Seewölfe Paket 6

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„Halt deinen vorlauten Mund, sonst bist du auch gleich kahl“, schnauzte der Profos. „Weil ich dir nämlich die Haare einzeln ausreiße, du grüner Hering! Aber im Ernst: man sollte den Kerl vielleicht anbinden.“

„Laßt ihn in Ruhe“, beendete Hasard die Diskussion. „Dan – ab in den Großmars! Wenn wir Thorfin und Siri-Tong nicht bald sichten, werden wir Segel wegnehmen müssen.“

Dan O’Flynn enterte wieder auf.

Stille senkte sich über die Decks. Nur Sir John, der Papagei, hockte auf der Nock der Großrah, plusterte sein leuchtendes Gefieder auf und übte sich darin, die dünne, heisere Fistelstimme des Schiffbrüchigen nachzuahmen, die ihm offenbar sehr imponiert hatte.

„Meuterei!“ krächzte er. „Verrat – Verrat …“

2.

„Land ho! Land Steuerbord voraus! Vier Strich vorlicher als dwars!“

Bob Grey war es, der Dan O’Flynn im Ausguck abgelöst hatte. Die Sonne strahlte von einem blaugrauen Himmel, den die wachsende Tageshitze mit opalisierenden Schleiern überzog. Auf dem Achterkastell zog Hasard die Brauen zusammen. Er wußte, daß die Seekarten keine Inseln in diesem Gebiet verzeichneten. Aber andererseits war jetzt, um drei Glasen der Morgenwache, die Hitze noch nicht so groß, daß die flimmernde Luft Spiegelungen hätte hervorbringen können.

Am Steuerbord-Schanzkleid zog Hasard das Spektiv auseinander. Ruhig schwenkte er die Kimm ab, dann nahm er die Unterlippe zwischen die Zähne, als er den dunklen, verschwimmenden Flecken erkannte. Eine Insel, in der Tat. Er sah den kegelförmigen Buckel einer Anhöhe und einen dünnen weißen Streifen, wo sich die anrollenden Wogen vor dem Riff brachen. Der Kurs der „Isabella“ würde dicht an dem unbekannten Eiland vorbeiführen, das keine Seekarte verzeichnete.

Bei vier Glasen waren bereits Einzelheiten zu erkennen.

Da war ein geschwungener Strandstreifen, dem die fein zermahlenen Korallen einen rosafarbenen Schimmer verliehen. Sie entdeckten schlanke Palmen, die roten Felsen des Riffs, das das stille dunkelblaue Auge der Lagune einschloß, und das Wrack, das irgendwann einmal an diesem Riff gescheitert war.

Hasard blickte durch das Spektiv und betrachtete die kläglichen Reste, die einmal zu einer stolzen, ranken Karavelle gehört haben mußten. Eine spanische Karavelle? Der Seewolf runzelte die Stirn. Er wußte, daß es Spanier in der Südsee gab, wenn sie diesem Gebiet auch nur wenig Aufmerksamkeit schenkten, da es bei den polynesischen Eingeborenen kaum etwas zu räubern und zusammenzuraffen gab.

Die Karavelle mochte zu einem Geleitzug gehört haben. Oder zu einem Verband, der nach Westen segelte, um Neuland zu entdecken. Sehr lange konnte sie noch nicht auf dem Riff liegen, das war am Zustand der zerfetzten Segel und des unentwirrbar verknäulten Tauwerks zu erkennen. Der Aufprall hatte das Schiff in der Mitte auseinanderbrechen lassen. In der Lagune schwammen noch ein paar Trümmer, den Rest hatte die See mitgenommen.

Hasard zuckte unbewußt mit den Schultern. Für seine Begriffe sah es nicht so aus, als könne irgend jemand die Katastrophe überlebt haben.

Oder doch?

Unwillkürlich war der Blick des Seewolfs zu der ausgemergelten Gestalt neben dem Niedergang gewandert. Jetzt sah er, daß sich der Unbekannte aufgerichtet hatte. Er schwankte und hielt sich offenbar nur mühsam auf den Beinen. Wie von einem Magneten angezogen taumelte er nach Steuerbord, klammerte die Fäuste um das Schanzkleid und starrte zu dem Wrack hinüber.

Hasard konnte sein Gesicht nicht sehen, aber in der ganzen Haltung des Unbekannten lag stumme, angespannte Erregung, eine Erregung, die deutlich von ihm ausstrahlte und sich auf das Wrack dort drüben bezog. Der Fremde kannte das Schiff. Sein Schiff vermutlich, von dem er versucht hatte, sich mit dem kleinen Boot zu retten.

Oder von dessen Mannschaft er in der Nußschale ausgesetzt worden war, vollendete Hasard in Gedanken.

Die Worte des Unbekannten klangen ihm noch in den Ohren, das Geschrei von Meuterei und Verrätern und Rache. Wenn der Fremde den Schiffbruch der Karavelle überlebt hätte, wäre er ans Gestade getrieben worden und nicht aufs offene Meer. Nein, er mußte bereits in dem kleinen Boot gesessen haben, bevor der Sturm ihn überraschte. Und jetzt, da er das zerschellte Wrack dort drüben sah, erschien ihm der Anblick vielleicht als Fügung des Schicksals, als gerechte Strafe, die die rächende Vorsehung über die Meuterer gebracht hatte.

Vermutungen, sagte sich Hasard.

Sein Blick streifte die anderen Männer, die ebenfalls zu der Insel mit dem Wrack hinüberstarrten. Auch ihre Gesichter spiegelten Erregung, aber bei ihnen war es erwartungsvolle, unternehmungslustige Erregung. Dan O’Flynn hatte glänzende Augen, der kleine Bill trat von einem Fuß auf den anderen, die übrigen betrachteten das Eiland, als schätzten sie die Herausforderung ab, die es darstellte. Ben Brighton, der neben den Seewolf getreten war, lächelte leicht.

„Wollen wir die Insel anlaufen?“ fragte er.

Hasard zögerte einen Moment, dann schüttelte er entschlossen den Kopf.

Auch ihn reizte das Unbekannte. Aber die große, unwiderstehliche Lokkung lag im Westen, in dem geheimnisvollen Land, von dem Siri-Tong berichtet hatte. Sie hatten schon zu viel Zeit verloren. Hasard zog es weiter, in die unbekannte Ferne – wie ein Sog, den er mit jeder Faser spürte und der von Tag zu Tag stärker wurde.

Er atmete tief durch. Seine blauen Augen funkelten, das schwarze Haar flatterte im Wind.

„Wir segeln weiter“, entschied er. „Wir brauchen weder unsere Vorräte zu ergänzen noch Wasser zu fassen. Und Inseln werden wir unterwegs noch genug finden.“

Auf dem Schwarzen Segler raufte sich Thorfin Njal, der Wikinger, seinen mächtigen Vollbart, rief der Reihe nach seine Ahnen, die Teufel der Hölle und sämtliche Götter an und drohte dem Bootsmann Juan, ihn kielholen, an der Rahnock aufhängen, vierteilen und Odins Raben zum Fraß vorwerfen zu lassen – ungeachtet der Tatsache, daß die kreischenden Seevögel ringsum nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit Odins Raben hatten.

Juan funkelte den tobenden Riesen unter halb gesenkten Lidern an, aber er traute sich nichts zu sagen, obwohl er sich unschuldig fühlte. Konnte er dafür, daß irgendein Idiot das Fall der Besanrute nicht richtig belegt hatte, so daß jetzt Segel und Gaffel beim Teufel waren – oder besser bei den Wassermännern?

Der Bootsmann würde das Unwetter an die Besangasten weitergeben. In abgemilderter Form. Nicht etwa, weil er von friedlicher Gemütsart gewesen wäre, aber er konnte nun mal nicht halb so gut und vor allem nicht halb so laut fluchen wie der riesige Wikinger mit seiner Donnerstimme.

Siri-Tong stand auf dem Achterkastell und beobachtete die Szene.

Die Rote Korsarin trug eine knappsitzende Bluse im leuchtenden Farbton der Korallen, die blaue Schifferhose schmiegte sich eng um ihre langen Beine. Da der Viermaster keine Fahrt lief, flatterte ihre schwarze Mähne ausnahmsweise nicht im Wind, sondern spielte sanft wie ein dunkles, schimmerndes Vlies um das rassige Gesicht mit den Mandelaugen. Siri-Tongs Lippen preßten sich aufeinander, die Flügel der kleinen, energischen Nase vibrierten leicht.

Sie war ungeduldig und wollte endlich weiter, aber sie wußte, daß sich Thorfin Njal erst austoben mußte.

Ihrer Erfahrung nach würde das so an die zehn Minuten dauern.

Siri-Tong faßte sich in Geduld. Und ein paar Minuten später geschah etwas, das den Wutausbruch des Wikingers abrupt unterbrach.

„Deck!“ schrie Hilo aus dem Hauptmars. „Boot Backbord querab! Es treibt auf uns zu.“

Siri-Tong wirbelte herum.

Unten auf der Kuhl ließ Thorfin Njal den zornbebenden Bootsmann stehen und tobte den Niedergang hoch. Mit einem wütenden Ruck riß er das Spektiv aus dem Gürtel und spähte nach Süden.

Zuerst war nur ein Punkt auf dem Wasser zu sehen, dann erkannte auch der Wikinger die Umrisse des kleinen Bootes – einer Pinasse mit geknicktem Mast und zerfetzten Segeln.

Steuerlos trieb sie in der Dünung, und nichts wies darauf hin, daß sich Menschen an Bord befanden.

Schweigend reichte Thorfin das Spektiv an die Rote Korsarin weiter. Sie hob es an die Augen und beobachtete das Boot, das jetzt rasch näherglitt. Niemand bediente das Ruder, aber neben der Pinne war etwas wie ein längliches, zusammengesunkenes Bündel zu erkennen. Zwei weitere lehnte oder lagen an der achteren Bordwand. Sie rührten sich nicht – und noch war nicht zu sehen, um was oder wen es sich handelte.

Menschen?

Schiffbrüchige, die in der Endlosigkeit des pazifischen Ozeans trieben?

Siri-Tong ließ das Spektiv sinken, da das nähertreibende Boot jetzt auch mit bloßem Auge zu verfolgen war. Ein paar Minuten später hob die Rote Korsarin das Fernglas wieder an die Augen, und jetzt konnte sie die reglosen Bündel an Bord der Pinasse deutlicher erkennen.

Es waren wirklich Menschen.

Männer, fünf oder sechs mindestens. Ausgemergelte Gestalten in zerfetzten Lumpen, starr und verkrümmt, teilweise übereinanderliegend wie leblose Puppen. Sie mußten tot sein. Siri-Tong biß sich auf die Lippen und reichte dem Wikinger das Spektiv.

„Bei Odin!“ sagte Thorfin Njal düster.

Dann schwieg er eine Weile und starrte angestrengt zu der Pinasse hinüber. Mit einem Ruck setzte er das Fernglas ab und kratzte heftig an seinem zerbeulten Kupferhelm.

„Da lebt noch einer“, stieß er hervor. „Er hat sich bewegt, ich habe es gesehen!“

Siri-Tong schwang herum.

„Beiboot abfieren!“ ertönte ihre Stimme. „Eike, Arne, Boston-Mann, Mike – ihr holt die Pinasse längsseits!“

„Aye, aye, Madam!“

 

Die Angesprochenen setzten sich in Bewegung. Siri-Tong und der Wikinger beobachteten das Manöver, das unter dem Kommando des Boston-Manns schnell und exakt ablief. Binnen Minuten erreichte das Beiboot des Schwarzen Seglers die Pinasse, der Boston-Mann sprang an Bord und belegte die Leine, die Mike Kaibuk hinüberwarf.

Die Gesichter der Männer waren blaß und verzerrt, als sie die schwer angeschlagene Pinasse in Schlepp nahmen.

Am Schanzkleid des „Eiligen Drachen“ stand Siri-Tongs Crew in stummer Spannung. Auch der letzte an Bord konnte jetzt die Toten in dem großen Boot erkennen. Fünf Tote, elend krepiert an Durst und Hitze. Und ein einziger Überlebender, den Arne und Eike vorsichtig aus der Pinasse in das Beiboot hoben, um ihn hochhieven zu lassen.

Die Männer enterten über die Jakobsleiter auf. Der Bewußtlose wurde aus dem Boot gezogen und in den Schatten gebettet. Er sah furchtbar aus: verbrannt von der gnadenlosen Sonne, ausgemergelt, mit spröden, rissigen Lippen und einer Haut so trocken wie bei einer Mumie. Noch atmete er, aber auch der letzte aus der Crew brauchte nur einen Blick, um zu sehen, daß das abgezehrte Gesicht bereits vom Tode gezeichnet war.

Siri-Tong sog scharf die Luft durch die Zähne, als sie neben dem Bewußtlosen in die Hocke ging.

Vorsichtig schob sie ihm den linken Arm unter den Kopf und setzte ihm mit der Rechten eine Muck Trinkwasser an den Mund. Die spröden, von weißem Schorf bedeckten Lippen zuckten. Gierig öffneten sie sich, die Kehle des Mannes verkrampfte sich in verzweifelten Schluckbewegungen.

Siri-Tong benetzte ihm die Lippen und goß ihm etwas Wasser zwischen die Zähne. Ein Hustenkrampf schüttelte die hagere Gestalt. Aber das lebenspendende Naß tat seine Wirkung, die Lider des Unglücklichen begannen zu zukken und hoben sich schließlich.

Ein irrer Blick tastete in die Runde. Dumpf und rasselnd klang das Stöhnen, das über die trockenen Lippen drang. Noch einmal goß die Rote Korsarin etwas Wasser in die ausgedörrte Kehle, und diesmal begann der Mann, in jäh erwachender Gier zu schlucken.

„Vorsicht“, brummte der Wikinger. „Er darf nicht gleich zu viel trinken.“

Siri-Tong hob den Kopf. „Er stirbt, Thorfin. Er hat nur noch Minuten. Warum soll er in diesen letzten Minuten nicht trinken, soviel er mag?“

Aber schon nach den nächsten zwei, drei Schlucken sank der Mann schlaff zurück, als habe ihn der letzte Funken Kraft verlassen.

Seine Zunge fuhr über die schorfigen Lippen. Wieder irrte sein Blick umher, doch diesmal schien er wenigstens zu begreifen, daß er nicht mehr in der Pinasse lag, daß Menschen um ihn waren, lebendige Menschen.

Seine Lippen bewegten sich.

Die Stimme klang brüchig, wie eingerostet, und formte unendlich mühsam Worte.

„Der Schatz“, flüsterte er. „Schatz – Chiapas …“

„Schatz?“ fragte Siri-Tong mit gerunzelter Stirm.

Die fiebrigen Augen fielen zu und öffneten sich wieder. Für einen Moment schien der irre Blick ein wenig an Klarheit zu gewinnen.

„Der Schatz – der Maya“, flüsterte der Sterbende mühsam. „Das Schiff – Piratenschiff – zerschellt – die Strafe! Es ist die Strafe! Es ist der Fluch – der Fluch der Maya …“

„Bei Thors Hammer!“ knurrte der Wikinger. „Wovon, zum Teufel, redet der …“

„Still, Thorfin! Warte!“

Wieder bewegten sich die Lippen des Todgeweihten. Siri-Tong mußte sich tief über ihn beugen, um die Worte zu verstehen, die nur noch ein Hauch waren.

„Der Fluch – der Fluch der Maya wird sie ereilen, alle – nie werden sie das Gold finden – nie – nie …“

Die Stimme erstarb.

Ein letztes krampfhaftes Zucken durchlief die ausgemergelte Gestalt. Dann erschlafften die Glieder des Unbekannten, und tief auf dem Grund der Pupillenschächte schien etwas wie springendes Glas zu zerbrechen.

Siri-Tong hob den Kopf.

Eine steile Falte stand auf ihrer Stirn. Fragend sah sie Thorfin Njal an, aber der Winkinger hob nur die mächtigen Schultern. Er konnte sich auf die wirren Reden genauso wenig einen Reim bilden wie die anderen.

„Verrückt“, brummte er. „Die Mayas leben doch in Yukatan, auf der anderen Seite des Kontinents. Möchte wissen, wieso jemand mitten auf dem Pazifik von Mayas faselt!“

Siri-Tong zuckte mit den Schultern.

Es war sinnlos, jetzt darüber nachzugrübeln. Mit einem tiefen Atemzug stand sie auf und warf das lange Haar auf den Rücken.

„Wir übergeben die Toten der See“, entschied sie. „Und dann sehen wir zu, daß wir eine neue Gaffelrute riggen und endlich die ‚Isabella‘ einholen.“

3.

In der mondlosen Nacht bildeten die geblähten Segel der „Isabella“ nur fahle Flecken.

Sternenlicht spiegelte sich verschwimmend im leicht bewegten Wasser, aber auch die Sterne wurden teilweise von Wolken verdeckt, die sich schwarz und bedrohlich über die Kimm schoben. Die Nacht war schwüler als gewöhnlich. Dan O’Flynn wischte sich den Schweiß von der Stirn, spähte aus zusammengekniffenen Augen zum Kreuz des Südens hinauf und versuchte, das unbehagliche Gefühl abzuschütteln.

Er lehnte am Schanzkleid des Vorkastells. Das leise Glucksen und Rauschen der Bugwelle drang an seine Ohren. Eigentlich war er nur während seiner Freiwache hier heraufgekommen, um die Freiluft-Toilette zu benutzen. Dann hatte er geglaubt, bei den Drehbassen ein Geräusch zu hören, wo um diese Zeit niemand etwas zu suchen hatte. Normalerweise hätte er sich nicht darum gekümmert, aber jetzt dachte er daran, daß sie einen Fremden an Bord hatten, der ihm, wenn er ehrlich war, trotz aller Argumente der Vernunft ein bißchen unheimlich erschien.

Dan O’Flynns Mißtrauen war erwacht, unbegründet, wie er inzwischen einsah.

Hier oben war niemand. Dan gähnte und ließ den Blick müßig über die dunklen Decks schweifen.

Die „Isabella“ lief nicht unter Vollzeug. Sie hatten nur Blinde, Großsegel und Besan gesetzt, um dem schwarzen Segler Gelegenheit zu geben, sie einzuholen.

„Eiliger Drache über den Wassern“ war ein schnelles Schiff, schneller als die dreimastige Galeone der Seewölfe. Spätestens morgen früh, schätzte Dan, mußte der Viermaster der Roten Korsarin über der Kimm auftauchen, falls Siri-Tong und Thorfin Njal nicht Pech gehabt und doch mehr von dem Sturm abgekriegt hatten, als der Seewolf glaubte.

Und falls sie nicht in das nächste Wetter hineinliefen, das sich irgendwo im Norden zusammenbraute, vollendete Dan seine eigenen Gedanken.

Die Wolkenbänke über der Kimm gefielen ihm überhaupt nicht, genausowenig wie die drückende Schwüle.

Etwas knackte leise.

Donegal Daniel O’Flynn hielt den Atem an. Auf dem Absatz fuhr er herum – und stieß gleich darauf erleichtert die Luft aus.

Ein massiger Schatten wuchs vor ihm hoch. Schneeweiße Zähne blitzten, das Weiß von rollenden Augäpfeln schimmerte. Sonst verschmolz die Hünengestalt fast völlig mit der Finsternis, und das brachte an Bord der „Isabella“ nur einer fertig.

„Batuti!“ fauchte Dan aufgebracht. „Kannst du schwarzer Affe dich nicht melden, bevor du einen derart erschreckst? Fast hätte ich dir ein Messer in den Bauch gerammt.“

„Kleines O’Flynn dummy im Kopf.“ Batuti, der riesenhafte Gambia-Neger grinste immer noch, denn in Wahrheit waren er und Dan besonders dicke Freunde. „Was willst du? Soll ich schreien Zeter-Mordio, wenn gehen aus der Hose?“

„Von wegen Zeter-Mordio“, unkte Dan. „Der alte Carberry würde dir die Haut in Streifen abziehen.“

„Und nageln an Kombüse, he? Wird sich Kutscher freuen! Haut von schönes schwarzes Affenarsch von Batuti ist …“

Er stockte abrupt.

Jetzt war er es, der unwillkürlich den Atem anhielt. Auch Dan war das leise Geräusch nicht entgangen. Aber nachdem er sich einmal unnötig erschrocken hatte, wollte er sich kein zweitesmal ins Bockshorn jagen lassen.

„Noch jemand, der aus der Hose muß“, sagte er. „Scheint ja ’ne wahre Seuche zu sein. He, wer da?“

Er erhielt keine Antwort.

Unmittelbar zwischen den beiden Drehbassen schnellte eine Gestalt wie ein Springteufel hoch. Trotz der Dunkelheit waren die Umrisse der schweren Muskete nicht zu übersehen.

„Rührt euch nicht! Ein Laut oder eine Bewegung, und ich schieße euch in Stücke!“

Die Stimme klang dünn und hoch, scharf wie das Zischen einer gereizten Schlange, das die Seewölfe bei ihren Abenteuern im Amazonas-Gebiet so oft gehört hatten.

Dan O’Flynn versteinerte. Er hatte die Stimme erkannt, und er erkannte auch die dürre, hoch aufgerichtete Gestalt, die jetzt überhaupt nicht mehr an einen Halbtoten erinnerte.

„Der Jonas!“ keuchte er.

„Mann von Schiff gebrochen“, flüsterte Batuti, der das Wort Schiffbrüchiger einfach nicht richtig zusammenkriegte. „Verdammich! Ich denke, der dummy im Kopf und …“

„Still!“ zischte die brüchige Stimme. Ein tiefer, rasselnder Atemzug drang über die Lippen des Unbekannten, und in seiner Haltung schien sich eine unsichtbare Stahlfeder zu spannen. „Hört zu! Ich bringe euch um, wenn ihr nicht gehorcht! Ich töte euch, und wenn es das letzte ist, was ich auf dieser Welt tue. Und ich töte nicht nur euch! Ich werde auch noch andere mitnehmen! Viele andere! Ihr müßt mir helfen, hört ihr – müßt …“

Für einen Moment war wieder der irre Klang in der Stimme, aber Dan O’Flynn gab sich keinen Illusionen hin. Die ganze Haltung des ausgemergelten Burschen spiegelte Konzentration und hellwache Aufmerksamkeit. Er war fanatisch und offenbar besessen von irgendeiner Wahnidee. Der junge O’Flynn spürte mit jeder Faser, daß dieser Irre seine Drohung rücksichtslos wahrmachen würde.

Vorläufig saß der Kerl am längeren Hebel.

Wenn er losballert, würde von Dan und Batuti auf diese Entfernung nicht viel übrigbleiben. Und es mochte leicht passieren, daß der Mann es mit Hilfe des Überraschungseffektes tatsächlich schaffen würde, noch ein paar andere Seewölfe mit auf die große Reise zu nehmen.

Batuti, der riesige Gambia-Neger, atmete tief ein und rollte furchterregend mit den Augen.

„Soll Batuti schlagen Kerl Zähne in Gehirn?“ grollte er. „Oder hauen auf Kopf, daß er guckt durch eigene Rippen?“

Dan schüttelte den Kopf. „Denk an die anderen.“ Und etwas lauter: „Was heißt das – helfen? Was haben Sie vor?“

Der Unbekannte grinste.

Oder vielleicht sah es auch wieder nur so aus, weil ihm die schreckliche Narbe die Oberlippe von den Zähnen zog.

„Ein Boot“, flüsterte er. „Ich brauche ein Boot, ich …“

„Bist du von allen guten Geistern verlassen?“

Dan wollte auffahren, aber er nahm sich sofort zusammen, als er sah, wie sich das ausgemergelte Gesicht zu einer Fratze verzerrte.

Der Kerl war tatsächlich nicht bei Sinnen und fähig, hier ein Blutbad anzurichten, wenn es hart auf hart ging. Noch schien er ruhig. Von einer geradezu teuflischen Ruhe, die seine Besessenheit um so gefährlicher werden ließ. Er durfte nicht durchdrehen und mußte in Sicherheit gewiegt werden. Sollte er ruhig darauf bestehen, daß ein Boot abgefiert wurde! Er war ein Wrack und hielt sich nur mühsam auf den Beinen. Lange würde es ganz sicher nicht dauern, bis die beiden Seewölfe die Chance erhielten, ihn zu entwaffnen. Nach Dans Meinung war das wesentlich besser, als die Dinge hier und jetzt auf die Spitze zu treiben.

„Ein Boot!“ fragte der blonde junge Mann sanft. „Was wollen Sie denn mitten in der Nacht mit einem Boot, Mister?“

Ein scharfer Atemzug.

Wieder hatte Dan das Gefühl, daß der Kerl ihn auf diese unheimliche, ausdruckslose Art angrinste.

„Rache!“ flüsterte der Unbekannte mit zuckenden Lippen. „Vergeltung! Ich bin der Kapitän. Ich bin Philipp Montsalve! Ihr werdet ein Boot abfieren und mich zu der Insel pullen, damit ich über die Verräter Gericht halten kann.“

Wie ein rotes Auge glomm das Feuer durch die Dunkelheit.

Über der grasbewachsenen Senke zwischen den roten Felsen hing drükkende Schwüle. Die Nacht hatte keine Abkühlung gebracht, die Brise von der See drang nur schwach bis zu dieser von allen Seiten geschützten Stelle. Die schlafenden Männer hätten das Feuer nicht gebraucht, denn es gab weder Eingeborene noch wilde Tiere auf der Insel. Sie hätten auch die Wachen nicht gebraucht, die höher in den Felsen Ausschau hielten.

Aber da war die dumpfe Furcht, die sich niemand eingestand. Da waren Bitterkeit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung – und das Feuer bot mit seinem magischen Bannkreis Schutz, so wie die aufgestellten Wachen die Illusion boten, daß irgend etwas Unerwartetes eintreten könnte, um das Geschick der sechzehn Männer noch einmal zu wenden.

 

Einige von ihnen waren trotz der späten Stunde noch wach, kauerten im Gras zwischen den Felsen und starrten in die Glut.

Jean Morro, der Bretone, drehte einen schlanken, gefiederten Farnwedel zwischen den Fingern.

In seinen harten steingrauen Augen spiegelten sich die kleinen Flammen wie winzige, tanzende Funken. Auch sein Haar war grau, obwohl der große, knochige Mann noch keine vierzig Jahre zählte.

Neben ihm kauerten zwei schweigsame, vierschrötige Burschen, von denen nur bekannt war, daß sie aus Burgund stammten und die der Einfachheit halber „Burgunder“ und „anderer Burgunder“ genannt wurden.

Der vierte Mann, der noch wachte, lehnte in einer Haltung selbstversunkener Ruhe an einem der Felsen. Sein kräftiges, schwermütiges Gesicht war tiefbraun wie poliertes Holz. Er trug zerfetzte Seemannskleidung genau wie die anderen, aber das lange blauschwarze Haar hatte er auf dem Oberkopf mit bunten Ringen zusammengebunden. Niemanden störte diese fremdartige Haartracht. Genausowenig, wie jemanden die dunklen Kehllaute störten, mit denen der Braunhäutige sprach. Jacahiro war Indianer, ein reinblütiger Maya aus den dichten Regenwäldern Nueva Españas.

Jean Morro warf das graue Haar zurück und betrachtete seine Kumpane mit einem bitteren Lächeln.

Jacahiro, der die Sprache der Maya sprach und ihr Land kannte! Der alte Valerio mit seiner fabelhaften Karte! Alles hatte sich so gut angelassen. Und sie waren ihrer Sache so sicher gewesen. Ein unermeßlicher Schatz – Reichtum für alle! Und dann von einer Stunde zur anderen das Ende, als habe das Geschick selber mit eiserner Faust zugeschlagen.

Morro preßte die Lippen zusammen.

Er dachte an den verrückten Kapitän, den sie zum Teufel gejagt hatten. War die Katastrophe die Strafe dafür gewesen, die Vergeltung, die ausgleichende Gerechtigkeit, von der Vorsehung geübt?

Unsinn, dachte der Bretone angewidert. Der Kapitän hatte sein Schicksal tausendmal verdient. Drei Männer hatte er für Verbrechen hängen lassen, die nur in seinem Wahn bestanden, einen Offizier in den sicheren Tod gehetzt – zum Schluß war er nur noch eine reißende Bestie gewesen. Vielleicht war es der Gedanke an das Maya-Gold, der ihn hatte verrückt werden lassen.

Jean Morro dachte an die letzten Tage, an den Topf mit dem griechischen Feuer, der die Macht des Kapitäns sicherte, obwohl die ganze Besatzung hinter dem Bretonen stand. Aber dann war das griechische Feuer ins Meer geflogen und achteraus getrieben, und der verrückte Kapitän war in dem kleinen Boot ausgesetzt worden, während die „Caribia“ weitersegelte, ihrem Schicksal entgegen.

„Jean?“ ertönte eine halblaute Stimme aus dem Dunkel.

Morro hob den Kopf. Der alte Valerio hatte sich auf die Ellenbogen gestützt. In dem bärtigen, verwitterten Gesicht brannten die Augen.

„Hast du eine Ahnung, wie wir hier wieder wegkommen sollen, Jean?“

Morro lachte auf. Ein hartes, bitteres Lachen.

„Was weiß ich! Wir können ja ein Floß bauen. Oder wir warten, bis zufällig ein Schiff vorbeisegelt, und bitten den Kapitän, uns den Kahn zu schenken.“

„Also hängen wir hier für alle Ewigkeit fest?“

Der Bretone zuckte mit den Schultern. „Scheint so, oder?“

Schweigen senkte sich herab. Nur das Feuer knisterte, und der Wind sang in den Federwipfeln der Palmen am Strand. Der braunhäutige Maya hob den Kopf und bewegte witternd die Nasenflügel.

„Sturm“, sagte er mit seiner gutturalen Stimme.

„Ja, wir kriegen Sturm.“ Der Bretone nickte. „Vielleicht haben wir Glück, und ein Schiff sucht im Windschatten der Insel Schutz. Oder Lucien und die anderen werden mit der Pinasse angetrieben.“

„Die sind längst krepiert“, sagte der stämmige Burgunder düster. „Wer weiß! Wir müssen abwarten. Gib mir mal die Rumbuddel rüber!“ Jean Morro nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche.

Gerede, dachte er.

Ihre Lage war hoffnungslos, und er glaubte längst nicht mehr daran, daß sich das ändern würde.

„Mistvieh! Verdammte Bestie! Dir ziehe ich die Haut in Streifen von deinem verdammten Affenarsch!“

Ed Carberrys Stimme dröhnte im Vorschiff wie Donnerrollen. Arwenack, der Schimpanse, brachte sich tunlichst außer Reichweite, aber er keckerte genauso laut und eindringlich weiter wie vorher.

Neben dem Profos fuhren Stenmark und Matt Davies hoch. Blacky seufzte tief, weil er gerade von einem schönen strammen Hafenliebchen geträumt hatte. Arwenack hüpfte aufgeregt auf und nieder und kümmerte sich nicht darum, daß er Big Old Shanes mächtigen Brustkasten malträtierte.

Der frühere Schmied der Feste Arwenack riß die Augen auf und starrte die zottige Erscheinung an, die da auf ihm herumhüpfte. Einen Moment glaubte er, sich noch in einem verrückten Alptraum zu befinden, dann zerstörte Ed Carberrys Donnerstimme diese Illusion.

„Du karierter Decksaffe! Du von einem triefäugigen Wassermann im Suff gezeugte Mißgeburt!“

„Seit wann säuft der Wassermann?“ fragte Smoky, der Decksälteste, schlaftrunken.

„Halt dein Maul, verdammt! Der Affe muß den Veitstanz haben oder …“

Big Old Shane richtete sich mit einem Ruck auf.

„Donegal Daniel O’Flynn!“ brüllte er. „Bring den Affen zur Vernunft, zum Teufel!“

Schweigen.

Nur Arwenack keckerte, schlug sich auf die Brust, hüpfte zum Schott und wieder zurück. Dan O’Flynn meldete sich nicht.

„Verdammter Rotzbengel!“ brummte sein alter Vater. „Wo steckt diese mißratene Wanze? Wird Zeit, daß ich ihm mal wieder eine Tracht mit dem Holzbein verpasse.“

„Dan ist nicht hier“, stellte Jeff Bowie fest, der ehemalige Karibik-Pirat, der die gleiche Hakenprothese statt einer Hand trug wie Matt Davies.

„Vielleicht mußte er mal“, sagte Bill mit schlagender Logik.

„Und wieso, zum Teufel, stellt sich der Affe dann an wie eine Jungfrau im Puff?“

Es war Ed Carberry, der das durch die Zähne stieß. Der Profos erinnerte sich, daß sich Arwenack schon ein paarmal aufgeführt hatte wie ein übergeschnappter Derwisch: nämlich immer dann, wenn sich sein spezieller Freund Donegal Daniel O’Flynn in Gefahr befand. Carberry richtete sich ächzend auf und ließ den Blick durch das Vorschiff schweifen.

„Wo steckt eigentlich Batuti?“ knurrte er. „Der hat doch auch Freiwache.“

„Mann!“ stöhnte Smoky. „Wenn du in Zukunft jedesmal ’nen Aufstand anzetteln willst, wenn mal einer zur Galion geht …“

„Reiß nur weiter den Maul auf, wenn du das Salzfleisch demnächst direkt im Magen kauen willst“, sagte der Profos trocken. „Dahin schlage ich dir nämlich die Zähne“, fügte er erläuternd hinzu. „Blacky, Stenmark – lüftet mal eure verdammten Affenärsche an. Wir gehen zum Freiluftlokus.“

„Ich muß aber nicht“, sagte Blacky bockig.

„Ist mir scheißegal. Ich will wissen, weshalb sich dieser blöde Affe so verrückt benimmt. Anlüften, habe ich gesagt! Wird’s bald, ihr Rübenschweine, ihr Kakerlaken, ihr müden Saftsäcke?“

„Der bringt die See zum Kochen“, murmelte Stenmark, während er sich aufrichtete und hinter dem Profos dorthin schlurfte, wo der Schimpanse Arwenack jetzt im Niedergang verschwand.

„Der bringt mich gleich zum Kochen“, verbesserte Blacky brummig. „Nicht mal in Ruhe schlafen läßt einen dieser Bastard.“

Er wollte noch mehr sagen, aber ein vernichtender Blick des Profos brachte ihn zum Schweigen. Es empfahl sich nicht, Edwin Carberry zu ärgern. Dem war nämlich hier an Bord nur einer über: Philip Hasard Killigrew, dessen erste Tat damals auf Francis Drakes „Marygold“ darin bestanden hatte, den bis dahin ungeschlagenen Profos nach Strich und Faden zusammenzufalten.

Für eine Weile schwelgte Blacky in Erinnerungen.

Schmerzliche Erinnerungen für ihn. Denn auch er hatte damals den Fehler begangen, sich mit dem Seewolf anzulegen. Und das Ende war gewesen, daß er, Blacky, mit seiner rechten Faust in einer Querplanke aus massivem Eichenholz festhing, die er zerschlagen hatte.

Seine Gedanken stockten.

Vor ihm begann der Profos in einer Tonlage zu fluchen, bei der das Schiff zitterte. Blacky und Stenmark zuckten erschrocken zusammen – und im nächsten Moment sahen auch sie die Bescherung.