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Als der Mann weg war, saß in ich in Omas Küche auf dem Boden und spielte mit einem Auto. Während ich unter den Stuhl kroch, auf dem kurz zuvor der fremde Mann gesessen hatte, nahm ich plötzlich einen besonderen Geruch war. Er kam von dem Kissen, das auf dem Stuhl lag. Ich konnte das Waschpulver der Jeans riechen, die der Mann getragen hatte. Es roch nach Westen! Ich nahm das Kissen in die Hand und roch an diesem Abend immer wieder daran. Nie zuvor habe ich mich so intensiv nach Freiheit und meinem Vater gesehnt wie in diesem Moment …

Ähnlich ging es uns, wenn wir Pakete aus dem Westen geschickt bekamen. Meine Mutter stellte sie immer auf den Küchentisch. Wenn ich nach Hause kam und unsere Schätze in Händen hielt, roch das alles so intensiv nach Deutschland. Die Seife. Der Kaffee. Die Schokolade. Das alles war purer Luxus für uns, den wir uns in Polen nicht leisten konnten. Außerdem schmeckten die Sachen aus dem Westen viel besser als die polnischen Produkte. Diese intensiven Geschmackserlebnisse haben sich bis heute tief in meine Erinnerungen eingegraben. Sie lassen mich noch ein bisschen mehr schätzen, wie gut es mir heute geht und was ich mir alles erarbeitet habe. Damals, in meinem kleinen Dorf im armen Polen hätte niemand damit gerechnet, dass ich einmal als Musiker Karriere machen sollte.

Kapitel 2:

Fredi besitzt kroatische Wurzeln und hat es in seinem jungen Leben nicht einfach

In bin in Deutschland geboren. Am 11. März 1971 um 4 Uhr früh im Klinikum Essen. Mein Bruder Djordje (das spricht man Georgie) war schon fast drei, als ich die Familie Malinowski komplettmachte. Ich möchte meinen Weg mit meinem Vater Josef Malinowski beginnen, denn wegen ihm hat sich alles Weitere für die Familie ergeben. Er war ursprünglich Deutscher mit polnischer Abstammung. Er hatte, wie ich, in Essen das Licht der Welt erblickt. Am 5. März 1940. Mein Vater war vier Jahre alt, als sein eigener Vater bei einem Grubenunglück auf der Zeche Zollverein in Essen ums Leben kam. Bei einer Schlechtwetterexplosion ereignete sich die Katastrophe. Einige Zeit später hat meine Oma, also die Mutter meines Vaters, dann einen Kroaten kennengelernt und ist mit ihm und ihren drei Söhnen in dessen Heimat ausgewandert.

Er hatte ihr ein sorgenfreies Leben versprochen, in einem riesigen Haus am Meer: Sie müsse nie mehr arbeiten und noch ganz viel Blabla mehr –

denn natürlich stimmte kein einziges Wort. Viele von Omas Freunden konnten ihren Wegzug nicht verstehen. Immerhin wäre sie nach dem Tod ihres Mannes, der ja durch einen Arbeitsunfall gestorben war, durch den deutschen Staat abgesichert gewesen. Sie bekam Unfall- und Witwenrente und für die Kinder Waisenrente. Von dem vielen Geld konnte sie richtig gut leben. Doch sie wollte auf niemanden hören und zog bei Nacht und Nebel mit ihrem Lover nach Kroatien.

Als sie dort angekommen waren, hat er die Ausweise von ihr und den Kindern weggeworfen, damit sie nicht wieder zurück nach Deutschland hätten gehen können. Also lebten sie fortan in einem uralten Haus, besser gesagt: in einem Stall. Ausrangierte Holztüren wurden auf den Boden gelegt, damit sie nicht auf dem kalten Boden schlafen mussten, es gab weder Strom noch heißes Wasser, meine Oma musste auf einem betagten Holzofen kochen und Gemüse auf dem Feld anbauen. Es muss die Hölle gewesen sein, doch meine Großmutter hat nie den Mut gefunden, diesen Mann zu verlassen. Tja, deshalb sind mein Vater und seine Brüder dann in ärmsten Verhältnissen groß geworden. Auch Papa blieb in Kroatien. Als er 27 war, hat er auf einer Hochzeit meine damals 17-jährige Mutter Radojka kennengelernt, auch Kroatin.

Es war bei beiden Liebe auf den ersten Blick. Meine Oma, die Mutter meiner Mutter, hat den beiden geraten, sofort zu heiraten. Sie war streng katholisch und bestand darauf, diese Beziehung quasi schon nach dem ersten Kuss zu legitimieren. Sie riet meiner Mutter: „Behalte diesen Mann. Er ist im reichen Deutschland geboren, du gehst mit ihm, und dort wirst du es dann gut haben.“ Und so ereilte meine Mutter leider dasselbe Schicksal, welches auch meiner anderen Oma schon mit ihrem kroatischen Mann zugestoßen war. Meine Eltern heirateten, als meine Mutter bereits mit meinem Bruder schwanger war. Dann zogen sie nach Deutschland, weil mein Vater seiner jungen, unerfahrenen Frau erzählt hatte, wie gut es allen Menschen dort gehe; jeder habe Arbeit, wohne in einem eigenen Haus und fahre ein großes Auto. Dass die Wirklichkeit eine andere war, ahnte meine Mutter zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Sie sind dann in Metzingen bei Stuttgart hängengeblieben. Dort fand mein Vater einen Job als Maurer, und dort wurde im Juni 1968 auch mein Bruder geboren. Sie blieben ein Jahr, wohnten in einer Einzimmerwohnung zu dritt – und dann hat es meine Mutter nicht mehr ausgehalten. Sie ging mit meinem Bruder für ein halbes Jahr zurück nach Kroatien. Mein Vater fing an zu trinken. Er kam nicht damit klar, dass sie ihn verlassen hatte. Er reiste ihr hinterher, gelobte Besserung und schaffte es tatsächlich, dass meine Mutter ein zweites Mal mit ihm nach Deutschland ging.

Sie zogen nach Essen. Dort fand mein Vater mithilfe seines Bruders eine winzige Wohnung und eine neue Arbeitsstelle als Maurer. Es war nur ein Zimmer, Bad und Toilette befanden sich auf dem Flur und wurden von allen Mietern genutzt. Als ich zur Welt kam, wohnten wir immer noch in diesem Loch. Und das sollte so bleiben, bis ich zwölf war. Wir waren sehr, sehr arm.

Aber das Schlimmste, was passierte – ich hätte beinahe meine Mutter verloren. Als ich vier Jahre alt war, ist Mama schwer erkrankt. Sie hatte Krebs, musste ins Krankenhaus und kam nach der OP direkt zur Kur. In dieser Zeit kamen mein Opa und meine Oma zu uns nach Deutschland, um mich mit nach Kroatien zu holen. Zwei Jahre sollte ich letztlich bleiben, und ich kann rückblickend sagen, dass es mir dort fantastisch ging und diese Zeit wohl zu der schönsten und sorgenfreiesten meines Lebens gehört. Bei Oma und Opa hatte ich einfach ein sehr angenehmes Leben. Ich habe dort auch viel gelernt: nähen, kochen, backen, solche Dinge. Ich hatte ja zwei Jahre Zeit, meiner Oma bei ihrer Arbeit zuzugucken. Sonst gab es nicht viel zu tun für mich. In dem kleinen Ort gab’s ja sonst keine Kinder. Spannend –

vor allem für meine Großeltern – war es trotzdem jeden Tag. Mit fünf Jahren bekam ich eine schwere Lungenentzündung und wäre fast gestorben. Meine Oma ist dann mit mir bei Wind und Wetter, ich war eingepackt in viele, viele Decken, zum Arzt gelaufen, der mir eine Spritze in den Hintern verpasste. Das werde ich nie vergessen, weil ich doch – auch heute noch – so ein Angsthase bin, wenn ich zum Arzt muss. Und einen Tag später war ich wieder total fit. Gott sei Dank. Meine Oma hat noch viele Jahre lang erzählt, dass ich fast gestorben wäre und bereits ganz blau angelaufen sei. Na ja.

Meine behütete, wunderschöne Kindheit ging also weiter. Ich habe mich danach nie wieder so geliebt gefühlt wie von meiner Oma und meinem Opa. Ich fühlte mich wie Heidi, die mit ihrem geliebten Opa und Ziegen auf der kleinen Hütte in den Bergen groß wurde. Bis irgendwann der Tag kam, als mein Vater und meine Mutter vor der Tür standen und mich abholen wollten. Ich war mittlerweile sechs und sollte nach den Sommerferien eingeschult werden. Es war ein Schock für mich. Ich weiß noch, dass ich mich, so sehr ich konnte, gewehrt habe: Wir waren in Rijeka am Bahnhof. Ich habe meinen Vater und meine Mutter geschlagen, weil ich nicht weg wollte. Ich habe mich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, in diesen Zug einzusteigen. Trotzdem haben sie mich ins Abteil geschleppt, und ich habe lauthals geweint, bis wir nach 14 Stunden in den Essener Hauptbahnhof eingefahren sind. An diesen Schmerz in meiner kleinen Kinderseele erinnere ich mich immer noch so intensiv, als wäre es gestern gewesen. Das Trauma, das mir meine Eltern bei der Trennung von meinen Großeltern zugefügt haben, ohne darüber nachzudenken, ist nachhaltiger und lebensbestimmender, als sie hätten ahnen können. Solche Erfahrungen prägen. Gerade auch, wenn man sie in frühen Jahren macht.

Als ich wieder in Essen wohnte, konnte ich kein Deutsch mehr. Ich verstand, was die (für mich fremden) Menschen in meinem Umfeld sagten, aber ich hatte vergessen, dass ich ihnen auch auf Deutsch antworten musste, damit sie mich verstehen konnten. Ich ging nach draußen auf die Straße, wo alle Kinder spielten, und habe auf Kroatisch geantwortet, wenn sie mich etwas fragten. Ich kannte die Kinder ja noch von früher, wir waren Freunde gewesen, bis ich zu meinen Großeltern gezogen war. Doch plötzlich haben sie mich ausgelacht, weil ich nicht mit ihnen reden konnte.

Ich rannte wutentbrannt nach Hause und sagte aufgebracht zu meiner Mutter: „Ich will wieder nach Kroatien, die sind alle blöd hier, die verstehen mich gar nicht.“ Meine Mutter entgegnete: „Was hast du denn gesagt? Hast du mit denen kroatisch gesprochen?“ Und ich: „Ja, aber die verstehen mich nicht.“ Da meinte sie: „Fredi, du musst doch deutsch mit ihnen sprechen.“ Als ich am nächsten Tag zum Spielen raus bin, redete ich deutsch, und alles war wieder gut. In jenem Moment machte es klick bei mir. Ich erinnerte mich daran, dass ich ja eigentlich Deutscher bin.

Der spätere Umzug in eine Dreizimmerwohnung – Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche – kam uns vor wie ein Lottogewinn. Aber nur für kurze Zeit, denn wirklich verbessert hatten wir uns nicht. Mein Bruder und ich mussten uns mit unseren Eltern das Schlafzimmer teilen. Die Fenster waren alt, es zog wie Hechtsuppe. Es gab kein Badezimmer, die Toilette war im Flur. Wir hatten keine Heizung, sondern einen Kohleofen und so gut wie keine Möbel. Meine Mama und mein Papa waren eigentlich gut zu mir. Bis auf wenige kleine Ausnahmen. Aber da komme ich gleich noch drauf zu sprechen.

 

Kurz bevor ich eingeschult wurde, hatte ich jedenfalls zum Beispiel noch nicht mal eine Schultüte. Es war schlicht kein Geld dafür da. Unten im Haus gab es einen Schreibwarenladen, „Schreibwaren Schiel“ hieß der. Früher war es gang und gäbe, dass man dort anschreiben lassen konnte. Ich habe dann so lange gebettelt, bis meine Mutter mit mir hingegangen ist und wir eine Schultüre aussuchten, die wir anschreiben ließen und in Raten abbezahlten. Ich war so stolz! Sie war blau, mit einer silberfarbenen Rakete draufgeklebt. In meiner Tüte waren jedoch nicht mal ansatzweise so viele Geschenke drin wie bei den anderen Kindern. Aber das störte mich nicht. Hauptsache, ich durfte sie im Arm halten.

Im Kunstunterricht malte ich eines Tages ein Bild, darauf waren ein blauer Himmel, das Meer und eine Riesensonne. Meine Lehrerin sagte: „Das hast du ganz toll gemalt. Du hast das beste Bild gemalt in der ganzen Klasse.“ Obwohl ich sonst gar nicht so begabt war, was Malen angeht. An diesem Tag bin ich überaus glücklich nach Hause marschiert und dachte, jetzt würden mein Papa und meine Mama mich loben. Denkste. Sie haben mich ausgelacht und meinten: „Das hast du nie im Leben selbst gemacht. So toll kannst du gar nicht malen.“ Da war ich natürlich sehr enttäuscht und habe fürchterlich geweint. Und hatte auch danach irgendwie keine Lust mehr, ihnen noch mal was zu zeigen.

Heute weiß ich, dass das Bild, das ich damals gemalt habe, sicherlich meine große innere Sehnsucht nach Kroatien widergespiegelt hat. Das Bild kam ganz tief aus meinem Inneren.

Kapitel 3:

Als Fredi sieben Jahre alt ist, stirbt sein Vater

Als ich in der ersten Klasse war, wurde mein Vater krank. Meine Mutter musste nun die Familie allein ernähren. Sie war von früh bis spät arbeiten; verschiedene Putzstellen, Geschirr spülen in einer Kneipe bis in die späte Nacht hinein usw. Wir hatten kein Geld, mein Vater war immer wieder arbeitslos gewesen, weil seine Chefs über kurz oder lang mitbekamen, dass er heimlich zur Flasche griff, und er deshalb seine Jobs verlor. Richtig lang war er aber nie ohne Arbeit. Er trank auch nicht täglich, es waren immer nur Phasen.

Eines Tages nahm er mich auf den Schoß. Meine Mutter war noch arbeiten. Es war schon abends, 22 Uhr, und mein Bruder und ich lagen bereits im Bett. Papa kam ins Zimmer, setzte sich ans Bett meines Bruders und bat mich, zu ihm zu kommen. Dann erklärte er uns, dass er bald sterben werde. Wir waren Kinder und überblickten die Bedeutung seiner Worte für unser weiteres Leben noch nicht wirklich. Er hatte Tränen in den Augen, deshalb waren wir natürlich ganz traurig, hatten Angst und sagten: „Papa, warum erzählst du denn so etwas? Das kann doch nicht sein. Nur alte Menschen müssen sterben, oder?!“ Er lächelte und sagte: „Nein. Auch Kinder oder Mamas und Papas müssen manchmal sterben. Ich bin schwerkrank und werde euch bald verlassen müssen.“

Erst viel später erfuhren mein Bruder und ich, dass Papa zu diesem Zeitpunkt noch gar keine tödliche Diagnose bekommen hatte. Aber er ahnte und spürte wohl in jener Nacht, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Papa hatte Lungenkrebs. Und leider nahm dann auch alles schnell seinen Lauf. Allerdings verschlechterte sich nicht nur seine körperliche Verfassung. Auch sein Wesen veränderte sich komplett. Anstatt liebevoll und im Einklang mit uns die ihm verbleibende Zeit zu genießen, wurde er immer launiger und boshafter und flippte oft wegen Kleinigkeiten aus. Aber nicht nur das. Manchmal schrie und schlug er wild um sich. Heute erkläre ich mir sein Verhalten mit der Todesangst, die er gehabt haben muss. Er konnte nicht offen über seine Gefühle reden und versuchte die Angst, meine Mutter und uns zu verlieren, mit sich selbst auszumachen, was leider völlig nach hinten losging. Er wurde nervös, aggressiv und laut und hat des Öfteren meine Mutter geohrfeigt.

Ich erinnere mich an eine Situation, da war ich sechseinhalb, kurz vor Papas Tod. Ich kam von der Schule nach Hause. Mein Vater lag im Bett, und meine Mutter war nicht da. Ich fragte: „Wo ist denn die Mama?“ – „Die ist weg. Die kommt auch nicht mehr“, antwortete er. Ich stand vor ihm und dachte, er mache einen Scherz. Doch er lachte nicht, und ich wollte ihn nicht unnötig anstrengen. Also ging ich ins Wohnzimmer und spielte. Als ich ins Bett ging, war meine Mutter immer noch nicht zu Hause. Ich war mir sicher, dass sie noch arbeitete, konnte jedoch die ganze Nacht über kein Auge zutun, weil ich lauschte, ob die Wohnungstür geöffnet würde. Aber sie kam nicht. Ich war schließlich todmüde, und irgendwann grübelte ich mich in den Schlaf und versuchte, mich zu beruhigen: Mensch, Fredi, die Mama kommt schon morgen früh, jetzt schlaf mal schön ein.

Doch morgens war sie immer noch nicht da. Mein Bruder schmierte uns ein Marmeladenbrot, dann gingen wir zur Schule. Papa lag im Bett. Er verlor kein Wort über Mama. Als ich von der Schule heimkam, war sie noch nicht da. Und als ich ins Bett ging auch nicht.

Am nächsten Morgen ging es meinem Papa plötzlich ganz schlecht. Er fing an, Blut zu spucken, auch aus der Nase lief Blut. Ab diesem Tag hatte er überhaupt keine Kraft mehr, aufzustehen. Er war ein Pflegefall geworden. Doch wer sollte ihn pflegen, wenn Mama nicht da war? Mama, wo bist du? Wir hatten keine Ahnung. Ich sah, wie schlecht es meinem Vater ging, und trotzdem habe ich immer noch gehofft, es würde alles wieder gut werden. Nie im Leben hätte ich daran gedacht, dass mein Vater wirklich sterben würde. Ich versuchte mich abzulenken und ging raus, um meine Mutter zu suchen. Jedes Mal, wenn ich eine Frau sah, die lange schwarze Haare hatte, bin ich ihr hinterhergerannt und habe ihr ins Gesicht geguckt. Mist, sie war es wieder nicht. Ich war sehr enttäuscht. Das war echt schlimm.

Zwei Wochen lang blieb Mama verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Weder mein Vater noch mein Onkel Karlheinz oder meine Tante Eva, die im selben Haus wohnten wie wir, sprachen über sie. Während dieser zwei Wochen ging es meinem Vater immer schlechter. Als ich eines Abends vom Spielen nach oben in unsere Wohnung kam, lag Papa nicht mehr in seinem Bett. Ich rannte zu meiner Tante runter, klingelte wie wild und schrie: „Wo ist denn der Papa?“ Sie sagte: „Der ist hier bei mir, dem geht’s grad nicht so gut.“ Ich war erleichtert. Okay, hier unten war er in guten Händen. Onkel Karlheinz war der Bruder meines Vaters, sie hatten ein enges Verhältnis, was wohl auch der schlimmen Kindheit in Kroatien geschuldet war.

In dieser Nacht kam ein Krankenwagen und holte Papa ab. Tante Eva war in unserer Wohnung. Sie flüsterte: „Kinder, ihr bleibt im Bett. Der Papa muss jetzt ins Krankenhaus.“ Dann war mein Papa im Krankenhaus, meine Mutter blieb verschwunden, und mein Bruder und ich waren allein. Wir wohnten zwar bei unserer Tante. Aber ich fühlte mich total verloren und im Stich gelassen und hatte schreckliche Verlustangst. Jetzt waren alle beide weg! Wo steckten sie denn? Die kommen nicht mehr wieder, ging es mir durch den Kopf, und ich muss bei meiner Tante bleiben. Ich will aber nicht bei meiner Tante bleiben. Ich will zu meiner Mama und zu meinem Papa.

Ich heulte Rotz und Wasser. Ein typisches Kinderverhalten eben. Zwei Tage später hatte ich mich mit der Situation arrangiert. Ich verdrängte die Wahrheit und war nach der Schule draußen bei den anderen Kindern, wir spielten. Plötzlich rief mich unsere Nachbarin zu sich und sagte: „Fredi, komm schnell her. Du sollst sofort zu deiner Tante gehen, dem Papa geht’s nicht gut im Krankenhaus.“ Sie kannte die Wahrheit, weil ihr Mann im selben Klinikzimmer lag wie mein Papa.

Meine Tante und mein Onkel sind dann sofort ins Krankenhaus gefahren –

und ich durfte nicht mitkommen. Ich wollte jedoch so gerne mit. Aber meine Tante hat es mir verboten.

Das war der letzte Tag, an dem mein Papa gelebt hat. Ich habe ihn leider nicht mehr gesehen. Das ist mittlerweile fast 40 Jahre her. Doch sobald ich an den Tag zurückdenke, weine ich sofort los. Das ist wirklich schlimm.

Als mein Onkel und meine Tante nach Hause kamen, sahen sie erschöpft und traurig aus. Sie nahmen uns in den Arm und sagten: „Papa ist gestorben.“ Ich habe geantwortet: „Siehst du, du hast mir verboten, mit ins Krankenhaus zu kommen. Ich wollte den Papa doch so gern noch mal sehen. Das geht jetzt nicht mehr …“ In diesem Moment sind viele, viele Tränen geflossen – und von meiner Mutter gab es immer noch kein Lebenszeichen.

Mein Papa starb am 9. September 1978.

Ein Tag später ist meine Tante mit uns in die Stadt gegangen, um uns schwarze Kleider zu kaufen. Trauerklamotten. Wir waren bei C&A, und ich bin herumgerannt und habe nach bunten Sachen gesucht. Ich wusste ja nicht, dass man Schwarz tragen musste, wenn der Papa gestorben ist. Tante Eva hat mir eine geklatscht und gesagt: „Spinnst du? Du musst nach schwarzen Sachen suchen!“ Aber wie gesagt, ich wusste es nicht. Eine Stunde später sind wir mit zwei Plastiktüten voll schwarzer Kleidung mit dem Bus nach Hause gefahren. Tags darauf kam eine Frau vom Jugendamt. Sie hatte irgendwie mitbekommen, dass meine Mutter weg war und mein Vater gestorben. Sie wollte meinen Bruder und mich ins Heim bringen. Doch meine Tante trat ihr energisch entgegen: „Nein, das machen Sie nicht. Mein Mann und ich nehmen unsere Neffen bei uns auf. Wir werden sie adoptieren. Wir lieben sie ohnehin schon wie eigene Kinder.“

In dem Moment klingelte es. Tante Eva öffnete die Tür – und meine Mutter kam rein. Ich war so was von heilfroh, habe geschrien vor Freude, rannte zu meiner Mutter und habe sie ganz fest gedrückt. „Mama, Mama, du bist wieder da! Geht’s dir gut?“ Sie nickte und weinte und hielt meinen Bruder und mich fest in ihren Armen.

Die strenge Frau vom Jugendamt wirkte nicht besonders erfreut und fing natürlich sofort an, Mama zu verhören: „Sie haben sich nicht um Ihre Kinder gekümmert. Wo waren Sie denn?“ – „Ich wusste nicht, dass mein Mann im Krankenhaus ist. Ich dachte, meine Kinder sind bei ihrer Tante in guten Händen. Mein Mann wollte mich umbringen. Ich bin abgehauen, weil ich Angst hatte. Ich war mir sicher, dass er den Kindern nichts tun würde, da sich ja auch meine Schwägerin um sie kümmerte. Ich wusste, meinen Jungs würde es gutgehen. Aber erst einmal musste ich mich in Sicherheit bringen.“

Na ja, da war meine Mama also wieder zurück und ich heilfroh. Wir konnten dann auch sofort wieder hoch in unsere eigene Wohnung.

Mama hat uns später erzählt, sie habe bei der Nachbarin angerufen und gefragt: „Hat sich mein Mann endlich beruhigt?“ Die habe ihr dann erzählt, dass er gestorben sei und sie nun keine Angst mehr zu haben brauche, wenn sie nach Hause komme. Natürlich kann man sich nun zurecht fragen: Wieso lässt eine Frau ihre Kinder allein beim Vater zurück, wenn dieser sie umbringen wollte? Was ist, wenn er auch den Kindern etwas angetan hätte? Es war in der Zeit seiner Krankheit ja nicht nur einmal vorgekommen, dass unser Vater unsere Mutter verprügelte. Wir haben das als Kinder alles mitbekommen.

Mein Papa hätte aber auch mich einmal beinahe mit einem Kissen erstickt. Obwohl er mich sehr liebte. Damals bin ich drei oder vier gewesen. Er war kein von Natur aus aggressiver Mensch. Nur wenn er sich im Alkoholrausch befand – und in der Zeit, als er krank war. Ich kann mich noch gut erinnern, wie das damals war, obschon ich noch so klein war. Ich verhielt mich an diesem Abend wohl ziemlich hysterisch, und mein Vater war mit der Situation komplett überfordert. Er nahm ein Kissen, drückte es mir aufs Gesicht und wollte mich so beruhigen. Was natürlich komplett nach hinten losging. Ich bekam vor lauter Panik sowieso schon keine Luft mehr und schrie noch lauter. Meine Mutter kam dann ins Zimmer gerannt: „Bist du denn verrückt geworden? Lass den Jungen in Ruhe.“ Sie stürzte sich auf ihn und schlug auf ihn ein. In dem Moment ließ er von mir ab.

Apropos: Als Baby wäre ich eines Tages fast schon einmal erstickt. Mein Papa kam damals von der Arbeit und hatte was getrunken. Meine Mutter bat ihn, auf uns Kinder aufzupassen und uns etwas zum Abendbrot zu machen. Er schob einen Braten in den Ofen und ist dann auf dem Sofa eingeschlafen. Ich lag im Bett, mein Bruder spielte. Der Braten fing an zu brennen, die ganze Wohnung war schon voller Qualm. Als meine Mutter von der Arbeit zurückkehrte, riss sie die Fenster auf. Sie erzählte mir, ich hätte einen knallroten Kopf gehabt, geschrien und total schlimm gehustet. Sie ist bis heute davon überzeugt, dass ich erstickt wäre, wenn sie nicht rechtzeitig zurückgekehrt wäre. Mein Vater hat seelenruhig seinen Rausch ausgeschlafen und nichts von dem angebrannten Stück Fleisch mitbekommen.

 

Mein Papa wurde drei Tage nach seinem Tod in Essen beerdigt. Diesen Geruch in der Leichenhalle werde ich niemals vergessen. Es stank nach Holz und Lack, ein eigenartiger Geruch war das. Hin und wieder mal, wenn ich in ein Möbelgeschäft gehe, steigt mir der Geruch von Schränken in die Nase, die so riechen wie der Sarg meines Papas. Das ist für mich ein unerträglicher Geruch …

Wir sind also in die Leichenhalle rein – meine Mutter und Tante Eva kümmerten sich um meinen Bruder und mich. Wir standen dann alle da, und meine Tante schob mich zum Sarg und sagte: „Jetzt geh mal hin, und küss deinen Vater auf die Stirn, so wie es in Kroatien üblich ist. Du siehst ja, alle hier machen das.“ Sie war streng, deshalb kannte sie keine Gnade mit mir.

Ich habe meinen Papa dann angeguckt und fand, dass er sehr schön aussah im Sarg. So blöd das auch klingen mag, aber er sah wirklich so aus, als würde er ganz friedlich schlafen. Er hatte ein Lächeln auf dem Gesicht, ein Auge war leicht geöffnet. Man hätte denken können, er würde uns zusehen, wie wir um ihn trauern. Trotzdem war er mir auch ein wenig unheimlich, und ich hatte das Gefühl, dass dieser Mann hier nicht mein Papa war, weil er sich gar nicht bewegte. Als ich ihn dann küssen sollte, bin ich aus der Leichenhalle abgehauen. Ich rannte raus, habe fürchterlich geweint und wiederholte ständig: „Den Mann küsse ich nicht. Das ist doch nicht mein Vater. Warum bewegt er sich denn nicht?“

Beim Leichenschmaus passierte etwas Skurriles. Heute kann ich darüber lachen. Als Kind war ich jedoch einfach nur schockiert. Unter den Gästen befand sich auch eine uralte Tante meines Vaters. Sie hieß Tante Luise und stammte aus der deutschen Familie meines Vaters, wir hatten nie engen Kontakt mit ihr gehabt. So saßen wir also bei Kaffee und Kuchen, ich bekam ohnehin keinen Bissen runter, weil ich so traurig war, und mitten in die Stille hinein sagte diese alte Frau: „Wisst ihr was: Wenn ich sterbe, könnt ihr mich auf den Bauch legen und alle mal am Arsch lecken.“ Es war mucksmäuschenstill. Ich riss die Augen auf und dachte: Wie kann sie denn bloß so etwas sagen? Dann fing ich an zu weinen und sagte, das sei doch mein Papa, wie sie so etwas Böses sagen könne? Ich war entsetzt. Das war nicht lustig. Niemand hat in dem Moment gelacht.