Der fliegende Holländer

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Drittes Kapitel

lebhaften Eindruck auf Philipp Vanderdecken gemacht, dessen Brust jetzt außer der früheren Last eine neue Aufregung bedrückte. Zu Hause angelangt, ging er die Treppe hinauf und warf sich auf das Bett, aus welchem ihn Mynheer Poots geweckt hatte. Anfangs rief er sich die im vorigen Kapitel geschilderten Scenen wieder in's Gedächtnis und führte seiner Einbildungskraft die Züge des holden Mädchens, ihre Augen, den Ausdruck ihres Antlitzes, ihre Silberstimme und die Worte, welche sie gesprochen hatte, vor; aber die liebliche Gestalt wurde bald durch den Gedanken verscheucht, dass die Leiche seiner Mutter im anstoßenden Gemache liege und seines Vaters Geheimniß im unteren Gemache verborgen sei.

Die Beerdigung sollte am andern Morgen stattfinden, und Philipp, der seit seinem Zusammentreffen mit der Tochter von Mynheer Poots nicht mehr so dringend verlangte, das Zimmer alsbald zu öffnen, beschloss, dieses Werk erst nach Vollziehung der Bestattung vorzunehmen. Mit diesem Entschlusse schlief er, körperlich und geistig sehr erschöpft, ein und erwachte erst am andern Morgen, als er von dem Priester geweckt wurde, um dem Leichengottesdienste anzuwohnen. Nach einer Stunde war Alles vorüber; das Leichengefolge zerstreute sich, und Philipp kehrte nach der Hütte zurück; er verriegelte die Tür, um sich gegen alle Störung zu schützen, und fühlte sich glücklich, dass er allein sein konnte.

In unserem Wesen liegt ein Gefühl, das sich stets zeigt, wenn wir uns wieder in der Behausung finden, wo der Tod geweilt hat, nachdem alle seine Spuren entfernt sind. Es ist ein Gefühl der Beruhigung und der Erleichterung, dass wir die Erinnerungszeichen der Sterblichkeit fortgeschafft haben – das stumme Zeugniß von der Flüchtigkeit unseres Treibens und unserer Entwürfe. Wir wissen, dass wir eines Tages sterben müssen, mögen aber nie daran denken. Die fortwährende Erinnerung daran würde ein zu großer Zügel für unsere Erdenwünsche sein, und obgleich man uns predigt, wir sollen stets die Zukunft im Auge haben, so finden wir doch, dass das Leben kein sonderlich heiteres sein könnte, wenn es uns nicht hin und wieder gestattet wäre, zu vergessen; denn wer würde Plane entwerfen, die der Mensch nur selten in Ausführung bringen könnte, wenn er jeden Augenblick des Tages an den Tod dächte? Wir hoffen entweder, dass wir länger leben werden, als Andere, oder vergessen wenigstens, dass das Gegenteil so leicht möglich ist.

Wäre diese Spannkraft nicht unserer Natur eingepflanzt, wie wenig hätte die Welt sogar durch die Sintflut verbessert werden können! Philipp ging in das Zimmer, wo seine Mutter noch vor einer kurzen Stunde gelegen hatte, und fühlte sich unwillkürlich erleichtert. Er nahm den Schrein wieder vor und begann abermals sein Geschäft. Das Hinterbrett war jetzt bald beseitigt und er entdeckte ein geheimes Schubfach, das er herauszog. Wie er vermutet hatte, enthielt es den Gegenstand seines Suchens – einen großen Schlüssel mit einem leichten Rostüberzuge, der sich durch die Berührung abwischte. Unter demselben lag ein Papier, dessen Schrift etwas verblichen war. Der Inhalt war von der Hand seiner Mutter geschrieben und lautete folgendermaßen: –

»Es sind nun zwei Nächte, seit ein schreckliches Ereignis stattfand, das mich veranlasste, die untere Stube zu schließen, und doch verfolgt mich der Schrecken noch immer in einem Grade, dass mir bei dem Gedanken daran der Kopf springen möchte. Sollte ich während meiner Lebzeiten nicht enthüllen, was vorgefallen ist, so wird doch dieser Schlüssel nötig sein, um nach meinem Tode das Zimmer zu öffnen. Als ich aus demselben fortstürzte, eilte ich die Treppe hinauf und blieb jene Nacht bei meinem Kinde. Am andern Morgen nahm ich allen meinen Muth zusammen, um hinunterzugehen, den Schlüssel umzudrehen und ihn nach meinem Gemache zu bringen. Jene Stube soll verschlossen bleiben, bis ich meine Augen im Tode schließe. Keine Noth, keine Entbehrung soll mich veranlassen, sie je wieder zu öffnen, obgleich in der Eisenkiste unten im Schranke, der am weitesten vom Fenster absteht, Geld genug für alle meine Bedürfnisse liegt. Jenes Geld soll dort bleiben für mein Kind, dem ich vielleicht das verhängnisvolle Geheimnis nicht mittheilen kann; es wird jedoch hieraus die Überzeugung gewinnen, dass es ein Geheimnis ist, welches besser verborgen bleibt, da es schrecklich genug war, mich zu derartigen Schritten zu veranlassen. Die Schlüssel zu der Kiste und zu den Schränken lagen, glaube ich, auf dem Tische oder in meinem Arbeitskörbchen, als ich das Zimmer verließ. Auch befindet sich auf dem Tisch ein Brief – wenigstens meine ich so. Er ist versiegelt. Niemand soll das Siegel erbrechen, als mein Sohn, und auch dieser nicht, wenn er nicht bereits von dem Geheimnisse Kunde hat. Der Priester möge ihn verbrennen – denn er ist verflucht; – und selbst wenn mein Sohn Alles wissen sollte – was mir bekannt ist – oh! So möge er inne halten und sich wohl bedenken, ehe er das Siegel öffnet, denn es wäre besser, dass er nichts Weiteres erführe!«

»Nichts Weiteres?« dachte Philipp, während seine Augen immer noch auf dem Papiere hafteten. »Ja, aber ich muss und will mehr erfahren! Verzeih' mir daher, teuerste Mutter, wenn ich keine Zeit mit Erwägungen verschwende; es wäre doch nur vergeblich, wenn man so entschlossen ist, wie ich.« Philipp presste die Unterschrift seiner Mutter an die Lippen, legte das Papier zusammen und steckte es in seine Tasche; dann ergriff er den Schlüssel und begab sich die Treppe hinunter.

Es war gegen Mittag, als Philipp sich anschickte, das Gemach zu öffnen. Die Sonne schien hell, der Himmel war klar und Alles in der Natur draußen atmete Frohsinn und Leben. Die Haustür war verschlossen, folglich nicht viel Licht in der Flur, als Philipp den Schlüssel in das Schloss steckte und ihn mit einiger Mühe umdrehte. Es wäre unrichtig, wenn ich sagen wollte, dass er nicht Unruhe fühlte, als er die Tür öffnete. Sein Herz klopfte, aber seine Entschlossenheit war kräftig genug, um das Bangen seines Innern zu überwältigen und auch weitere Bewegungen zu besiegen, die aus dem, was ihm bevorstand, entspringen mochten. Er trat nicht augenblicklich in das Gemach, sondern blieb eine Weile auf der Schwelle stehen, denn es war ihm, als dränge er in den Aufenthaltsort eines körperlichen Geistes, dessen Schattengestalt mit jedem Momente vor seinen Blicken auftauchen könnte. Nachdem er eine Minute gewartet hatte, um sich zu sammeln, da ihm das Öffnen der Tür den Atem benommen hatte, blickte er hinein.

Er konnte die Gegenstände in dem Gemach nur unvollkommen unterscheiden; durch die Ladenritzen drangen jedoch drei helle Sonnenstrahlen herein, die ihn anfangs veranlassten, wie vor etwas Übernatürlichem zurückzugeben. Nach kurzer Erwägung ermannte er sich jedoch wieder. Er verweilte eine Minute, ging dann in die Küche, zündete ein Licht an, seufzte einige Mal schwer, um sein Herz zu erleichtern, und kehrte dann entschlossener nach der verhängnisvollen Stube zurück. Auf der Schwelle stehen bleibend, musterte er zuerst beim Scheine des Lichtes das Innere. Alles war still. Den Tisch, auf welchem der Brief liegen sollte, konnte er nicht sehen, da er hinter der Tür stand. »Es muss geschehen,« dachte Philipp: »und warum dann nicht schnell?« fuhr er fort, indem er, allen seinen Muth zusammennehmend, in's Zimmer trat und auf das Fenster zuging, um die Läden zu öffnen. Dass seine Hand dabei ein wenig zitterte, wenn er sich in's Gedächtnis rief, wie übernatürlich sie sich früher aufgetan hatten, darf wohl nicht überraschen. Wir sind nur sterbliche Geschöpfe und schrecken zurück vor einem Zusammentreffen mit Allem, was einem anderen Leben angehört. Nachdem die Riegel zurückgeschoben und die Läden aufgeworfen waren, strömte ein so lebhaftes Licht in das Gemach, dass Philipps Augen geblendet wurden. Seltsamerweise erschütterte der Anblick des hellen Tages seine Entschlossenheit mehr, als das frühere Dunkel, und, die Kerze in der Hand, kehrte er hastig wieder in die Küche zurück, um seinen Muth zu sammeln. Dort weilte er einige Minuten in tiefen Gedanken, das Gesicht mit seinen Händen bedeckend.

Es ist seltsam, dass seine Träumereien zuletzt zu Mynheer Poot's schöner Tochter und ihrem ersten Erscheinen an dem Fenster zurückkehrten; es war ihm, als ob der Lichtstrom, der ihn eben erst verscheucht hatte, nicht nachdrücklicher und ergreifender sei, als jene bezaubernde Gestalt. Die Vergegenwärtigung jenes Gesichtes schien Philipps Entschlossenheit wiederherzustellen. Er erhob sich und schritt keck in das Gemach. Wir wollen nicht die Gegenstände schildern, wie sie Philipps Augen entgegentraten, sondern sie dem Leser in klarer Ordnung vorzuführen versuchen.

Die Stube hatte etwa zwölf oder vierzehn Fuß im Geviert und nur ein einziges Fenster. Der Tür gegenüber stand der Kamin und zu jeder Seite desselben ein hoher Glasschrank von dunklem Holze. Der Boden des Gemaches war nicht schmutzig, obgleich an den Decken die Spinnen allenthalben ihre Gewebe ausgebreitet hatten. In der Mitte hing eine Quecksilberkugel herunter, eine gewöhnliche Zierde in jenen Tagen; sie hatte jedoch ihren Glanz großenteils verloren, und Spinnengewebe hüllten sie wie ein Leichentuch ein. Über dem Kaminmantel hingen einige Zeichnungen in Glas und Rahmen, aber ein staubiger Mehltau befleckte das Glas, so dass sich die Gegenstände nicht gut unterscheiden ließen. In der Mitte des Kaminsimses stand ein Bild der Maria von reinem Silber in einem Tabernakel von dem gleichen Metalle, das aber eine Bronze- oder Eisenfarbe angenommen hatte; zu beiden Seiten befanden sich einige indianische Figuren. Die Glastürn der Schränke neben dem Kamin waren gleichfalls getrübt, so dass sich das Innere nicht erkennen ließ; das Licht und die Hitze, welche nur erst seit so kurzer Zeit in das Gemach strömten, hatten bereits die Dünste vieler Jahre aufgejagt und bildeten mit dem Staube auf den Glasscheiben einen matten Duft, der nur hin und wieder das Blinken silberner Gefäße unterscheiden ließ. Letztere waren durch den Verschluss der Schreine gegen Schwärzung geschützt worden, obgleich auch sie viel von ihrem Glanze verloren hatten.

 

An der Wand, welche dem Fenster gegenüber lag, befanden sich andere eingerahmte Bilder, welche ebenfalls von Dunst und Spinngeweben verschleiert waren; desgleichen auch zwei Vogelkäfige. Philipp näherte sich den letzteren und sah hinein. Ihre Bewohner waren natürlich längst tot, aber auf dem Boden der Käfige befand sich ein Häuflein gelber Federn, durch welche die kleinen, weißen Knochen der Skelette sichtbar wurden – also die Überreste von Kanarienvögeln, die in jener Periode sehr teuer bezahlt wurden. Philipp schien geneigt zu sein, vorerst alles andere zu untersuchen, ehe er nach dem spähte, was er am meisten zu finden fürchtete und doch zugleich wünschte. Es standen mehrere Stühle umher, auf deren einem etwas Leinwand lag. Er nahm sie auf – es war ein Kleidungsstück, das ihm angehört haben musste, als er noch ein Kind war. Endlich richtete er seine Blicke auf die noch nicht untersuchte Wand dem Kamine gegenüber, in welcher sich die Tür befand. Hinter der Tür musste er den Tisch, das Arbeitskörbchen und den verhängnisvollen Brief finden. Sein Puls hatte allmählich den regelmäßigen Schlag wieder gewonnen, aber als er sich umwandte, begann er heftiger zu pochen; es musste jedoch geschehen und war bald vorüber. Anfangs musterte er denjenigen Teil der Wand, an welcher verschiedenartige Schwerter und Pistolen, hauptsächlich aber asiatische Bogen und Pfeile nebst anderen Zerstörungswerkzeugen hingen. Dann senkten sich seine Augen allmählich gegen den Tisch und das kleine Kanapee hinter demselben, wo seine Mutter, ihrer Angabe zufolge, gesessen hatte, als der Gatte ihr seinen schrecklichen Besuch gemacht. Das Arbeitskörbchen samt seinem Inhalte stand auf dem Tisch, wie sie es verlassen hatte; auch die erwähnten Schlüssel lagen dabei, aber Philipp sah und sah – ein Brief war nicht vorhanden. Er trat nun näher und untersuchte genauer, ob er ihn nicht auf dem Kanapee, auf dem Tisch oder auf dem Boden entdecke. – Er erhob das Arbeitskörbchen, um sich zu überzeugen, ob er nicht unter demselben liege – aber nein. Ein Mustern des Arbeitsgerätes, wie auch ein Umdrehen der Kanapee Kissen blieb gleichfalls erfolglos. Philipp fühlte eine schwere Last seiner beklemmten Brust entnommen.

»In der Tat,« dachte er, während er sich an die Wand lehnte, »das Ganze war nichts, als das Gesicht einer erhitzten Einbildungskraft. Meine arme Mutter ist wohl eingeschlummert und träumte die schreckliche Geschichte. Dachte mir's doch, dass es unmöglich sei, oder hoffte es wenigstens. Es muss sich wohl so verhalten haben; der Traum war zu gewaltig, zu sehr einer fürchterlichen Wirklichkeit ähnlich, dass er zum Teil die Vernunft meiner armen Mutter verwirrte.«

Philipp stellte abermals Erwägungen an und gewann dann die Überzeugung, dass seine Annahme richtig sei.

»Ja, es ist nicht anders möglich. Gute, teure Mutter! Wie viel hast du gelitten – aber der Lohn ist dir geworden im Angesicht deines Gottes!«

Noch einige Minuten musterte er das Gemach mit größerer Ruhe und vielleicht einiger Gleichgültigkeit, da er jetzt die übernatürliche Geschichte für unwahr hielt. Endlich nahm er das geschriebene Blatt, das er bei den Schlüsseln gefunden, aus seiner Tasche und überlas es.

»Die eiserne Kiste unten im Schrank, welcher vom Fenster am weitesten absteht – gut so.«

Er nahm die Schlüssel von dem Tische und fand bald denjenigen, welcher in die Glastür des Schrankes passte, der die eiserne Truhe verbarg. Ein zweiter Schlüssel öffnete den Deckel, und Philipp sah sich nun im Besitze einer beträchtlichen Geldsumme, die in kleinen gelben Säcken dastand und seiner Schätzung nach gegen zehntausend Gulden betragen mochte.

»Meine arme Mutter!« dachte er. »So musste denn ein bloßer Traum dich in Mangel und Armut hetzen, während dir dieser ganze Reichtum zu Gebote stand!«

Er legte die Säcke wieder zurück und schloss die Kiste, nachdem er aus einem bereits halbgeleerten nur einige Münzstücke für seine nächsten Bedürfnisse genommen hatte. Seine Aufmerksamkeit lenkte sich nun zunächst nach dem oberen Schranke, den er mit einem anderen Schlüssel öffnete, und fand darin Porzellan, silberne Flaschen und Tassen von beträchtlichem Wert. Nachdem er Alles verwahrt hatte, warf er den Schlüsselbund auf den Tisch.

Der plötzliche Besitz eines so großen Reichtums nebst der Überzeugung, dass keine übernatürliche Erscheinung stattgefunden, wie die Hingeschiedene geglaubt hatte, belebte und beruhigte natürlich Philipps Geist; er fühlte jetzt eine Gegenwirkung, die sich fast bis zur Heiterkeit steigerte. Er setzte sich auf das Kanapee, verlor sich in Träumereien und kehrte, wie zuvor, zu Mynheer Poots liebenswürdiger Tochter zurück, allerlei Luftschlösser bauend, die, wie es bei solchen Gelegenheiten zu gehen pflegt, stets mit Glück und Wohlstand endigten. In dieser angenehmen Beschäftigung verbrachte er mehr als zwei Stunden, bis sich endlich seine Gedanken wieder mit seiner armen Mutter und ihrem furchtbaren Tode beschäftigten. »Teuerste, gütigste der Mütter!« rief Philipp laut, indem er sich aus seiner zurückgelehnten Lage erhob; »hier weiltest du, ermüdet vom Wachen bei dem schlummernden Kinde, gedachtest des abwesenden Vaters und seiner Gefahren, und quältest deinen Geist mit schlimmen Vorahnungen, bis dein fiebrischer Schlaf jene Erscheinung heraufbeschwor. Ja, so muss es gewesen sein, denn hier liegt noch die Stickerei auf dem Boden, wie sie deinen ermatteten Händen entsank, und mit dieser Arbeit schwand das Glück deines Lebens dahin. Liebe, teure Mutter!« fuhr er fort, und eine Thräne rollte über seine Wangen nieder, als er sich niederbeugte, um das Stück Musselin aufzulesen, »wieviel hast du gelitten, als – Gütiger Himmel!« rief Philipp, plötzlich mit Ungestüm zurückfahrend und den Tisch umstürzend – »gerechter Gott – da ist – da ist wirklich,« und Philipp schlug die Hände zusammen, voll Angst und Entsetzen das Haupt niederbeugend, als er in ganz verändertem und schrecklichem Tone murmelnd beifügte – »der Brief!«

Es war nur zu wahr – unter der Stickerei am Boden hatte Vanderdeckens verhängnisvolles Schreiben gelegen. Hätte ihn Philipp beim Eintritt in das Zimmer, als er vorbereitet war, auf dem Tisch bemerkt, so würde er ihn mit einem gewissen Grad von Fassung aufgenommen haben – aber ihn so zu finden, nachdem er sich schon überredet hatte, das Ganze sei nur eine Selbsttäuschung von Seite seiner Mutter, ohne dass irgend eine übernatürliche Einwirkung stattgefunden hätte – nachdem er bereits geschwelgt in Träumen künftigen Glücks und künftiger Ruhe! Die Erschütterung hielt ihn geraume Zeit voll Schrecken und Erstaunen an seine Stelle gebannt. Mit einemmale waren alle Luftschlösser der letzten zwei Stunden dahin, und wie er sich allmählich von seiner Bestürzung erholte, füllte sich sein Herz mit traurigen Ahnungen. Endlich trat er vor, nahm den Brief auf und verließ in voller Hast das verhängnisvolle Gemach.

»Ich bin außer Stande – wage es nicht, ihn hier zu lesen!« rief er. »Nein, nein, ich muss die Kunde unter dem Gewölbe des freien, beleidigten Himmels empfangen.«

Philipp nahm seinen Hut, verließ die Hütte, schloss mit der Ruhe der Verzweiflung die Tür, steckte den Schlüssel ein und ging fort, ohne zu wissen, wohin.

Viertes Kapitel.

Wenn ein Mensch, der zum Tode verurteilt war und sich bereits in sein Schicksal ergeben halte, unerwartet Begnadigung erhält – wenn er sich erholt hat von der Aufregung, die aus einem Wiederaufleben aller verlorenen Hoffnungen erwuchs, und abermals schwelgt im Hinblicke auf eine frohe Zukunft – dann aber plötzlich finden muss, der Begnadigungsbrief sei widerrufen worden, und er habe dennoch den Tod zu erleiden; falls sich der Leser die Gefühle eines solchen Menschen zu vergegenwärtigen vermag, so ist er etwa im Stande, sich eine Vorstellung von den Empfindungen zu machen, in welchen Philipp die Hütte verließ.

Gleichgültig gegen den Weg, den er einschlug, ging er lange Zeit fort, den Brief in der zusammengeballten Hand und die Zähne fest geschlossen. Nachgerade wurde er ruhiger und setzte sich, atemlos von der Hast seiner Bewegungen, auf eine Bank, wo er sitzen blieb, die Augen auf das gefürchtete Papier geheftet, das er mit beiden Händen auf seinen Knien hielt.

Mechanisch drehte er den Brief um. Das Siegel war schwarz. Philipp seufzte.

»Ich kann ihn jetzt nicht lesen,« dachte er, indem er aufstand, um seine unstete Wanderung wieder aufzunehmen.

Nach einer halben Stunde weiterer Bewegung machte Philipp Halt und blickte nach der niedergehenden Sonne, bis ihm sein Gesicht verging.

»Ich könnte mir vorstellen, sie sei das Auge Gottes,« dachte Philipp, »und vielleicht ist's so. Aber warum, barmherziger Schöpfer, bin ich unter so vielen Millionen auserlesen, eine so furchtbare Aufgabe zu erfüllen?«

Er sah sich nach einer Stelle um, wo er gegen Beobachtung gesichert war, wo er das Siegel erbrechen und die Botschaft aus der Geisterwelt lesen konnte. Nicht weit von der Stelle, wo er stand, befand sich ein kleines Gebüsch am Saume eines Waldes. Er ging darauf zu und setzte sich nieder, um von keinem Vorübergehenden bemerkt zu werden. Abermals blickte er nach der niedergehenden Scheibe des Tages und wurde ruhiger.

»Es ist dein Wille!« rief er; »es ist mein Geschick, und Beides muss erfüllt werden.«

Philipp legte die Hand an das Siegel – das Blut zuckte ihm eiskalt durch die Adern, wenn er seinem Geiste vergegenwärtigte, dass der Brief von keinen sterblichen Händen überliefert wurde, und dass er das Geheimnis eines Gerichteten enthielt. Aber dieser Gerichtete war sein Vater, der nur in diesem Schreiben noch Hoffnung hatte! Es war die einzige Hoffnung seines armen Vaters – dessen Andenken er lieben gelernt hatte, – der ihn um Hilfe anflehte.

»Memme, die ich bin, dass ich so viele Stunden verliere!« rief Philipp, »Jene Sonne dort scheint über dem Berge zu zögern, um mir beim Lesen zu leuchten.«

Für eine kurze Weile versank er in Gedanken und nahm dann seinen ganzen Muth zusammen. Ruhig erbrach er das Siegel, das die Anfangsbuchstaben von dem Namen seines Vaters trug, und las, wie folgt:

An Catharine.

»Einem jener mitleidigen Geister, deren Tränen strömen für die Verbrechen der Sterblichen, ist es gestattet worden, mir zu eröffnen, durch welches Mittel einzig mein fürchterliches Urteil abgewendet werden kann.

Würde es mir nur möglich, an Bord meines Schiffes die heilige Reliquie zu empfangen, auf welche ich den verhängnisvollen Eid schwor, um sie in Demuth zu küssen und über dem geheiligten Holze eine Träne tiefer Zerknirschung zu vergießen, so würde ich Ruhe finden.

Wie dies bewerkstelligt werden kann, oder wer eine so verhängnisvolle Aufgabe vollziehen wird, weiß ich nicht. O Catharine, wir haben einen Sohn – doch nein – nein, lass ihn nichts von mir hören, bete für mich – und nun, lebe wohl.

J. Vanderdecken.«

»Dann ist's also Wahrheit, fürchterliche Wahrheit,« dachte Philipp, »und über meinem Vater ist im Leben das Gericht ergangen. Und er deutet auf mich hin – auf wen anders sollte er auch? Bin ich nicht sein Sohn und ist es nicht meine Pflicht?«

»Ja, Vater,« rief Philipp laut, indem er auf seine Knie niederfiel; »du sollst diese Zeilen nicht vergeblich geschrieben haben. Ich will sie noch einmal lesen.«

Philipp erhob seine Hand; aber obgleich es ihn dünkte, als halte er den Brief noch immer fest, war er doch nicht mehr vorhanden – er hielt ein Nichts umfasst. Er blickte auf das Gras, um zu sehen, ob er ihn habe fallen lassen – aber nein: der Brief war verschwunden. War es ein Gesicht? – Nein, nein; er hatte jedes Wort gelesen.

»Dann galt die Botschaft mir, und Niemand anders, als mir. Ich nehme dies als ein Zeichen an.«

»Höre mich, teurer Vater – wenn es dir gestattet ist – und du, barmherziger Himmel, vernimm gnädig mein Gelübde – höre den Sohn auf die heilige Reliquie schwören, dass er das Urteil abwenden will, und wenn er darüber in den Tod gehen müsste. Dieser heiligen Pflicht will er seine Tage weihen, und wenn er sie erfüllt hat, voll Hoffnung und im Frieden hinfahren. O Himmel, der du den übereilten Eid meines Vaters aufgezeichnet hast, tue nun ein Gleiches mit dem Gelöbnis, das der Sohn auf dasselbe geheiligte Kreuz leistet, und möge mein Meineid mit einer grausameren Strafe heimgesucht werden, als die seinige ist! Höre meinen Schwur, o Himmel, der du in deinem Erbarmen zuletzt noch den Vater und den Sohn aufnehmen wirst – und wenn ich zu kühn bin, o so vergib meiner Anmaßung!«

 

Philipp warf sich auf sein Antlitz nieder und berührte mit seinen Lippen das geheiligte Symbol. Die Sonne ging unter und auch die Dämmerung wich der Nacht, die Alles in ihr Leichentuch hüllte; aber immer noch verharrte Philipp abwechselnd in Gebeten und Betrachtungen. Da wurde er plötzlich durch die Stimmen einiger Menschen aufgeschreckt, welche sich einige Schritte von seinem Verstecke auf den Rasen niederließen. Er achtete wenig auf ihr Gespräch; aber dennoch hatte es ihn gestört, und sein erster Gedanke war, nach der Hütte zurückzukehren, um seine Plane weiter zu überlegen. Die Männer sprachen in gedämpftem Tone, fesselten übrigens dennoch bald seine Aufmerksamkeit durch den Gegenstand ihrer Unterhaltung, denn sie berührten Mynheer Poots Namen. Er lauschte angelegentlich und entdeckte, dass die Sprecher vier entlassene Soldaten waren, welche noch in der nämlichen Nacht das Haus des kleinen Doktors anzugreifen gedachten, da sie wussten, es dürfte viel Geld bei ihm zu erholen sein.

»Mein Vorschlag ist der beste.« sagte der Eine. »Er hat Niemand bei sich, als seine Tochter.«

»Die ist mir lieber als sein Geld,« versetzte der Andere; »also wohl gemerkt, ehe wir gehen, muss es vollkommen ausgemacht sein, dass sie mir zufallen soll.«

»Ja, wenn du sie kaufen willst, so haben wir nichts dagegen,« entgegnete ein Dritter.

»Es gilt! Wie viel könnt ihr auch mit gutem Gewissen für ein quiekendes Mädchen verlangen?«

»Ich dächte fünfhundert Gulden,« erwiderte der Andere.

»Gut; sei's drum – aber nur unter der Bedingung, dass sie, im Falle mein Anteil an der Beute sich nicht so hoch beläuft, dennoch mir gehört und ich sie für meinen Part behalten darf, wie viel er auch immer ausmachen mag.«

»Das ist nicht mehr wie billig,« sagte der Andere.

»Aber ich müsste mich sehr täuschen, wenn wir aus den Truhen des Alten nicht mehr als zweitausend Gulden fegten.«

»Was meint ihr beiden Anderen – bleibt es dabei, dass Baetens das Mädel haben soll?«

»Ja,« versetzten die Andern.

»Wohlan denn,« erwiderte derjenige, welcher sich Mynheer Poots Tochter ausbedungen hatte, »jetzt bin ich mit euch – Herz und Seele. Ich liebte das Mädchen und versuchte, sie für mich zu gewinnen – ja, ich machte ihr sogar einen Heiratsantrag, aber der alte Filz hat mich zurückgewiesen, – mich, einen Fähnrich und Offizier; aber jetzt will ich Rache haben. Wir schonen ihn nicht.«

»Nein, nein,« entgegneten die Anderen.

»Wollen wir gleich jetzt aufbrechen, oder noch eine Weile warten, bis es später ist? Ungefähr in einer Stunde geht der Mond auf und wir können gesehen werden.«

»Wer sollte uns auch sehen, wenn es nicht etwa Jemand ist, der ihn zu einem Patienten holen will? Ich bin der Ansicht, je später, desto besser.«

»Wie lange werden wir brauchen, um an Ort und Stelle zu gelangen?«

»Seine Wohnung ist keine halbe Stunde entlegen. Gesetzt, wir brechen nach einer halben Stunde auf, so langen wir gerade in rechter Zeit an, um die Gulden beim Mondscheine zählen zu können.«

»Recht so. Inzwischen setze ich einen neuen Stein in mein Schloss und lade meine Büchse. Das kann ich auch im Dunkeln verrichten.«

»Du bist daran gewöhnt, Jahn.«

»Allerdings – und ich denke, diese Kugel soll dem alten Spitzbuben durch den Kopf fliegen.«

»Gut; 's ist mir lieber, wenn du ihn totschießt, als wenn ich's tun sollte,« versetzte ein Anderer. »Er hat mir zu Mittelburg das Leben gerettet, als mich Jedermann schon aufgegeben hatte.«

Philipp wartete nicht weiter ab. Er kroch hinter dem Gebüsche weiter, bis er den Wald erreicht hatte und machte nun einen Umweg, um von dem Raubgesindel nicht entdeckt zu werden. Er wusste, dass es entlassene Soldaten waren, die in Massen das Land unsicher machten. Alle seine Gedanken gingen nur darauf hin, den alten Doktor und dessen Tochter gegen die ihnen bevorstehende Gefahr zu schützen, so dass er für eine Weile sogar seinen Vater und die aufregenden Enthüllungen des Tages vergaß. Obgleich er beim Aufbruche von seiner Wohnung nicht gewusst hatte, in welcher Richtung er ging, so kannte er doch die Gegend genau, und nun es Not tat, zu handeln, erinnerte er sich schnell, wo er Mynheer Poots' einsame Behausung aufzusuchen hatte. In größter Hast eilte er nach derselben hin und langte in weniger als zwanzig Minuten an der Tür an.

Wie gewöhnlich war Alles stumm und die Tür verschlossen. Philipp klopfte, erhielt aber keine Antwort. Nach mehrmaligem vergeblichem Pochen wurde er ungeduldig. Mynheer Poots musste zu einem Kranken gerufen worden sein und war nicht zu Hause. Philipp rief daher so laut, dass er im Innern gehört werden konnte:

»Jungfrau, wenn Euer Vater ausgegangen ist, wie ich vermute, so hört, was ich Euch zu sagen habe. Ich bin Philipp Vanderdecken und habe eben erst vier Schurken belauscht, welche einen Anschlag schmiedeten, Euren Vater zu ermorden und ihn seines Geldes zu berauben. In weniger als einer Stunde werden sie hier sein, und ich eilte zu Euch, um Euch zu warnen und zu beschützen, wenn es in meiner Kraft liegt. Ich schwöre bei der Reliquie, die Ihr mir diesen Morgen ausgeliefert habt, dass meine Angabe wahr ist.«

Philipp harrte eine Weile, ohne dass eine Erwiderung erfolgte.

»Jungfrau,« nahm er wieder auf, »antwortet mir, wenn Ihr das wertschätzt, was Euch noch teurer sein muss, als sogar Eurem Vater das Geld ist. Öffnet das Fenster und hört, was ich zu sagen habe. Ihr lauft keine Gefahr dabei, und selbst wenn es nicht dunkel wäre, so habe ich Euch ja bereits gesehen.«

Kurze Zeit nach dieser zweiten Anrede wurde das obere Fenster geöffnet, und Philipp konnte die leichte Gestalt von Mynheer Poots' schöner Tochter durch die Dunkelheit unterscheiden.

»Was willst Du, junger Mann, zu dieser ungebührlichen Stunde, und was hast du mir mitzuteilen? Ich verstand dich nur unvollkommen, als du an der Tür sprachst.«

Philipp teilte nun umständlich mit, was er gehört hatte, und schloss mit der Bitte, ihn einzulassen, damit er sie verteidigen könne.

»Überlegt wohl, Jungfrau, was ich Euch gesagt habe. Ihr seid an einen dieser Bösewichte verkauft, dessen Name, wie ich vernahm, Baetens ist. Ich weiß, dass Ihr auf das Geld keinen Wert legt, aber denkt an Eure eigene, teure Person – lasst mich in das Haus und glaubt ja nicht, dass meine Geschichte erdichtet sei. Ich schwöre Euch bei der Seele meiner teuren armen Mutter, die, wie ich hoffe, jetzt im Himmel ist, dass ich Euch mit keiner Silbe belogen habe.«

»Baetens habt Ihr gesagt, Herr?«

»Wenn ich nicht irre, so war dies der Name; er sagte, er hätte Euch einmal geliebt.«

»Der Name ist mir nicht unbekannt, und ich weiß nicht, was ich tun oder sagen soll. Mein Vater ist zu einer Gebärenden gerufen worden und bleibt vielleicht noch viele Stunden aus. Aber wie kann ich Euch die Tür öffnen – zur Nachtzeit – während mein Vater abwesend ist – und ich allein bin? Ich kann und darf nicht, obgleich ich Euren Worten Glauben schenke. Gewiss, es ist unmöglich, dass Ihr so schändlich sein könntet, eine derartige Erzählung zu erdichten.«

»Nein – bei meiner Hoffnung auf künftige Seligkeit! Ich wäre es nicht im Stande! Aber setzt nicht Euer Leben und Eure Ehre auf's Spiel, sondern gebt mir Einlass.«