ter, die Toch­ter Son­ja, der Sohn Ar­min. Vi­el­leicht hieß die Mut­ter Ana­sta­sia?… Wa­rum nicht?

Wit­schi… der Name klang wie Spat­zen­get­schilp. Der Wen­de­lin Wit­schi, der auf ei­nem Zehn­der den Com­mis­voya­geur1 mach­te und in ei­nem Wald er­schos­sen auf­ge­fun­den wur­de… Die Frau Wit­schi, die im Bahn­hof­ki­osk hock­te und Ro­ma­ne las…

Und wäh­rend Stu­der auf sei­ne Bil­lard­queue ge­stützt, dem Spie­le des No­tars zu­sah, der heu­te Abend in Form zu sein schi­en, hör­te er wie­der die an­ge­nehm dröh­nen­de Stim­me sa­gen:

»Was macht wohl un­ser Schlumpf? Was meinst, Cot­te­reau? Ha­ben sie ihn wohl ge­schnappt, die Tschu­cker?«

Das Wort ›T­schucker‹ gab Stu­der einen Ruck. Er war ab­ge­brüht ge­gen den Spott, dem man als Fahn­der aus­ge­setzt war. Ein­zig die­ses ver­fluch­te Wort mit dem un­an­ge­neh­men ›U‹ mach­te ihn wild. Es klin­ge so voll­ge­fres­sen, hat­te er ein­mal zu sei­ner Frau ge­äu­ßert. Und als er es jetzt aus des al­ten El­len­ber­gers Mun­de hör­te, riss es ihn her­um, und er starr­te auf den Mann.

Er be­geg­ne­te dem Blick ei­nes Au­gen­paa­res, und die­ser Blick war un­ge­müt­lich. Stu­der hielt ihn nicht lan­ge aus. Merk­wür­di­ge Au­gen hat­te der El­len­ber­ger: kalt wirk­ten sie, die Pu­pil­len wa­ren fast schlitz­för­mig, wie bei ei­ner Kat­ze. Und die Iris blau­grün, sehr hell.

»Re­van­che?« frag­te der No­tar Münch. Er hat­te still­schwei­gend eine Se­rie ge­macht und war jetzt fer­tig.

Stu­der schüt­tel­te den Kopf.

»Kennst du den dort drü­ben?« frag­te er und deu­te­te mit dem Dau­men über die Schul­ter. Der No­tar Münch schraub­te sei­nen Kopf aus dem ho­hen Kra­gen. »Den Al­ten dort? Den, der mit dem Di­cken zu­sam­men­hockt? Denk wohl!… Das ist der El­len­ber­ger. Er war heut’ bei mir. We­gen ei­nem ge­wis­sen Wit­schi… Eh, du hast doch von den Leu­ten ge­hört. Der Wit­schi, der vor ein paar Ta­gen um­ge­bracht wor­den ist. Der war dem El­len­ber­ger Geld schul­dig… Den Wit­schi hab’ ich auch ein­mal ge­se­hen…«

Der No­tar Münch schwieg und mach­te mit sei­ner rech­ten Hand, die wie eine Flos­se aus­sah, be­schwich­ti­gen­de Be­we­gun­gen. Und als Stu­der sich um­wand­te, ge­wahr­te er den al­ten El­len­ber­ger, der dem No­tar wink­te, nä­her­zu­kom­men.

Münch ging quer durch den Raum. Drü­ben, am run­den Tisch­chen, schüt­tel­te er dem al­ten El­len­ber­ger die Hand und wink­te dann Stu­der nä­her­zu­kom­men. Der Wacht­meis­ter wur­de vor­ge­stellt, es er­wies sich, dass El­len­ber­ger und Stu­der sich vom Hö­ren­sa­gen kann­ten. Üb­ri­gens war El­len­ber­gers Hand mit Tup­fen über­sät, die in der Far­be an dür­res Bu­chen­laub er­in­ner­ten.

»Hat es Euch be­lei­digt, Wacht­meis­ter Stu­der, dass ich vor­hin ›T­schucker‹ ge­sagt habe? Ich hab ge­se­hen, wie Ihr ge­zuckt habt wie ein jun­ges Ross, wenn es die Gei­ßel kle­pfen hört.«

Das sei so ähn­lich, mein­te Stu­der, wie bei den Gärt­nern, die hät­ten es auch nicht gern, wenn man sie ›Krau­te­rer‹ nen­ne. Oder nicht?

Der El­len­ber­ger lach­te ein tie­fes Bass­la­chen, zwin­ker­te mit den fal­ti­gen Li­dern, saug­te die Lip­pen zwi­schen die Bil­ge­ren und schwieg. Sein Ge­sicht blieb eine lan­ge Wei­le starr; es wirk­te ur­alt und gro­tesk.

Sie sa­ßen um den klei­nen Tisch und hat­ten nicht rich­tig Platz. Ne­ben ih­nen stand ein Fens­ter of­fen, es war schwül, ein hei­ßer Wind strich drau­ßen vor­bei, und der Him­mel war mit ei­ner gif­tig­grau­en Sal­be ver­schmiert.

Die Kell­ne­rin hat­te un­auf­ge­for­dert vier hohe Glä­ser mit Bier auf den Tisch ge­stellt.

»G’­sund­heit«, sag­te Stu­der, hob das Glas, kipp­te es in den Mund, setz­te es ab. Wei­ßer Schaum blieb an sei­nem Schnurr­bart kle­ben. »Aaah…«

Mit Dau­men und Zei­ge­fin­ger ließ der El­len­ber­ger sein Glas lang­sa­me Tän­ze auf der Kar­ton­un­ter­la­ge aus­füh­ren. Dann frag­te er plötz­lich:

»Wisst Ihr et­was vom Schlumpf?«

– Er habe ihn heut mor­gen ver­haf­tet… sag­te Stu­der lei­se. – Wo? – Bei der Mut­ter.

Schwei­gen. Der alte El­len­ber­ger schüt­tel­te den Kopf, so, als sei ihm ir­gend et­was nicht klar.

– Die Tschu… die Fahn­der hät­ten nicht im­mer eine schö­ne Büetz, mein­te er dann tro­cken. Den Sohn von der Mut­ter weg­ho­len… Er, für sein Teil, tue lie­ber Ro­sen oku­lie­ren2 oder al­len­falls im Win­ter ri­go­len.

Der No­tar Münch trom­mel­te ver­le­gen auf der Mar­mor­plat­te und schraub­te an sei­nem Hals. Der klei­ne Di­cke, der Cot­te­reau hieß und also je­ner Ober­gärt­ner war, der die Lei­che ge­fun­den hat­te, schneuz­te sich in ein großes ro­tes Ta­schen­tuch.

Stu­der ließ das Schwei­gen über dem Tisch lie­gen und blick­te am al­ten El­len­ber­ger vor­bei durchs Fens­ter.

»Und? Wie gehts dem Schlumpf?« frag­te der Alte böse.

»Oh«, sag­te Stu­der ru­hig, »er hat sich auf­ge­hängt.«

Der No­tar schmatz­te hör­bar, er blick­te sei­nen Freund Stu­der ver­blüfft an, aber der El­len­ber­ger sprang vom Stuhl auf, stütz­te die Fäus­te auf den Tisch und frag­te laut:

»Was sagst du? Was sagst du?«

»Ja«, wie­der­hol­te Stu­der fried­lich, »er hat sich auf­ge­hängt. Ihr scheint Euch sehr für den Bur­schen zu in­ter­es­sie­ren?«

»Ah bah!« wehr­te der El­len­ber­ger ab. »Ich hab ihn nicht un­gern ge­se­hen. Er hat sich gut ge­hal­ten bei mir… Und jetzt ist er tot… So, so… Der Zwei­te, den die alte Hex’ auf dem Ge­wis­sen hat, sie und ihr… und ihr…« Der El­len­ber­ger un­ter­brach sich. »Also tot ist er?« frag­te er noch ein­mal.

– Das habe er nicht ge­sagt, mein­te Stu­der und be­trach­te­te kri­tisch sei­ne Bris­sa­go. Er sei noch zur rech­ten Zeit ge­kom­men, um den Schlumpf – man kön­ne ja sa­gen: zu ret­ten, ob­wohl…

»Also ist er nicht tot? Und wo ist er jetzt, der Schlumpf?«

»In Thun«, sag­te Stu­der ge­müt­lich und ver­steck­te sei­ne Au­gen un­ter sei­nen Li­dern. »In Thun, in der Kisch­te.« Er, Stu­der, habe auch mit dem Un­ter­su­chungs­rich­ter ge­re­det, ein gä­bi­ger Mann, der Fall sei nicht hoff­nungs­los, aber dun­kel, dun­kel… Das sei das Elend.

 

»Und das Ge­richt will kla­re Fäl­le, das gibt schö­ne Ver­hand­lun­gen… Aber der Schlumpf leug­net al­les ab, der Fall kommt vor die As­si­sen, na­tür­lich… Und man weiß ja, wie Ge­schwo­re­ne sin­d…« Das al­les un­ter­bro­chen von lan­gen Zü­gen, ab­wech­selnd am Bier­glas und an der Bris­sa­go.

»Aber«, fuhr Stu­der fort, »Ihr habt da einen Satz nicht be­en­digt. Wen habt Ihr ge­meint mit der Hexe? Die Frau Wit­schi?«

El­len­ber­ger wich der Fra­ge aus.

»Wenn Ihr et­was wis­sen wollt, Wacht­meis­ter, müsst Ihr nach Ger­zen­stein kom­men, Euch das Kaff an­schau­en. Es lohnt sich…« Dann seuf­zend: »Ja, der Wit­schi hat’s nicht gut ge­habt. Hat mir oft ge­klagt, der alte Schnap­ser… Aber vie­le sau­fen… Hei­ra­tet nie, Wacht­meis­ter.«

– Er sei schon ver­hei­ra­tet, sag­te Stu­der, und kön­ne nicht kla­gen. – So, ge­schnapst habe der Wit­schi? – Ja, mein­te der El­len­ber­ger, so arg, dass der Äsch­ba­cher, der Ge­mein­de­prä­si­dent – der Mann schaue aus wie eine Sau, die den Rot­lauf habe – den Wit­schi habe nach Han­sen ver­sen­ken wol­len… (Han­sen nennt man im Kan­ton Bern die Ar­beits­an­stalt St. Jo­hann­sen).

Nach ei­ner Wei­le frag­te der El­len­ber­ger:

»Hat er von mir ge­spro­chen, der Er­win?«

Stu­der be­jah­te. Der Schlumpf habe sei­nen Meis­ter ge­rühmt. Seit wann denn der El­len­ber­ger der Für­sor­ge für ent­las­se­ne Sträf­lin­ge bei­ge­tre­ten sei?

»Für­sor­ge?« Die Für­sor­ge kön­ne ihm ge­stoh­len wer­den. Er brau­che bil­li­ge Ar­beits­kräf­te, voilá tout. Und dass er die Bur­schen an­stän­dig be­hand­le, das ge­hö­re zum Ge­schäft, sonst wür­den sie ihm wie­der draus­lau­fen. Er, der El­len­ber­ger, sei zu viel in der Welt her­um­ge­kom­men, die bra­ven Leu­te bräch­ten ihn zum Kot­zen, aber die schwar­zen Scha­fe, wie man so schön sage, die sorg­ten für Ab­wechs­lung. Von ei­nem Tag auf den an­de­ren kön­ne man in der schöns­ten Kri­mi­nal­ge­schich­te drin­nen ste­cken, an ei­nem Mord­fall be­tei­ligt sein, par ex­em­ple, und dann wer­de es spa­ßig.

Der alte El­len­ber­ger stand auf:

»Ich muss heim, Wacht­meis­ter, komm, Cot­te­reau… Ich denk, wir wer­den uns noch ein­mal se­hen… Be­su­chet mich dann, wenn Ihr nach Ger­zen­stein komm­t… Lä­bet wohl…«

Der alte El­len­ber­ger wink­te der Kell­ne­rin, sag­te: »Al­les«, gab ein zünf­ti­ges Trink­geld. Dann schritt er zur Tür. Das letz­te, das Wacht­meis­ter Stu­der an dem Al­ten fest­stell­te, war si­cher merk­wür­dig ge­nug: Der El­len­ber­ger trug zu ei­nem schlechts­it­zen­den An­zug aus Halb­lei­nen ein Paar brau­ne, mo­der­ne Halb­schu­he. Die schwar­zen So­cken, die un­ter den zu kur­z­en Ho­sen her­vor­lug­ten, wa­ren aus schwar­zer Sei­de…

Am nächs­ten Mor­gen schrieb Wacht­meis­ter Stu­der sei­nen Rap­port. Das Büro roch nach Staub, Bo­den­öl und kal­tem Zi­gar­ren­rauch. Die Fens­ter wa­ren ge­schlos­sen. Drau­ßen reg­ne­te es, die paar war­men Tage wa­ren eine Täu­schung ge­we­sen, ein sau­rer Wind blies durch die Stra­ßen und Stu­der war schlech­ter Lau­ne. Wie soll­te man die­sen Rap­port schrei­ben? Viel­mehr, was schrei­ben, was aus­las­sen?

Da rief eine Stim­me von der Türe her sei­nen Na­men.

»Wa isch los?«

»Der Un­ter­su­chungs­rich­ter von Thun hat te­le­fo­niert. Du sollst nach Ger­zen­stein fah­ren… Du hast doch ges­tern den Schlumpf ver­haf­tet! Wie ist’s ge­gan­gen?«

– Der Schlumpf habe ihm durch­bren­nen wol­len auf dem Bahn­hof, sag­te Stu­der, aber es habe nicht ge­langt. Da­bei blieb er sit­zen und schau­te von un­ten her auf den Po­li­zei­haupt­mann.

»Eh«, sag­te der Haupt­mann, »dann lass den Rap­port sein. Kannst ihn spä­ter schrei­ben. Fahr jetzt ab. Am bes­ten wär’s, du wür­dest noch ins Ge­richts­me­di­zi­ni­sche ge­hen. Vi­el­leicht er­fährst du et­was.«

Das habe er so­wie­so ma­chen wol­len, sag­te Stu­der brum­mig, stand auf, nahm sei­nen Re­gen­man­tel, trat vor einen klei­nen Spie­gel und bürs­te­te sei­nen Schnurr­bart. Dann fuhr er zum In­sel­spi­tal.

Der As­sis­tent, der ihn emp­fing, trug eine wun­der­bar rot und schwarz ge­wür­fel­te Kra­wat­te, die un­ter dem stei­fen Um­leg­kra­gen zu ei­nem win­zi­gen Knöt­chen zu­sam­men­ge­zo­gen war. Wenn er sprach, leg­te er die Fin­ger der einen Hand flach auf den Bal­len der an­de­ren und mus­ter­te mit kri­ti­scher, leicht an­ge­ekel­ter Mie­ne sei­ne Fin­ger­nä­gel.

»Wit­schi?« frag­te der As­sis­tent. »Wann ist er ge­kom­men?«

»Mitt­woch, Mitt­wo­cha­bend, Herr Dok­tor«, ant­wor­te­te Stu­der und ge­brauch­te sein schöns­tes Schrift­deutsch.

»Mitt­woch? War­ten Sie, Mitt­woch sa­gen Sie? Ach, ich weiß jetzt, die Al­ko­hol­lei­che…«

»Al­ko­hol­lei­che?« frag­te Stu­der.

»Ja, den­ken Sie, 2,1 pro Mil­le Al­ko­hol­kon­zen­tra­ti­on im Blut. Der Mann muss ge­sof­fen ha­ben, be­vor er er­schos­sen wur­de… Na, ich sage Ih­nen, Herr Kom­mis­sär…«

»Wacht­meis­ter«, stell­te Stu­der tro­cken fest.

»Wir sa­gen bei uns Kom­mis­sär, es klingt bes­ser. Ver­ste­hen Sie, bit­te, nicht nur die Al­ko­hol­kon­zen­tra­ti­on, aber der Zu­stand der Or­ga­ne, ich sage Ih­nen, Herr Kom­mis­sär, so eine schö­ne Le­ber­cir­rho­se habe ich noch nie ge­se­hen. Fa­bel­haft, sage ich Ih­nen. War der Mann nie in ei­ner Ir­ren­an­stalt? Nicht? Nie wei­ße Mäu­se ge­se­hen oder Ki­ne­ma­to­graf an der Wand? Klei­ne Män­ner, die tan­zen, wis­sen Sie? So einen schö­nen, rich­tig­ge­hen­den De­li­ri­um tre­mens? Nie ge­habt? Ah, Sie wis­sen nicht. Scha­de. Und ist er­schos­sen wor­den! Schät­zungs­wei­se eine Me­ter Di­stanz, kei­ne Pul­ver­spu­ren auf der Haut, dar­um ich sage eine Me­ter. Sie ver­ste­hen?«

Stu­der grü­bel­te wäh­rend des Wort­schwal­les über eine ganz ne­ben­säch­li­che Fra­ge nach: wel­cher Na­tio­na­li­tät der jun­ge Mann mit dem klei­nen Kra­wat­ten­knöt­chen an­ge­hö­ren kön­ne… End­lich, auf das letz­te: ›Sie ver­ste­hen?‹ war er im Bil­de.

»Par­la ita­lia­no?« frag­te er freund­lich.

»Ma si­cu­ro!« Der Freu­den­aus­bruch des an­de­ren war nicht mehr zu brem­sen und Stu­der ließ ihn lä­chelnd vor­bei­rau­schen.

Der As­sis­tent war so be­geis­tert, dass er Stu­ders Arm zärt­lich un­ter den sei­nen nahm und ihn in das In­ne­re führ­te. Der Pro­fes­sor sei noch nicht da, aber er, der As­sis­tent, sei ge­nau so auf dem lau­fen­den wie der Pro­fes­sor. Er habe selbst die Sek­ti­on ge­macht. Stu­der frag­te, ob er Wit­schi noch se­hen kön­ne. Das war mög­lich. Wit­schi war kon­ser­viert wor­den. Und bald stand Stu­der vor der Lei­che.

Dies also war der Wit­schi Wen­de­lin, ge­bo­ren 1882, so­mit fünf­zig Jah­re alt: eine rie­si­ge Glat­ze, gelb wie al­tes El­fen­bein; ein arm­se­li­ger Schnurr­bart, hän­gend, spär­lich; ein wei­ches, schwam­mi­ges Dop­pel­kinn… Am merk­wür­digs­ten aber wirk­te der ru­hi­ge Aus­druck des Ge­sich­tes.

Ru­hig, ja. Jetzt, im Tode. Aber es wa­ren doch viel Run­zeln in dem Ge­sicht… Gut, dass der Mann Wit­schi sei­ne Sor­gen los war…

Auf alle Fäl­le war es aber kein Säu­fer­ge­sicht und dar­um sag­te Stu­der auch:

»Er sieht ei­gent­lich nicht aus wie ein Wald- und Wie­senal­ko­ho­li­ker…«

»Wald und Wie­senal­ko­ho­li­ker!« Wun­der­ba­rer Aus­druck!

Die bei­den be­gan­nen zu fach­sim­peln. Zwi­schen ih­nen lag noch im­mer der Kör­per des to­ten Wit­schi. So wie er da lag, war die Wun­de hin­ter dem Ohr nicht zu se­hen. Und wäh­rend Stu­der mit dem Ita­lie­ner über einen Fall von Ver­si­che­rungs­be­trug dis­ku­tier­te, der in der Fachli­te­ra­tur Auf­se­hen er­regt hat­te (ein Mann hat­te sich er­schos­sen und den Selbst­mord als Mord ka­mou­fliert), frag­te Stu­der plötz­lich:

»So et­was wäre hier nicht mög­lich, nicht wahr?« und er deu­te­te mit dem Zei­ge­fin­ger auf die Lei­che.

»Aus­ge­schlos­sen«, sag­te der Ita­lie­ner, der sich in­zwi­schen als Dr. Mala­pel­le aus Mai­land vor­ge­stellt hat­te.

»Ganz ab­so­lut un­mög­lich. Um die Wun­de her­vor­zu­brin­gen, müss­te er ge­hal­ten ha­ben sei­nen Arm so:…« Und er de­mons­trier­te die Be­we­gung mit ganz zum Schul­ter­blatt hin ver­dreh­tem Ell­bo­gen. Statt des Re­vol­vers hielt er sei­nen Füll­fe­der­hal­ter in der Hand. Die Spit­ze des Füll­fe­der­hal­ters war nur etwa zehn Zen­ti­me­ter von der Stel­le hin­ter dem rech­ten Ohr ent­fernt, an der an der Lei­che die Ein­schuss­öff­nung zu se­hen war.

»Aus­ge­schlos­sen«, wie­der­hol­te er. »Es hät­te Pul­ver­spu­ren ge­ge­ben. Und ge­ra­de weil es kei­ne sol­chen hat ge­ge­ben, ha­ben wir ge­schlos­sen, die Di­stanz hat sein müs­sen mehr als ein Me­ter.«

»Hm«, mein­te Stu­der. Er war nicht ganz über­zeugt. Er schlug das Tuch zu­rück, das über dem To­ten lag. Merk­wür­dig lan­ge Arme hat­te der Wit­schi…

»Er­ge­ben­heit!« sag­te Stu­der laut, so, als habe er end­lich ein lang ge­such­tes Wort ge­fun­den. Es be­zog sich auf den Ge­sichts­aus­druck des To­ten.

»Fa­ta­lis­mo! Ganz rich­tig! Er hat ge­wusst, es ist al­les aus. Aber ich weiß nicht, ob er hat ge­wusst, er muss ster­ben…«

»Ja«, gab Stu­der zu, »es kann sein, dass er et­was an­de­res er­war­tet hat. Aber et­was, ge­gen das man nicht an­kämp­fen kann…«

1 Com­mis­voya­geur = Hand­lungs­rei­sen­der <<<

2 ver­edeln (Bo­ta­nik) <<<

Felicitas Rose und Parker Duofold

Das Mäd­chen las einen Ro­man von Fe­li­ci­tas Rose. Ein­mal hielt sie das Buch hoch, so­dass Stu­der den Um­schlag se­hen konn­te: ein Herr in Reit­ho­sen und blan­ken Stie­feln lehn­te an ei­ner Ba­lus­tra­de, im Hin­ter­grun­de schwam­men Schwä­ne auf ei­nem Schloss­teich und ein Fräu­lein in Weiß spiel­te ver­schämt mit ih­rem Son­nen­schirm.

»Wa­rum le­sen Sie ei­gent­lich sol­chen Mist?« frag­te Stu­der. – Es gibt ge­wis­se Leu­te, die über­emp­find­lich auf Jod und Brom sind, Idio­syn­kra­sie nennt man dies… Stu­ders Idio­syn­kra­sie be­zog sich auf Fe­li­ci­tas Rose und Courths-Mah­ler. Vi­el­leicht, weil sei­ne Frau frü­her sol­che Ge­schich­ten ger­ne ge­le­sen hat­te – näch­te­lang – dann war am Mor­gen der Kaf­fee dünn und lau ge­we­sen und die Frau schmach­tend. Und schmach­ten­de Frau­en am Mor­gen…

Das Mäd­chen sah bei der Fra­ge auf, wur­de rot und sag­te böse: »Das geht Euch nichts an!« ver­such­te wei­ter zu le­sen, aber dann schi­en es ihr doch zu ver­lei­den, sie klapp­te das Buch zu und steck­te es in eine Ak­ten­map­pe, in der, wie Stu­der fest­stell­te, noch zwei schmut­zi­ge Ta­schen­tü­cher, ein Füll­fe­der­hal­ter von im­po­san­ter Di­cke und eine Hand­ta­sche ver­staut wa­ren. Dann blick­te das Mäd­chen zum Fens­ter hin­aus.

Stu­der lä­chel­te freund­lich und be­trach­te­te es auf­merk­sam. Er hat­te Zeit…

Der Zug kroch durch eine graue Land­schaft. Re­gen­trop­fen zo­gen punk­tier­te Li­ni­en aufs Glas, dann flos­sen sie, un­ten am Fens­ter, zu klei­nen trü­ben See­lein zu­sam­men. Und an­de­re Re­gen­trop­fen punk­tier­ten aufs neue die Schei­be… Hü­gel stie­gen auf, ein Wald ver­barg sich im Ne­bel…

Das Kinn des Mäd­chens war spitz. Laub­fle­cken auf dem Na­sen­sat­tel und an den sehr wei­ßen Schlä­fen… Die ho­hen Ab­sät­ze an den Schu­hen wa­ren an der In­nen­sei­te schief ge­tre­ten. So­bald sich der Schuh ver­schob, ließ er ein Loch im dunklen Strumpf se­hen, hin­ten, über der Fer­se.

Das Mäd­chen hat­te ein Abon­ne­ment ge­zeigt. Es muss­te die Stre­cke oft fah­ren. Wo­hin fuhr sie? Etwa auch nach Ger­zen­stein? Sie trug ein klei­nes Knöt­chen im Na­cken, eine Bas­ken­müt­ze über das rech­te Ohr ge­zo­gen. Das blaue Béret war stau­big.

Stu­der lä­chel­te vä­ter­lich mil­de, als ihn ein Blick des Mäd­chens streif­te. Aber das Vä­ter­lich-Mil­de zog nicht. Das Mäd­chen starr­te zum Fens­ter hin­aus.

Un­ru­hig zuck­ten die Hän­de. Die kurz­ge­schnit­te­nen Nä­gel hat­ten einen Trau­er­rand. Auf der In­nen­sei­te des rech­ten Zei­ge­fin­gers war ein Tin­ten­fleck.

Noch ein­mal öff­ne­te das Mäd­chen die Map­pe, kram­te dar­in, fand schließ­lich das Ge­such­te.

Es war ein di­cker, ech­ter Par­ker Duo­fold, ein aus­ge­spro­chen männ­li­cher Füll­fe­der­hal­ter von brau­ner Far­be.

Das Mäd­chen schraub­te die Hül­se ab, pro­bier­te die Fe­der auf dem Dau­men­na­gel, hol­te sich noch ein­mal Fe­li­ci­tas Rose aus der Map­pe, aber nicht, um dar­in zu le­sen: die letz­te Sei­te soll­te als Übungs­feld die­nen. Sie krit­zel­te. Stu­der starr­te auf die Buch­sta­ben, die ent­stan­den:

 

»Son­ja…« stand da. Und dann form­te die Fe­der an­de­re Buch­sta­ben:

»Dei­ne Dich ewig lie­ben­de Son­ja…«

Stu­der wand­te den Blick ab. Wenn das Mäd­chen jetzt auf­sah, dann wur­de es si­cher ver­le­gen oder böse. Man soll Leu­te nicht nutz­los böse oder ver­le­gen ma­chen. Man muss es oh­ne­hin nur all­zu oft tun, wenn man den Be­ruf ei­nes Fahn­ders aus­üb­t…

Der Zug­füh­rer ging durch den Wa­gen. An der Tür, die zum nächs­ten Ab­teil führ­te, wand­te sich der Mann um:

»Ger­zen­stein«, sag­te er laut.

Das Mäd­chen be­hielt den Füll­fe­der­hal­ter in der Hand, ließ Fe­li­ci­tas Rose mit dem schö­nen Gra­fen in ge­wichs­ten Reit­s­tie­feln in der Map­pe ver­schwin­den und stand auf.

Ein Trans­for­ma­to­ren­häus­chen. Vie­le Ein­fa­mi­li­en­häu­ser. Dann ein grö­ße­res Haus. Ein Schild dar­auf: ›Ger­zen­stei­ner An­zei­ger. Dru­cke­rei Emil Äsch­ba­cher‹. Da­ne­ben, im Gar­ten, ein Kä­fig aus Draht­ge­flecht. Klei­ne bun­te Sit­ti­che hock­ten ver­fro­ren auf Stan­gen. Die Brem­sen schri­en. Stu­der stand auf, pack­te sei­nen Kof­fer am Griff und schritt zur Tür. Sei­ne Ge­stalt im blau­en Re­gen­man­tel füll­te den Gang aus.

Es tröp­fel­te noch im­mer. Der Sta­ti­ons­vor­stand hat­te einen di­cken Man­tel an­ge­zo­gen, sei­ne rote Müt­ze war das ein­zig Far­bi­ge in all dem Grau. Stu­der trat auf ihn zu und frag­te ihn, wo hier der Gast­hof zum ›Bä­ren‹ sei.

»Die Bahn­hof­stra­ße hin­auf, dann links, das ers­te große Haus mit ei­nem Wirts­gar­ten da­ne­ben…« Der Sta­ti­ons­vor­stand ließ Stu­der ste­hen.

Wo war das Mäd­chen ge­blie­ben? Das Mäd­chen, das auf die letz­te Sei­te ei­nes bro­schier­ten Ro­mans mit klei­ner, et­was zitt­ri­ger Schrift ge­schrie­ben hat­te: »Dei­ne Dich ewig lie­ben­de Son­ja…« Son­ja? Es hie­ßen nicht vie­le Mäd­chen Son­ja…

Dort stand das Mäd­chen, vor dem Kiosk, des­sen Fens­ter mit far­bi­gen Ein­bän­den ta­pe­ziert war. Es beug­te sich zum klei­nen Schieb­fens­ter und Stu­der hör­te es sa­gen:

»Ich geh jetzt heim, Mut­ter. Wann kommst du?«

Ein Ge­mur­mel war die Ant­wort.

Also doch die Son­ja Wit­schi… Und die Mut­ter muss­te man sich auch gleich an­se­hen. Die Mut­ter, die durch die Ver­mitt­lung des Herrn Ge­mein­de­prä­si­den­ten Äsch­ba­cher den Bahn­hof­ki­osk er­hal­ten hat­te.

Frau Wit­schi hat­te die glei­che spit­ze Nase, das glei­che spit­ze Kinn wie ihre Toch­ter.

Stu­der kauf­te zwei Bris­sa­gos, dann schlen­der­te er über den Bahn­hof­platz. Eine Bo­gen­lam­pe. Um ih­ren So­ckel ein Beet mit ro­ten, stei­fen Tul­pen. Aus ei­nem der obe­ren Fens­ter des Bahn­ho­fes schmet­ter­te ein Laut­spre­cher den Deutschmeis­ter­marsch. Etwa fünf­zig Schrit­te vor dem Wacht­meis­ter ging das Mäd­chen Son­ja.

Vor ei­nem Coif­feur­la­den stand ein blei­cher Jüng­ling, der einen wei­ßen Man­tel mit blau­en Auf­schlä­gen trug. Son­ja trat auf den Jüng­ling zu, Stu­der blieb vor ei­nem La­den ste­hen. Er schiel­te zu dem Paar hin­über, das sich flüs­ternd un­ter­hielt, dann reich­te das Mäd­chen dem Jüng­ling einen Ge­gen­stand und trip­pel­te da­von. Aus der Tür des Coif­feur­la­dens quoll eine knöd­li­ge Stim­me: »Sie hö­ren jetzt das Zeit­zei­chen des chro­no­me­tri­schen Ob­ser­va­to­ri­ums in Neuchâtel…« Und ge­dämpft, durch die ge­schlos­se­ne Türe drang aus dem La­den, vor dem Stu­der stand, der ›Sam­bre et Meu­se‹-Mar­sch…

»Das Dorf Ger­zen­stein liebt Mu­si­k…«, stell­te der Wacht­meis­ter bei sich fest und be­trat den Coif­feur­la­den.

Er stell­te den Kof­fer ab, hing sei­nen blau­en Re­gen­man­tel an den Stän­der und nahm auf­seuf­zend in ei­nem Fau­teuil1 Platz.

»Ra­sie­ren«, sag­te er.

Als der Jüng­ling sich über Stu­der beug­te, sah der Wacht­meis­ter zwi­schen den blau­en Auf­schlä­gen des Fri­seur­man­tels, im obe­ren Wes­ten­täsch­chen, den di­cken Füll­fe­der­hal­ter, den das Mäd­chen Son­ja im Zuge aus der Map­pe ge­nom­men hat­te.

Stu­der frag­te aufs Ge­ra­te­wohl:

»Gä­big, he? Wenn man eine Freun­din hat, die ei­nem einen teu­ren Füll­fe­der­hal­ter schenkt?«

Ei­nen Au­gen­blick blieb der schau­mi­ge Pin­sel über sei­ner Wan­ge hän­gen. Stu­der be­trach­te­te die Hand, die den Pin­sel hielt. Sie zit­ter­te. Also stimm­te et­was nicht. Aber was? Stu­der sah im Spie­gel das Ge­sicht des Jüng­lings. Es war kä­sig. Die all­zu ro­ten Lip­pen wa­ren ge­schürzt und lie­ßen die obe­ren Zäh­ne se­hen, die bräun­lich und schad­haft wa­ren. Hat­te sich Son­ja in die­sen La­den­schwen­gel ver­liebt? Da war doch der Schlumpf ein an­de­rer Bursch, trotz sei­ner Ver­gan­gen­heit, trotz sei­ner Verzweif­lung ges­tern… Ges­tern? War das erst ges­tern ge­we­sen? – Da hing ei­ner am Fens­ter­kreuz, da schrie ei­ner in der Zel­le, in der noch die Käl­te des Win­ters hock­te – und drau­ßen vor den Fens­tern sang eine Klein­mäd­chen­stim­me:

»Al­le­wil, al­le­wil blib i dir treu…«

Sanft strich der Pin­sel wie­der über Stu­ders Wan­gen.

– Ob er ihn denn so er­schreckt habe, frag­te Stu­der den kä­si­gen Jüng­ling. Der schüt­tel­te den Kopf. Stu­der be­ru­hig­te ihn wei­ter. Da sei doch wei­ter nichts da­bei, wenn man von ei­ner Freun­din ein Ge­schenk er­hal­te. Ob­wohl es ihn im­mer­hin merk­wür­dig dün­ke, dass ein Mäd­chen, das Lö­cher in den St­rümp­fen habe, so teu­re Füll­fe­der­hal­ter ver­schen­ken kön­ne…

– Der Füll­fe­der­hal­ter sei eine Erb­schaft vom Va­ter… ja eine Erb­schaft.

Die Stim­me des Jüng­lings war hei­ser, so, als ob Mund, Zun­ge, Ra­chen aus­ge­dörrt sei­en.

In der Ecke schnat­ter­te der Laut­spre­cher – und plötz­lich gab es Stu­der einen Ruck. Was der Mann ir­gend­wo, ganz fern, am Mi­kro­phon er­zähl­te, ging auch ihn an. Der Jüng­ling, der ab­we­send mit dem Pin­sel in dem Be­cken ge­rührt hat­te, stell­te sei­ne Tä­tig­keit ein und ver­harr­te reg­los.

Be­son­ders ein­dring­lich sag­te die fer­ne Stim­me:

»Be­vor wir un­ser Mit­tags­kon­zert fort­set­zen, habe ich Ih­nen noch eine kur­ze Mit­tei­lung der kan­to­na­len Po­li­zei­di­rek­ti­on Bern zu ma­chen: Seit ges­tern Abend wird Herr Jean Cot­te­reau, Ober­gärt­ner in den Baum­schu­len El­len­ber­ger, Ger­zen­stein, ver­misst. Es scheint sich um eine bru­ta­le Ent­füh­rung zu han­deln, de­ren Hin­ter­grün­de bis jetzt noch nicht auf­ge­hellt sind. Der Ver­miss­te kehr­te ges­tern Abend in Beglei­tung sei­nes Meis­ters, Herrn El­len­ber­ger, mit dem Zehn-Uhr-Zug von Bern heim. Gera­de als bei­de in den Feld­weg ein­bie­gen woll­ten, der au­ßer­halb des Dor­fes Ger­zen­stein liegt, wur­den sie von ei­nem Auto mit ge­lösch­ten Lich­tern von hin­ten an­ge­fah­ren. Herr Gott­lieb El­len­ber­ger fiel mit dem Kop­fe ge­gen einen Rand­stein und er­litt eine leich­te Ge­hirn­er­schüt­te­rung. Als er aus ei­ner kur­z­en Ohn­macht er­wach­te, sah er, dass sein Beglei­ter, Herr Jean Cot­te­reau, ver­schwun­den war. Von dem Auto war kei­ne Spur zu ent­de­cken. Trotz hef­ti­ger Kopf­schmer­zen be­gab sich Herr El­len­ber­ger auf den Pos­ten der Kan­tons­po­li­zei. Die mit Hil­fe des Land­jä­ger­kor­po­rals Mur­mann und ei­ni­ger Ein­woh­ner durch­ge­führ­te Strei­fe in die Um­ge­bung des Dor­fes ver­lief re­sul­tat­los. Bis jetzt ist von dem Ver­miss­ten kei­ne Spur zu ent­de­cken ge­we­sen. Das Si­gna­le­ment2 des Ver­miss­ten gibt die Kan­tons­po­li­zei wie folgt an:

Grö­ße 1 Me­ter 60, kor­pu­lent, ro­tes Ge­sicht, spär­li­che Haa­re, schwar­zer An­zug… Sach­dien­li­che Mit­tei­lun­gen sind zu rich­ten…«

Der Jüng­ling mach­te ei­ni­ge schlei­chen­de Schrit­te. Ein Knax. Die Stim­me ver­stumm­te. Dann kam der Jüng­ling zu­rück. Das Klap­pen des Mes­sers auf dem Ab­zieh­holz war deut­lich zu hö­ren.

»Geht’s Mes­ser?« frag­te er, als er eine Wan­ge ra­siert hat­te.

Stu­der brumm­te.

Dann wie­der Schwei­gen.