Friedrich Glauser – Wachtmeister Studer

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Die Fieberkurve

Die Geschichte vom Hellseherkorporal

Da lies!«, sag­te Stu­der und hielt sei­nem Freun­de Ma­de­lin ein Te­le­gramm un­ter die Nase. Vor dem Jus­tiz­pa­last war es fins­ter, die Sei­ne rieb sich gluck­send an den Quai­mau­ern, und die nächs­te La­ter­ne war ei­ni­ge Me­ter weit ent­fernt.

»das jun­ge ja­kob­li lässt den al­ten ja­kob grü­ßen hedy«, ent­zif­fer­te der Kom­mis­sär, als er un­ter dem fla­ckern­den Gas­licht stand. Ob­wohl Ma­de­lin vor Jah­ren an der Straß­bur­ger Sûreté ge­ar­bei­tet hat­te und ihm dar­um das Deut­sche nicht ganz fremd war, mach­te es ihm doch Mühe, den Sinn des Sat­zes zu ver­ste­hen. So frag­te er:

»Was soll das hei­ßen, Stüdè­re?«

»Ich bin Groß­va­ter«, ant­wor­te­te Stu­der mür­risch. »Mei­ne Toch­ter hat einen Sohn be­kom­men.«

»Das muss man fei­ern!«, be­schloss Ma­de­lin. »Und au­ßer­dem trifft es sich güns­tig. Denn heu­te hat mich ein Mann be­sucht, der mit dem Hal­belf-Uhr-Zug in die Schweiz reist und mich ge­be­ten hat, ihn an einen dor­ti­gen Kol­le­gen zu emp­feh­len. Ich hab’ ihn auf neun Uhr in eine klei­ne Wirt­schaft bei den ›Hal­len‹ be­stell­t… Jetzt ist es…«, mit sei­nen Hän­den, die in Woll­hand­schu­hen steck­ten, knöpf­te Ma­de­lin sei­nen Über­zie­her auf, des­sen Kra­gen sich von sei­nem Hal­se ab­wölb­te, zog eine alte Sil­ber­uhr aus sei­ner Wes­ten­ta­sche und stell­te fest, dass es acht Uhr sei. »Wir ha­ben Zeit«, mein­te er be­frie­digt. Und wäh­rend ihm die Bise sei­ne un­ge­schütz­ten Lip­pen zer­riss, tat er einen tief­sin­ni­gen Auss­pruch: »Wenn man alt wird, hat man im­mer Zeit. Son­der­bar! Geht’s dir auch so, Stüdè­re?«

Stu­der brumm­te. Doch wand­te er sich brüsk um, denn eine hohe, kräch­zen­de Stim­me sag­te:

»Und ich darf doch auch Glück wün­schen? Oder? Un­se­rem ver­ehr­ten In­spek­tor? Herz­lich Glück wün­schen?«

Ma­de­lin, groß, ha­ger, und Stu­der, eben­so groß, nur mas­si­ger, mit brei­te­ren Schul­tern, wand­ten sich um. Hin­ter den bei­den hüpf­te ein win­zi­ges We­sen – zu­erst wuss­te man nicht, war es eine Frau oder ein Mann: der lan­ge Man­tel fiel bis zu den Knö­cheln, das Béret war bis zu den Au­gen­brau­en ge­zo­gen, der Woll­schal ver­hüll­te die Nase – so­dass nur die Au­gen frei­b­lie­ben, und auch die­se ver­steck­ten sich hin­ter den Glä­sern ei­ner rie­si­gen Horn­bril­le.

»Pass auf, Go­do­frey!«, sag­te der Kom­mis­sär Ma­de­lin. »Dass du dich nicht er­käl­test! Ich brauch’ dich mor­gen. Die Sa­che mit Kol­ler ist nicht klar. Aber ich hab’ die Pa­pie­re erst heu­te Abend be­kom­men. Mor­gen musst du sie un­ter­su­chen! Es stimmt et­was nicht mit den Pa­pie­ren des Kol­ler…«

»Dan­ke, Go­do­frey«, sag­te Stu­der. »Aber ich lade euch bei­de ein. Schließ­lich, wenn man Groß­va­ter ist, darf man sich nicht lum­pen las­sen…« Und er seufz­te.

Das jun­ge Ja­kob­li lässt den al­ten Ja­kob grü­ßen, dach­te er. Nun ist man Groß­va­ter und hat die Toch­ter also end­gül­tig ver­lo­ren. Wenn man Groß­va­ter ist, dann ist man alt – al­tes Ei­sen. Aber es ist doch eine Glan­zi­dee ge­we­sen, dass man die Flucht er­grif­fen hat vor der lee­ren Woh­nung auf dem Kir­chen­feld und dem un­auf­ge­wa­sche­nen Ge­schirr im Schütt­stein. Be­son­ders aber vor dem grü­nen Ka­chel­ofen im Wohn­zim­mer, den nur die Frau rich­tig an­hei­zen kann: ver­sucht man es selbst, so raucht und qualmt der Don­ner wie eine schlecht­ge­wi­ckel­te Bris­sa­go – und geht aus. Hier in Pa­ris ist man vor sol­chen Ka­ta­stro­phen si­cher. Man wohnt beim Kom­mis­sär Ma­de­lin, wird mit Ach­tung be­han­delt und ist nicht ein »Wacht­meis­ter«, son­dern ein »In­spek­tor«. Ta­ge­lang kann man bei Go­do­frey hocken, ganz oben, im La­bo­ra­to­ri­um un­term Dach des Jus­tiz­pa­las­tes und darf dem Klei­nen zu­se­hen, wie er Staub ana­ly­siert, Do­ku­men­te durch­leuch­tet. Der Bun­sen­bren­ner pfeift lei­se, der Dampf in den Heiz­kör­pern lau­ter, es riecht an­ge­nehm nach Che­mi­ka­li­en und nicht nach Bo­den­öl, wie im Amts­haus z’Bärn…

Die Mar­mor­ti­sche in der Bei­ze wa­ren recht­e­ckig und mit ge­rill­ten Pa­pier­ser­vi­et­ten ge­deckt. Ein schwar­zer Ofen stand in der Mit­te des Rau­mes, sei­ne Plat­te glüh­te. Die große Kaf­fee­ma­schi­ne summ­te auf dem Schank­tisch und der Bei­zer – Arme hat­te er, dick wie die Ober­schen­kel ei­nes nor­ma­len Men­schen – ser­vier­te ei­gen­hän­dig.

Man be­gann mit Aus­tern, und Kom­mis­sär Ma­de­lin er­gab sich sei­ner Lieb­lings­be­schäf­ti­gung. Er hat­te, ohne Stu­der zu fra­gen, einen 26er Vouvray be­stellt, drei Fla­schen auf ein­mal, und er trank ein Glas nach dem an­de­ren. Da­zwi­schen schlürf­te er schnell drei Aus­tern und kau­te sie, be­vor er sie schluck­te. Go­do­frey nipp­te an sei­nem Gla­se wie ein schüch­ter­nes Mäd­chen; sei­ne Hän­de wa­ren klein, weiß, un­be­haart.

Stu­der dach­te an sei­ne Frau, die nach Frau­en­feld ge­fah­ren war, um der Toch­ter bei­zu­ste­hen. Er war schweig­sam und ließ Go­do­frey plap­pern. Und auch Ma­de­lin schwieg. Zwei rie­si­ge Hun­de – eine ma­ge­re Dog­ge und ein zot­ti­ger Neu­fund­län­der – las­sen ru­hig und un­be­rührt das Ge­kläff ei­nes win­zi­gen Fox­ter­ri­ers über sich er­ge­hen…

Der Bei­zer stell­te eine brau­ne Ter­ri­ne mit Kut­teln auf den Tisch. Dann gab es bit­te­ren Salat, drei vol­le Fla­schen stan­den wie­der vor den Drei­en und wa­ren plötz­lich leer, zu glei­cher Zeit wie die Plat­te mit dem zer­flie­ßen­den Ca­mem­bert – er hat­te ge­stun­ken, aber er war gut ge­we­sen. – Dann öff­ne­te Kom­mis­sär Ma­de­lin sei­nen Mund zu ei­ner Rede, we­nigs­tens schi­en es so. Aber aus der Rede wur­de nichts, denn die Tür ging auf und den Raum be­trat ein Mann, der so son­der­bar ge­klei­det war, dass Stu­der sich frag­te, ob man in Pa­ris Fast­nacht vor Neu­jahr feie­re…

Der Mann trug eine schnee­wei­ße Mönchs­kut­te und auf dem Kop­fe eine Müt­ze, die aus­sah wie ein rie­si­ger, ro­ter Blu­men­topf, den ein un­ge­schick­ter Töp­fer ver­pfuscht hat. An den Fü­ßen – sie wa­ren nackt, wahr und wahr­haf­tig blutt – trug er of­fe­ne San­da­len; die Ze­hen konn­te man se­hen, den Rist; die Fer­se war be­deckt.

Und Stu­der trau­te sei­nen Au­gen nicht. Kom­mis­sär Ma­de­lin, der Pfaf­fen­fres­ser, stand auf, ging dem Man­ne ent­ge­gen, kam mit ihm zum Tisch zu­rück, stell­te ihn vor: »Pa­ter Matt­hi­as vom Or­den der Wei­ßen Vä­ter…« – nann­te Stu­ders Na­men: dies also sei der In­spek­tor der Schwei­ze­ri­schen Si­cher­heits­po­li­zei.

Wei­ßer Va­ter? Père blanc? – Dem Wacht­meis­ter war es, als träu­me er einen je­ner merk­wür­di­gen Träu­me, die uns nach ei­ner schwe­ren Krank­heit be­su­chen kom­men. Luf­tig und lus­tig zu­gleich sind sie und füh­ren uns in die Kin­der­zeit zu­rück, da man Mär­chen er­leb­t…

Denn Pa­ter Matt­hi­as sah ge­nau so aus wie das Schnei­der­lein, das »Sie­ben auf einen Streich« er­legt hat. Ein spär­li­ches grau­es Bärt­chen wuchs ihm am Kinn und am Schnurr­bart konn­te man alle Haa­re zäh­len. Ma­ger war das Ge­sicht! Nur die Far­be der Au­gen, der großen, grau­en Au­gen er­in­ner­te an das Meer, über das Wol­ken hin­zie­hen – und manch­mal blitzt kurz ein Son­nen­strahl über die Was­ser­flä­che, die so harm­los den großen Ab­grund ver­birg­t…

Wie­der drei Fla­schen…

Der Pa­ter war hung­rig. Schweig­sam ver­zehr­te er einen Tel­ler voll Kut­teln, dann noch einen… Er trank aus­gie­big, stieß mit den an­de­ren an. Er sprach das Fran­zö­si­sche mit ei­nem leich­ten Ak­zent, der Stu­der an die Hei­mat er­in­ner­te. Und rich­tig, kaum hat­te sich der Weiß­be­kut­te­te am Es­sen er­labt, sag­te er und klopf­te dem Ber­ner Wacht­meis­ter auf den Un­ter­arm:

»Ich bin ein Lands­mann von Ih­nen, ein Ber­ner…«

»A bah!«, mein­te Stu­der, dem der Wein ein we­nig in den Kopf ge­stie­gen war.

»Aber ich bin schon lan­ge im Aus­land«, fuhr der Schnei­der fort – eh, was Schnei­der! Das war ja ein Mönch! Nein, kein Mön­ch… Ein… ein Pa­ter! Ganz rich­tig! Ein wei­ßer Va­ter! Ein Va­ter, der kei­ne Kin­der hat­te – oder bes­ser, alle Men­schen wa­ren sei­ne Kin­der. Aber man selbst war Groß­va­ter… Soll­te man dies dem Lands­mann, dem Aus­land­schwei­zer er­zäh­len? Un­nö­tig! Kom­mis­sär Ma­de­lin tat es:

»Wir fei­ern un­se­ren In­spek­tor. Er hat von sei­ner Frau ein Te­le­gramm er­hal­ten, dass er Groß­va­ter ge­wor­den ist.«

Der Mönch schi­en sich zu freu­en. Er hob sein Glas, trank dem Wacht­meis­ter zu, Stu­der stieß an… Kam nicht bald der Kaf­fee? Doch, er kam, und mit ihm eine Fla­sche Rum. Und Stu­der, dem es merk­wür­dig zu­mu­te war – die­ser Vouvray! Ein hin­ter­lis­ti­ger Wein! – hör­te den Kom­mis­sär Ma­de­lin zum Bei­zer sa­gen, er sol­le die Fla­sche nur auf dem Tisch ste­hen las­sen…

Ne­ben dem Wacht­meis­ter saß Go­do­frey, der, wie vie­le klei­ne Men­schen, über­trie­ben ele­gant ge­klei­det war. Aber das stör­te Stu­der nicht wei­ter. Im Ge­gen­teil, die Nähe des Zwer­g­leins, das eine wan­deln­de En­zy­klo­pä­die der kri­mi­na­lis­ti­schen Wis­sen­schaft war, wirk­te trös­tend und be­ru­hi­gend. Der wei­ße Va­ter hat­te sei­nen Platz an der an­de­ren Sei­te des Ti­sches, ne­ben Ma­de­lin…

Und dann war Pa­ter Matt­hi­as mit Es­sen fer­tig. Er fal­te­te die Hän­de vor sei­nem Tel­ler, be­weg­te laut­los die Lip­pen – sei­ne Au­gen wa­ren ge­schlos­sen; er öff­ne­te sie wie­der, schob sei­nen Stuhl ein we­nig vom Tisch ab, schlug das lin­ke Bein über das rech­te – zwei seh­ni­ge, be­haar­te Wa­den ka­men un­ter der Kut­te zum Vor­schein. Er sag­te: »Ich muss not­wen­dig in die Schweiz, Herr In­spek­tor. Ich habe zwei Schwä­ge­rin­nen dort, die eine in Ba­sel, die an­de­re in Bern. Und es ist gut mög­lich, dass ich in Schwie­rig­kei­ten ge­ra­te und die Hil­fe der Po­li­zei brau­che. Wür­den Sie dann so freund­lich sein und mir bei­ste­hen?«

 

Stu­der schlürf­te sei­nen Kaf­fee und fluch­te in­ner­lich über Ma­de­lin, der das hei­ße Ge­tränk all­zu aus­gie­big mit Rum ge­würzt hat­te; dann blick­te er auf und er­wi­der­te (auch er be­dien­te sich der fran­zö­si­schen Spra­che):

»Die Schwei­zer Po­li­zei be­schäf­tigt sich sonst nicht mit Fa­mi­li­en­an­ge­le­gen­hei­ten. Um Ih­nen hel­fen zu kön­nen, müss­te ich wis­sen, worum es sich han­delt.«

»Das ist eine lan­ge Ge­schich­te«, sag­te Pa­ter Matt­hi­as, »und ich wage kaum, sie zu er­zäh­len, denn Sie alle«, sei­ne Hand mach­te eine kreis­för­mi­ge Be­we­gung, »wer­den mich aus­la­chen.«

Go­do­frey pro­tes­tier­te höf­lich mit sei­ner Pa­pa­gei­en­stim­me. Er nann­te den Mönch »Mein Va­ter« – »mon père«, was Stu­der aus un­er­find­li­chen Grün­den äu­ßerst ko­misch fand. Er lach­te in sei­nen Schnurr­bart hin­ein, prus­te­te wei­ter, wäh­rend er die wie­der ge­füll­te Tas­se zum Mun­de führ­te, und ließ das Prus­ten, um nicht An­stoß zu er­re­gen, in ein Bla­sen über­ge­hen – so als ob er den hei­ßen Kaf­fee ab­küh­len woll­te…

»Ha­ben Sie sich je«, frag­te Pa­ter Matt­hi­as, »mit Hell­se­hen be­schäf­tigt?«

»Kar­ten­le­gen? Kris­tall­se­hen? Te­le­pa­thie? Kryp­tom­ne­sie?« Go­do­frey lei­er­te die Fra­gen ab wie eine Li­ta­nei.

»Ich sehe, Sie sind auf dem lau­fen­den. Ha­ben Sie sich viel mit die­sen Din­gen be­schäf­tigt?«

Go­do­frey nick­te. Ma­de­lin schüt­tel­te sein Haupt und Stu­der sag­te kurz: »Schwin­del.«

Pa­ter Matt­hi­as über­hör­te das Wort. Sei­ne Au­gen wa­ren in die Fer­ne ge­rich­tet – aber die Fer­ne, hier in der klei­nen Bei­ze, war der Schank­tisch mit sei­nem glän­zen­den Per­ko­la­tor. Der Pa­tron saß da­hin­ter, die Hän­de über dem Bauch ge­fal­tet und schnarch­te. Die vier am Tisch wa­ren sei­ne ein­zi­gen Gäs­te. Das Le­ben in sei­ner Bei­ze be­gann erst ge­gen zwei Uhr, wenn die ers­ten Kar­ren mit Treib­ge­mü­se ein­tra­fen…

»Ich möch­te«, sag­te der Wei­ße Va­ter, »Ih­nen die Ge­schich­te ei­nes klei­nen Pro­phe­ten er­zäh­len, ei­nes Hell­se­hers, wenn Sie ihn so nen­nen wol­len, denn die­ser Hell­se­her ist dar­an schuld, dass ich mich hier be­fin­de, an­statt die klei­nen Pos­ten im Sü­den von Marok­ko ab­zu­klop­fen, um dort für die ver­lo­re­nen Schäf­lein der Frem­den­le­gi­on Mes­sen zu le­sen…

Wis­sen Sie, wo Géryville liegt? Vier Stun­den hin­term Mond, ge­nau­er ge­sagt in Al­ge­ri­en, auf ei­nem Hoch­pla­teau, sieb­zehn­hun­dert Me­ter über dem Mee­res­s­pie­gel, wie es die In­schrift auf ei­nem Stein ver­kün­det, der in­mit­ten des Ka­ser­nen­ho­fes steht. Hun­dert­vier­zig Ki­lo­me­ter von der nächs­ten Bahn­sta­ti­on ent­fernt. Die Luft ist ge­sund, dar­um hat mich der Pri­or dort hin­auf ge­schickt im Sep­tem­ber vo­ri­gen Jah­res, denn ich habe schwa­che Lun­gen. Es ist eine klei­ne Stadt, die­ses Géryville, we­nig Fran­zo­sen be­woh­nen sie, die Be­völ­ke­rung be­steht zum größ­ten Teil aus Ara­bern und Spa­nio­len. Mit den Ara­bern ist nicht viel an­zu­fan­gen, sie las­sen sich nicht ger­ne be­keh­ren. Sie schi­cken ihre Kin­der zu mir – das heißt, sie er­lau­ben, dass die Klei­nen zu mir kom­men… Auch ein Ba­tail­lon der Frem­den­le­gi­on lag dort oben. Die Le­gio­näre be­such­ten mich manch­mal; mein Vor­gän­ger hat­te eine Biblio­thek an­ge­legt – und da ka­men sie denn: Kor­po­rä­le, Ser­gean­ten, hin und wie­der auch ein Ge­mei­ner, schlepp­ten Bü­cher fort oder rauch­ten mei­nen Ta­bak. Manch­mal emp­fand ei­ner mei­ner Be­su­cher das Be­dürf­nis zu beich­ten… Es ge­hen selt­sa­me Din­ge vor in den See­len die­ser Men­schen, er­grei­fen­de Be­keh­run­gen, von de­nen jene kei­ne Ah­nung ha­ben, wel­che die Le­gi­on für den Ab­schaum der Mensch­heit hal­ten.

Gut… Kommt da ei­nes Abends ein Kor­po­ral zu mir, der klei­ner ist als ich; sein Ge­sicht gleicht dem ei­nes ver­krüp­pel­ten Kin­des, trau­rig und alt ist es… Er hei­ße Col­la­ni, stockt und be­ginnt dann fie­ber­haft zu spre­chen. Es ist kei­ne re­gel­rech­te kirch­li­che Beich­te, die der Mann ab­legt. Ei­nen Mo­no­log hält er eher, ein Selbst­ge­spräch. Al­ler­lei muss er sich von der See­le re­den, was nicht zu mei­ner Ge­schich­te ge­hört. Er spricht ziem­lich lang, eine hal­be Stun­de etwa. Es ist Abend und eine grün­li­che Däm­me­rung füllt das Zim­mer; sie kommt vom dor­ti­gen Herbst­him­mel, der hat manch­mal so merk­wür­di­ge Far­ben…«

Stu­der hat­te die Wan­ge auf die Hand ge­stützt und so ge­spannt lausch­te er der Er­zäh­lung, dass er gar nicht merk­te, wie er sein lin­kes Auge arg ver­zog: schief sah es aus und ge­schlitzt, wie das ei­nes Chi­ne­sen…

Das Hoch­pla­teau!… Die wei­ten Ebe­nen!… Das grü­ne Abend­licht!… Der Sol­dat, der beich­tet!…

Es war doch et­was ganz an­de­res als das, was man tag­täg­lich sah! Frem­den­le­gi­on! Der Wacht­meis­ter er­in­ner­te sich, dass auch er ein­mal hat­te en­ga­gie­ren wol­len, zwan­zig Jah­re war er da­mals alt ge­we­sen, we­gen ei­nes Strei­tes mit sei­nem Va­ter… Aber dann war er – um die Mut­ter nicht zu be­trü­ben – in der Schweiz ge­blie­ben, hat­te Kar­rie­re ge­macht und es bis zum Kom­mis­sär an der Ber­ner Stadt­po­li­zei ge­bracht. Spä­ter war jene Bank­ge­schich­te pas­siert, die ihm das Ge­nick ge­bro­chen hat­te. Und auch da­mals war wie­der der Wunsch in ihm auf­ge­stie­gen, al­les ste­hen und lie­gen zu las­sen… Doch da war sei­ne Frau, sei­ne Toch­ter – und so gab er den Plan auf, fing wie­der von vor­ne an, ge­dul­dig und be­schei­den… Nur die Sehn­sucht schlum­mer­te wei­ter in ihm: nach den Ebe­nen, nach der Wüs­te, nach den Kämp­fen. Da kam ein Pa­ter und weck­te al­les wie­der.

»Er spricht also ziem­lich lan­ge, der Kor­po­ral Col­la­ni. In sei­ner re­se­dagrü­nen Ca­pot­te sieht er aus wie ein er­ho­lungs­be­dürf­ti­ges Cha­mä­le­on. Er schweigt eine Wei­le, ich will schon auf­ste­hen und ihn mit ein paar trös­ten­den Wor­ten ent­las­sen, da be­ginnt er plötz­lich mit ganz ver­än­der­ter Stim­me, rau und tief klingt sie, so, als ob ein an­de­rer aus ihm rede, und die Stim­me kommt mir son­der­bar be­kannt vor:

›Wa­rum nimmt Ma­ma­dou das Lein­tuch vom Bett und ver­steckt es un­ter sei­ner Ca­pot­te? Ah, er will es in der Stadt ver­kau­fen, der ge­mei­ne Hund! Und ich bin für die Wä­sche ver­ant­wort­lich. Jetzt geht er die Trep­pen hin­un­ter, quer über den Hof zum Git­ter. Na­tür­lich, er wagt sich nicht an der Wa­che vor­bei! Und am Git­ter war­tet Bi­el­le auf ihn, nimmt ihm das Lein­tuch ab. Wo­hin will Bi­el­le? Aha! Er läuft zum Ju­den in der klei­nen Stra­ße… Er ver­kauft das Lein­tuch für einen Du­ro…‹«

»Ein Duro«, er­klär­te Ma­de­lin, »ist ein Fünf­fran­ken­stück aus Sil­ber…«

»Dan­ke«, sag­te Pa­ter Matt­hi­as und schwieg. Er griff un­ter den Tisch, be­schäf­tig­te sich mit sei­ner Kut­te, die ir­gend­wo eine tie­fe Ta­sche ha­ben muss­te, und för­der­te aus ihr zu­ta­ge: ein Nas­tuch, ein Ver­grö­ße­rungs­glas, einen Ro­sen­kranz, eine aus ro­ten Le­der­strei­fen ge­floch­te­ne Brief­ta­sche und end­lich eine Schnupf­ta­baks­do­se. Aus die­ser nahm er eine ge­hö­ri­ge Pri­se. Dann schneuz­te er sich laut und trom­pe­tend, der Bei­zer hin­ter dem Schank­tisch schreck­te auf, der Wei­ße Va­ter aber fuhr fort:

»Ich sage zu dem Mann: ›Col­la­ni! Wa­chen Sie auf, Kor­po­ral! Sie träu­men ja!‹ – Aber er plap­pert wei­ter: ›Ich will euch leh­ren, mi­li­tä­ri­sches Ei­gen­tum zu ver­quan­ten! Mor­gen sollt ihr Col­la­ni ken­nen­ler­nen!‹ – Da pa­cke ich den Kor­po­ral an der Schul­ter und schütt­le ihn ge­hö­rig, denn es wird mir doch un­heim­lich zu­mu­te. Er wacht wirk­lich auf und sieht sich er­staunt um. ›Wis­sen Sie, was Sie mir er­zählt ha­ben?‹, fra­ge ich. – ›Doch‹, er­wi­dert Col­la­ni. Und wie­der­holt mir, was er in der Tran­ce – so nennt man doch die­sen Zu­stand?…«

»Si­cher­lich!«, schob Go­do­frey eif­rig ein.

»… was er mir in der Tran­ce er­zählt hat. Da­rauf ver­ab­schie­det er sich. Am nächs­ten Mor­gen um acht Uhr – sehr klar war der Sep­tem­ber­mor­gen, man sah die Schotts, die großen Salz­seen, in der Fer­ne fun­keln – tret’ ich aus dem Haus und sto­ße mit Col­la­ni zu­sam­men, der vom Fou­ri­er und vom Haupt­mann be­glei­tet ist. Haupt­mann Pou­et­te er­zählt mir, Col­la­ni habe ihm ge­mel­det, dass seit ei­ni­ger Zeit Lein­tü­cher ver­schwän­den. Und Col­la­ni ken­ne so­wohl die Die­be als auch den Heh­ler. Die Die­be sei­en schon ein­ge­sperrt, nun kom­me der Heh­ler an die Rei­he. – Col­la­ni sah aus wie ein Quel­len­su­cher ohne Wün­schel­ru­te. Sei­ne Au­gen blick­ten starr, doch war er bei vol­lem Be­wusst­sein. Nur dräng­te er vor­wärts…

Ich will Sie nicht wei­ter lang­wei­len. Bei ei­nem Ju­den, der Zwie­beln, Fei­gen und Dat­teln in ei­nem win­zi­gen Läd­lein feil­hielt, fan­den wir vier Lein­tü­cher auf dem Grun­de ei­ner Oran­gen­kis­te… Ma­ma­dou war ein Ne­ger aus der vier­ten Kom­pa­gnie des Ba­tail­lons, er ge­stand den Dieb­stahl ein. Bi­el­le, ein rot­haa­ri­ger Bel­gier, ver­leg­te sich zu­erst aufs Leug­nen, dann ge­stand auch er…

Von die­ser Stun­de an nann­te man Col­la­ni nur noch den Hell­se­her­kor­po­ral, und der Ba­tail­lons­arzt, Ana­to­le Can­ta­cuzè­ne, ver­an­stal­te­te Séan­cen mit ihm: Tisch­rücken, au­to­ma­ti­sches Schrei­ben – kurz all der gott­sträf­li­che Un­sinn wur­de mit ihm ver­sucht, den hier­zu­lan­de die Spi­ri­tis­ten be­trei­ben, ohne eine Ah­nung von der Ge­fahr zu ha­ben, in die sie sich be­ge­ben.

Sie wer­den sich fra­gen, mei­ne Her­ren, warum ich Ih­nen die­se lan­ge Ge­schich­te er­zählt ha­be… Nur um Ih­nen zu be­wei­sen, dass ich nicht gleich­gül­tig blei­ben konn­te, als Col­la­ni mir eine Wo­che spä­ter Din­ge er­zähl­te, die mich, mich per­sön­lich an­gin­gen…

Es war der 28. Sep­tem­ber. Ein Diens­tag.«

Pa­ter Matt­hi­as schwieg, be­deck­te sei­ne Au­gen mit der Hand und fuhr fort:

»Col­la­ni kommt. Ich spre­che zu ihm, wie es mei­ne Pf­licht ist als Pries­ter, be­schwö­re ihn, die teuf­li­schen Ex­pe­ri­men­te zu las­sen. Er bleibt trot­zig. Und plötz­lich wird sein Blick wie­der leer, die Ober­li­der ver­de­cken halb die Au­gen, ein un­an­ge­nehm höh­ni­sches Lä­cheln zerrt sei­ne Lip­pen aus­ein­an­der, so­dass ich sei­ne brei­ten, gel­ben Zäh­ne sehe, und dann sagt er mit je­ner Stim­me, die mir so be­kannt vor­kommt: ›Hal­lo, Matt­hi­as, wie geht’s dir?‹ – Es war die Stim­me mei­nes Bru­ders, mei­nes Bru­ders, der vor fünf­zehn Jah­ren den Tod ge­fun­den hat­te!«

Die drei Män­ner um den Tisch in der klei­nen Bei­ze bei den Pa­ri­ser Markt­hal­len nah­men die­se Mit­tei­lung schweig­sam ent­ge­gen. Kom­mis­sär Ma­de­lin lä­chel­te schwach, wie man nach ei­nem schlech­ten Witz lä­chelt. Stu­ders Schnurr­bart zit­ter­te, und die Ur­sa­che die­ses Zit­terns war nicht recht fest­zu­stel­len… Nur Go­do­frey be­müh­te sich, die pein­li­che Un­wahr­schein­lich­keit der Er­zäh­lung et­was zu mil­dern. Er sag­te:

»Im­mer wie­der zwingt uns das Le­ben, mit Ge­s­pens­tern Um­gang zu pfle­gen…«

Das konn­te tief­sin­nig sein. Pa­ter Matt­hi­as sag­te sehr lei­se:

»Die frem­de und doch so ver­trau­te Stim­me re­de­te aus dem Mun­de des Hell­se­her­kor­po­rals zu mir…«

Stu­ders Schnurr­bart hör­te auf zu zit­tern, er beug­te sich über den Tisch… Die Be­to­nung des letz­ten Sat­zes! Sie klang un­echt, über­trie­ben, ge­spielt! Der Ber­ner Wacht­meis­ter blick­te zu Ma­de­lin hin­über. Das kno­chi­ge Ge­sicht des Fran­zo­sen war ein we­nig ver­zerrt. Also hat­te auch der Kom­mis­sär den Miss­ton emp­fun­den! Er hob die Hand, leg­te sie sanft auf den Tisch: »Re­den las­sen! Nicht un­ter­bre­chen!« Und Stu­der nick­te. Er hat­te ver­stan­den…

»›Hal­lo, Matt­hi­as! Kennst du mich noch? Hast du ge­meint, ich sei tot? Spring­le­ben­dig bin ich…‹ Und da be­merk­te ich zum ers­ten Male, dass Col­la­ni Deutsch re­de­te! – ›Matt­hi­as, be­eil dich, wenn du die al­ten Frau­en ret­ten willst. Sonst kom­m’ ich sie ho­len. Sie wer­den in…‹ Da ging die Stim­me, die doch nicht Col­la­nis Stim­me war, in ein Flüs­tern über, so­dass ich die nächs­ten Wor­te nicht ver­stand. Und dann wie­der, laut und deut­lich ver­nehm­bar: ›Hörst du es pfei­fen? Es pfeift und dies Pfei­fen be­deu­tet den Tod.

Fünf­zehn Jah­re hab’ ich ge­war­tet! Zu­erst die in Ba­sel, dann die in Bern! Die eine war klug, sie hat mich durch­schaut, die spar’ ich mir auf. Die an­de­re hat mei­ne Toch­ter schlecht er­zo­gen. Da­für muss sie ge­straft wer­den.‹ Ein La­chen und dann schwieg die Stim­me. Dies­mal war Col­la­nis Schlaf so tief, dass ich Mühe hat­te, den Mann zu we­cken…

End­lich klap­pen sei­ne Li­der ganz auf, er sieht mich an, er­staunt. Da fra­ge ich den Hell­se­her­kor­po­ral: ›Weißt du, was du mir er­zählt hast, mein Sohn?‹ – Zu­erst schüt­telt Col­la­ni den Kopf, dann er­wi­dert er: ›Ich sah einen Mann, den ich in Fez ge­pflegt hat­te vor fünf­zehn Jah­ren. Er ist ge­stor­ben, da­mals, an ei­nem bö­sen Fie­ber… Im Jah­re sie­ben­zehn, wäh­rend des Welt­krie­ge­s… Dann sah ich zwei Frau­en. Die eine hat­te eine War­ze ne­ben dem lin­ken Na­sen­flü­gel… Der Mann da­mals in Fez – wie hieß er? Wie hieß er nur?‹ – Col­la­ni reibt sich die Stir­ne, er fin­det den Na­men nicht, ich hel­fe ihm auch nicht – ›der Mann in Fez hat mir einen Brief ge­ge­ben. Den soll ich ab­schi­cken, nach fünf­zehn Jah­ren. Ich hab’ ihn ab­ge­schickt. An sei­nem To­des­tag. Am 20. Juli. Der Brief ist fort, ja er ist fort!‹, schreit er plötz­lich. ›Ich will mit der Sa­che nichts mehr zu tun ha­ben! Es ist un­er­träg­lich. Ja­wohl!‹, schreit er noch lau­ter, als ant­wor­te er dem Vor­wurf ei­nes Un­sicht­ba­ren. ›Ich habe eine Ko­pie be­hal­ten. Was soll ich mit der Ko­pie tun?‹ – Der Hell­se­her­kor­po­ral ringt die Hän­de. Ich be­ru­hi­ge ihn: ›Bring mir die Ab­schrift des Brie­fes, mein Sohn. Dann wird dein Ge­wis­sen ent­las­tet sein. Geh! Jetzt gleich!‹ – ›Ja, mein Va­ter‹, sagt Col­la­ni, steht auf und geht zur Türe. Ich höre noch die Nä­gel sei­ner Soh­len auf dem Stein vor mei­ner Hau­stü­re krei­schen…

 

Und dann hab’ ich ihn nie mehr ge­se­hen! Er ver­schwand aus Géryville. Man nahm an, Col­la­ni sei de­ser­tiert. Der Fall wur­de auf Be­fehl des Ba­tail­lons­kom­man­dan­ten un­ter­sucht. Man fand her­aus, dass am glei­chen Abend ein Frem­der in ei­nem Auto nach Géryville ge­kom­men und in der glei­chen Nacht wie­der ab­ge­fah­ren war. Vi­el­leicht hat er den Hell­se­her­kor­po­ral mit­ge­nom­men…«

Pa­ter Matt­hi­as schwieg. Im klei­nen Raum war ein­zig das Schnar­chen des di­cken Wir­tes zu hö­ren und da­zwi­schen, ganz lei­se, das Ti­cken ei­ner Wand­uhr…

Der Wei­ße Va­ter nahm die Hand vom Ge­sicht. Sei­ne Au­gen wa­ren leicht ge­rötet, und noch im­mer ge­mahn­te ihre Far­be an das Meer – aber nun la­gen Ne­bel­schwa­den über den Was­sern und ver­bar­gen die Son­ne. Der alte Mann, der aus­sah wie der Schnei­der Meck­meck, mus­ter­te sei­ne Zu­hö­rer.

Es war ein schwie­ri­ges Un­ter­fan­gen, drei mit al­len Was­sern ge­wa­sche­nen Kri­mi­na­lis­ten eine Ge­s­pens­ter­ge­schich­te zu er­zäh­len. Sie lie­ßen ein lan­ges Schwei­gen wal­ten, dann klopf­te der eine, Ma­de­lin, mit der fla­chen Hand auf den Tisch. Der Wirt fuhr auf.

»Vier Glä­ser!«, be­fahl der Kom­mis­sär. Er füll­te sie mit Rum, sag­te tro­cken: »Eine klei­ne Stär­kung wird Ih­nen gut­tun, mein Va­ter.« Und Pa­ter Matt­hi­as leer­te ge­hor­sam sein Glas. Stu­der zog ein läng­li­ches Le­de­re­tui aus der Bu­sen­ta­sche, stell­te be­trübt fest, dass ihm nur noch eine Bris­sa­go ver­blieb, zün­de­te sie um­ständ­lich an und gab auch Ma­de­lin Feu­er, der eine Pfei­fe ge­stopft hat­te. Mit die­ser gab der Kom­mis­sär sei­nem Schwei­zer Kol­le­gen einen Wink, eine klei­ne Auf­for­de­rung, mit dem fäl­li­gen Ver­hör zu be­gin­nen.

Stu­der rück­te nun eben­falls vom Tisch ab, leg­te die Ell­bo­gen auf die Schen­kel, fal­te­te die Hän­de und be­gann zu fra­gen, lang­sam und be­däch­tig, wäh­rend sei­ne Au­gen ge­senkt blie­ben.

»Zwei Frau­en? Ihr Bru­der hat sich wohl nicht der Bi­ga­mie schul­dig ge­macht?«

»Nein«, sag­te Pa­ter Matt­hi­as. »Er ließ sich schei­den von der ers­ten Frau und hei­ra­te­te dann ihre Schwes­ter Jo­se­pha.«

»So so. Schei­den?«, wie­der­hol­te Stu­der. »Ich dach­te, das gäbe es nicht in der ka­tho­li­schen Re­li­gi­on.« Er hob die Au­gen und sah, dass Pa­ter Matt­hi­as rot ge­wor­den war. Von der sehr ho­hen Stir­ne roll­te eine Blut­wel­le über das braun­ge­brann­te Ge­sicht – nach­her blieb die Haut merk­wür­dig grau ge­fleckt.

»Ich bin mit acht­zehn Jah­ren zur ka­tho­li­schen Re­li­gi­on über­ge­tre­ten«, sag­te Pa­ter Matt­hi­as lei­se. »Da­rauf­hin wur­de ich von mei­ner Fa­mi­lie ver­sto­ßen.«

»Was war Ihr Bru­der?«, frag­te Stu­der wei­ter.

»Geo­lo­ge. Er schürf­te im Sü­den von Marok­ko nach Er­zen: Blei, Sil­ber, Kup­fer. Für die fran­zö­si­sche Re­gie­rung. Und dann ist er in Fez ge­stor­ben.«

»Sie ha­ben den To­ten­schein ge­se­hen?«

»Er ist der zwei­ten Frau nach Ba­sel ge­schickt wor­den. Mei­ne Nich­te hat ihn ge­se­hen.«

»Sie ken­nen Ihre Nich­te?«

»Ja; sie wohnt in Pa­ris. Sie war hier bei dem Se­kre­tär mei­nes ver­stor­be­nen Bru­ders an­ge­stellt.«

»Nun«, mein­te Stu­der und zog sein No­tiz­büch­lein aus der Ta­sche – es war ein neu­es Ring­buch, das stark nach Juch­ten roch, ein Weih­nachts­ge­schenk sei­ner Frau, die sich im­mer über sei­ne bil­li­gen Wachs­tuch­büch­li ge­är­gert hat­te. Stu­der schlug es auf.

»Ge­ben Sie mir die Adres­sen Ih­rer bei­den Schwä­ge­rin­nen«, bat er höf­lich.

»Jo­se­pha Cle­man-Hor­nuss, Spa­len­berg 12, Ba­sel. – So­phie Hor­nuss, Ge­rech­tig­keits­gas­se 44, Bern.« Der Pa­ter sprach ein we­nig atem­los.

»Und Sie mei­nen wirk­lich, mein Va­ter, dass den al­ten Frau­en Ge­fahr droht?«

»Ja… wirk­lich… ich glau­be es… bei mei­ner See­le Se­lig­keit!« Wie­der hät­te Stu­der dem Männ­lein mit dem Schnei­der­bart am liebs­ten ge­sagt: »Re­den Sie we­ni­ger ge­schwol­len!« Aber das ging nicht an. Er sag­te nur:

»Ich wer­de hier in Pa­ris noch Sil­ves­ter fei­ern, dann den Nacht­zug neh­men und am Neu­jahrs­mor­gen in Ba­sel an­kom­men. Wann fah­ren Sie in die Schweiz?«

»Heut’… Heut’ nacht!«

»Dann«, sag­te Go­do­freys Pa­pa­gei­en­stim­me, »dann ha­ben Sie ge­ra­de noch Zeit, ein Taxi zu neh­men.«

»Mein Gott, ja, Sie ha­ben recht… Aber wo…?«

Kom­mis­sär Ma­de­lin tauch­te ein Stück Zu­cker in sei­nen Rum und wäh­rend er an die­sem »Canard« lutsch­te, rief er dem schnar­chen­den Bei­zer ein Wort zu.

Die­ser sprang auf, stürz­te zur Tür, steck­te zwei Fin­ger zwi­schen die Zäh­ne. So gel­lend war der Pfiff, dass sich Pa­ter Matt­hi­as die Ohren zu­hielt.

Und dann war der Ge­schich­ten­er­zäh­ler ver­schwun­den.

Kom­mis­sär Ma­de­lin brumm­te: »Ich möcht’ nur ei­nes wis­sen. Hält uns der Mann für klei­ne Kin­der? – Stüdè­re, es tut mir leid. Ich dach­te, er hät­te Wich­ti­ge­res zu er­zäh­len. Und dann war er mir emp­foh­len wor­den. Er hat Pro­tek­tio­nen, hohe Pro­tek­tio­nen!… Aber nicht ein­mal eine Run­de hat er be­zahlt! Wirk­lich, er ist ein Kind!«

»Ver­zei­hung, Chef«, ent­geg­ne­te Go­do­frey. »Das stimmt nicht. Kin­der ste­hen mit den En­geln auf du und du. Aber un­ser Pa­ter duzt die En­gel nicht…«

»Hä?« Ma­de­lin riss die Au­gen auf und auch Stu­der be­trach­te­te er­staunt das über­e­le­gan­te Zwer­g­lein.

Go­do­frey ließ sich nicht aus der Ruhe brin­gen.

»Die En­gel duzt man nur«, sag­te er, »wenn man ein lau­te­res Ge­müt hat. Un­ser Pa­ter ist vol­ler Rän­ke. Sie wer­den noch von ihm hö­ren! Aber jetzt«, er wink­te dem Wirt, »jetzt trin­ken wir Cham­pa­gner auf das Wohl des En­kel­kin­des un­se­res In­spek­tors.« Und er wie­der­hol­te die deut­schen Wor­te des Te­le­gramms: »Das jun­ge Scha­kob­li lässt den al­ten Scha­kob gris­sen…« Stu­der lach­te, dass ihm die Trä­nen in die Au­gen tra­ten und dann tat er sei­nen Beglei­tern Be­scheid.

Üb­ri­gens war es gut, dass Kom­mis­sär Ma­de­lin sei­nen Po­li­zei­aus­wels bei sich trug. Denn sonst wä­ren die drei Män­ner um zwei Uhr mor­gens si­cher we­gen Nacht­lärm ar­re­tiert wor­den. Stu­der hat­te es sich in den Kopf ge­setzt, sei­nen bei­den Beglei­tern das Lied vom »Bri­en­zer Bu­ur­li« bei­zu­brin­gen, und ein uni­for­mier­ter Po­li­zist fand einen Pa­ri­ser Bou­le­vard un­ge­eig­net für eine Ge­sangs­stun­de. Er be­ru­hig­te sich je­doch, als er den Be­ruf der drei Män­ner fest­ge­stellt hat­te. Und so konn­te Wacht­meis­ter Stu­der fort­fah­ren, sei­nen Kol­le­gen von der Pa­ri­ser Si­cher­heits­po­li­zei ber­ni­sches Kul­tur­gut zu ver­mit­teln. Er lehr­te sie: »Nie­ne geit’s so schön und lusch­tig…«, wor­auf ihm das Wort »Em­men­tal« Ge­le­gen­heit gab, den Un­ter­schied zwi­schen Greyer­zer- und Em­men­ta­ler­kä­se zu er­läu­tern. Denn in Frank­reich herrscht die ket­ze­ri­sche An­sicht, je­der Schwei­zer­kä­se stam­me aus dem Greyer­zer­lan­de…