Seewölfe Paket 6

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

1.

Dan O’Flynn hob mit mürrischer Miene das Spektiv, spähte hindurch und ließ es wieder sinken.

„Nichts“, sagte er. „Nichts und wieder nichts, verdammter Mist.“

Er kauerte mit dem Rücken gegen den Mast gelehnt im Großmars. Träge blickte er zu seinen „Gesprächspartnern“, dem Schimpansen Arwenack und dem karmesinroten Aracanga Sir John.

Arwenack wollte Solidarität beweisen und gab sich Mühe, genauso verdrießlich dreinzuschauen wie sein bester Freund Dan. Es wirkte aber eher komisch, wie sich seine Stirnhaut in Falten legte, wie er die Augenbrauen zusammenzog und seine breiten Affenlippen aufwarf und vorstülpte.

Sir John hockte nicht weit von Arwenack entfernt auf dem Rand der Großmarsverkleidung. Das war eigentlich eine Besonderheit, denn in „Normalzeiten“ galt er als Arwenacks größter Feind an Bord der „Isabella“. Gleich nach ihm kam der Kutscher, aber nur, wenn Arwenack etwas aus der Kombüse stibitzte. Nur dann wurde der Kutscher fuchsteufelswild.

Normalzeiten – darunter war praktisch jede Situation auf der großen Dreimast-Galeone zu verstehen. Ausgenommen Sturm und Gefecht. Wenn es nämlich knüppeldick wehte und Wogen von über zehn Yards Höhe oder gegnerische Kugeln gegen das Schiff anhieben, dann schlossen Arwenack und Sir John Burgfrieden, verkrochen sich irgendwo oder griffen gemeinsam mit in den Kampf ein, wenn dreiste Spanier oder Piraten die „Isabella“ zu entern trachteten.

Heute war Sir John mehr aus Neugierde in den Hauptmars hinaufgeflogen. Er wollte sich anhören, was der junge Mann mit den schärfsten Augen der ganzen Crew von sich gab.

Sir John legte den Kopf ein wenig schief. Mal äugte er zu Dan, mal zu Arwenack hinüber. Falls der Schimpanse den Waffenstillstand brach und mit halben Kokosnußschalen oder anderen Geschossen zu werfen begann, wollte er schleunigst Reißaus nehmen.

„Mann o Mann, das ist vielleicht ein beschissener Törn“, sagte Dan.

Sir John krächzte eine Antwort, senkte den Kopf und schlug zweimal heftig mit den Flügeln.

„Ich kann euch sagen, ich hab die Nase voll“, brummte Dan. Wieder schaute er mit dem Spektiv in die Runde. Aber dort, wo der Himmel mit der glitzernden See zusammenstieß und eine Linie bildete, die man die Kimm nannte, zeichnete sich nichts ab, das seine Laune bessern konnte.

„Nicht mal ein lausiger Spanier. Oder ein Boot voll Eingeborener. Oder ein Vogel. Kein Schiff, kein Lebewesen. Seit Wochen.“ Dan atmete tief durch und stieß die Luft ärgerlich durch die Nase aus. „Keine Insel, und mag sie auch noch so kahl und winzig sein. Nichts. Das ist zum aus der Haut fahren!“

„Luv an!“ krächzte Sir John.

Arwenack schoß einen Blick auf den Papagei ab, in dem sich glühende Eifersucht und Zorn mischten.

Dan winkte müde ab. „Was redest du denn da für einen Quatsch, Sir John. Wir liegen doch schon hoch genug am Nordost.“ Er sah zu den prall gebauschten Segeln der „Isabella“, dann wandte er den Kopf, und sein Blick wanderte zwischen Großmars- und Kreuzsegel hindurch zu dem schwarzen Segler. Der Viermaster glitt seitlich versetzt Backbord achteraus von der „Isabella“ dahin. Wie die Galeone segelte er auf Backbordbug liegend mit Steuerbordhalsen.

„Ja“, sagte Dan. „Eigentlich sind wir ja nicht schlecht dran. Wir fahren bei gleichbleibendem Wetter und Wind immer weiter auf dem 20. Grad nördlicher Breite nach Westen.“

Sir John gab ein paar kullernde Laute von sich.

Arwenack stieß ein beleidigtes Grunzen aus.

Dan kratzte sich am Hinterkopf und fuhr fort: „Aber wir sind, seit wir Neuspanien verlassen haben, genau siebzehn Tage unterwegs – mit einem Etmal von 150 Meilen.“

„Teufel!“ stieß der Papagei aus.

Arwenack stieg von der Verkleidung auf die Plattform hinunter und klaubte einen hölzernen Belegnagel auf, den er dort versteckt hatte. Sir John bewegte die Schwingen und schimpfte erbost.

„Ich glaube, wir landen wirklich noch in der Hölle“, sagte Dan mit schiefem Grinsen. „Siebzehn Tage, durchschnittliche Tagesleistung 150 Meilen, wenn man das malnimmt – also, Kopfrechnen war noch nie meine große Stärke, aber ich schätze, es kommen so zwischen zwei- und dreitausend Meilen dabei ’raus. Das ist eine echte Durststrecke, Leute.“ Dan fuhr sich mit der Hand durch die Haare und seufzte. „Richtig, unser Trinkwasser geht zur Neige. Und der Proviant auch. Bei Siri-Tong drüben auf dem schwarzen Schiff sieht’s nicht besser aus. Wenn das so weitergeht, erreichen wir nie das Land des Großen Chan, wo die Zopfmänner wohnen. Hasard meint, wir hätten noch nicht mal die Hälfte der Strecke zurückgelegt.“

„Hä-hä!“ krächzte Sir John.

Arwenack hantierte demonstrativ mit dem Belegnagel herum.

„Wir haben den falschen Kurs gewählt“, fuhr Dan O’Flynn fort. „Weiter südlich, das wäre zwar heißer gewesen, aber besser. Weiter südlich gibt’s mehr Inseln. Wenn wir nicht bald irgendwo landen, sind wir total vergammelt, bevor wir diesen rätselhaften Kontinent zu Gesicht kriegen.“

Sir John hatte natürlich kein Wort kapiert, aber er antwortete mit einem Lieblingswort Carberrys. Er schrie: „Affenärsche!“

Arwenack verstand die Sprache der Zweibeiner auch nicht, aber er fühlte sich irgendwie beleidigt und reagierte entsprechend. Er schwang den Koffeynagel, schleuderte ihn und stieß ein wütendes Keckern aus.

Sir John flatterte auf. In fast vertikaler Bahn schwang er sich bis zur Großmarsrah hoch und ließ sich schimpfend auf der Spiere nieder.

Wo er eben noch gehockt hatte, war nur noch Luft, und Arwenacks Geschoß flog ins Leere. Taumelnd senkte es sich der schwach gekräuselten See entgegen. Mit einem Klatscher landete es in den Fluten.

„Hölle und Teufel“, dröhnte die mächtige Baßstimme des Profos’ von der Kuhl herauf. „Welcher Stinkstiefel schmeißt denn hier mit Belegnägeln? Na warte, du Aas, wenn ich dich erwische!“

Arwenack duckte sich tief hinter die Segeltuchverkleidung des Großmarses und zog den Kopf ein. Dan lehnte sich ein Stück zurück, schaute zu Sir John hoch und murmelte: „Du bist wirklich ein Satansbraten, Kamerad.“

Als der Seewolf an Oberdeck erschien, verstummte Edwin Carberry. Sie blickten sich an, Carberry grinste, und dann wandte sich Hasard dem Backbordniedergang zu und stieg zum Achterdeck hoch.

Wenn Carberry brüllt, dann ist er gesund, sagte sich Hasard im stillen, und wenn was Wichtiges ist, meldet er es.

Er trat kurz zu Pete Ballie ins Ruderhaus und warf einen Blick auf den Kompaß. „In Ordnung, Pete. Keine Kurskorrektur.“

„Aye, Sir.“ Pete zeigte klar, aber es war etwas Lasches in seinen Bewegungen, und seine Miene war alles andere als zuversichtlich.

Hasard klomm zum Achterdeck hoch. Er sah zu Ben Brighton, Ferris Tucker und Big Old Shane, die sich mit Old Donegal Daniel O’Flynn und Smoly am Steuerbordschanzkleid versammelt hatten. Sie standen mit dem Rücken zur See, hatten die Ellbogen aufs Schanzkleid gestützt und ließen sich die Sonne ins Gesicht brennen.

Ferris Tucker schaute kurz zum schwarzen Segler, sagte etwas und schwieg wieder – wie die anderen vier.

Was er geäußert hatte, hatte Hasard nicht verstanden. Von Belang schien es aber nicht zu sein.

Hasard trat auf sie zu und sagte: „Sehr tatendurstig seht ihr nicht gerade aus.“

„Abwechslung täte gut“, entgegnete Ben Brighton. „Offen gestanden, wir fangen an, uns zu langweilen. Und die Crew wird launisch und ungenießbar.“

„Es gibt nichts zu tun“, meinte Ferris Tucker. „Die ‚Isabella‘ ist von den Maststangen bis zum Kielschwein aufgeklart.“

„Das Schiff ist tipptopp in Schuß“, fügte nun auch Old O’Flynn hinzu.

Hasard kniff die Augen zusammen und musterte die fünf der Reihe nach. „Mister Brighton“, sagte er dann langsam. „Wenn die Männer quengelig sind, muß unsere Lady eben noch mal von oben bis unten aufgeklart werden. Oder wir üben Mann über Bord. Ich kann weder Landgang noch eine Schnapsfeier anordnen, das ist doch klar, oder?“

Ben sah verdattert drein. „Selbstverständlich. Aye, aye, Sir.“

„Gibt es noch irgendwelche – Kleinigkeiten?“

„Nein, Sir.“ Ben hütete sich, sich noch weiter über die allgemeine Stimmung an Bord auszulassen. Und Ferris, Shane, Smoky und Old Donegal hielten den Mund. Denn sie wußten: Bei aller Umsicht und Gerechtigkeit, die der Seewolf auf seinem Schiff walten ließ – der Kapitän war er. Und die Disziplin mußte gewahrt werden.

Schließlich war die „Isabella VIII.“ nicht einfach nur irgendein Piratensegler der Weltmeere, sondern ein Korsarenschiff, das nach wie vor dem Oberbefehl der Königin von England unterstand. Und Hasard trug auch immer noch den Kaperbrief der „königlichen Lissy“ bei sich.

Also: Quengeleien wurden nicht geduldet, Unbotmäßigkeiten streng geahndet. Dabei konnte Hasard durchaus verstehen, wenn seine Männer ungeduldig wurden, aber das durfte er niemals offen zeigen.

„Was ist eigentlich mit Carberry?“ fragte er.

„Was soll sein?“ erwiderte Old O’Flynn. „Der Affe schmeißt mit Belegnägeln.“

Die anderen grinsten. Hasard setzte eine strenge, zurechtweisende Miene auf. „Donegal …“

„Ehm, ich meine natürlich Arwenack, nicht den Profos. Was denkst du denn von mir?“

Diesmal lächelte der Seewolf. „Gar nichts. Nie und nimmer würdest du den guten alten Ed einen verlausten Drecksaffen nennen, oder?“

„Wo kämen wir denn da hin“, sagte O’Flynn. Um seine Mundwinkel zuckte es.

 

Sie lachten nun alle, der Bann war gebrochen. Hasard blickte zum Großmars hoch und sah Dan, nicht aber den Schimpansen. Hoch über dem Ausguck thronte jedoch Sir John auf der Großmarsrah, und so wußte Hasard plötzlich, warum Arwenack sich so aggressiv benahm.

Hasard schritt bis zur Heckreling und schaute an der Laterne vorbei. Die See war eine flüssige Wüste, die sich in der Ewigkeit zu verlaufen schien. Abgesehen vom schwarzen Segler war weit und breit nichts zu sehen als türkisfarbenes Wasser.

Hasard drehte sich um. „Eigentlich hatte ich mit euch über etwas anderes sprechen wollen. Ihr erinnert euch doch an die Ledermappe, die wir Sabreras abgenommen haben.“

„Richtig“, sagte Ferris. „Da waren die Schriftstücke drin, aus denen hervorging, wieviel die Smaragdmine in Neu-Granada pro Jahr abwarf, auf welche Galeonen die Ausbeute verschifft wurde und wann die Kähne von der Neuen Welt in die Alte Welt segelten.“

„Und was er klammheimlich für sich beiseite geschafft hatte, war von diesem Halunken mit keiner Silbe erwähnt worden“, ergänzte Shane.

Sabreras war tot. Er hätte noch leben können, wenn er Hasard nicht zum Duell aufgefordert hätte. Er hatte zu hoch gesetzt und verloren, dieser durchtriebene spanische Kommandant.

Aber die Ereignisse lagen bereits wieder mehr als einen Monat zurück und gerieten bei den Seewölfen allmählich in Vergessenheit. Nur der „Nachlaß“ aus dem Sabreras-Abenteuer reiste auf der „Isabella“ und dem schwarzen Schiff mit: Funkelnde Zweikaräter, in Truhen und Kisten verpackt, Smaragdschmuck der Chibchas – und die Krone von unermeßlichem Wert, den diese Indianer einst als Opfer für ihre Gottheiten hergestellt hatten. Die Krone ruhte jetzt in einem der Schränke von Hasards Kapitänskammer.

„Ich habe mir die Dokumente noch einmal angesehen“, sagte Hasard. „Sie haben jetzt keine Bedeutung mehr für uns, weil wir die Smaragd-Transporte ja selbst unterbrochen und die Mine stillgelegt haben. Außerdem werden die Dons alles neu planen, falls sie jemals wieder ‚Esmeraldas‘ von Neu-Granada zum Isthmus hinaufschaffen. Trotzdem. Ich habe die Mappe erneut untersucht und bin dabei auf ein Schreiben gestoßen, das ich vorher übersehen hatte.“

Die Männer horchten auf.

Hasard griff in die Hosentasche und zog einen zusammengefalteten Bogen Büttenpapier hervor. „Hier ist die Rede von der legendären ‚Nao de China‘ oder besser, von der Manila-Galeone.“

„Manila? Was ist das?“ wollte Old O’Flynn wissen.

Ferris Tucker faßte sich an die Stirn und stöhnte auf. „O Mann. Das ist eine Niederlassung der Spanier auf den Inseln, die sie zu Ehren ihres Allerkatholischsten Königs die Philippinen genannt haben.“

Smoky nickte. „Stimmt. Erst haben die Philippinen den Portugiesen gehört, dann haben die Dons sie eingeheimst.“

„Kann ich doch nicht wissen“, knurrte der Alte. „Bin ich vielleicht Hellseher?“

Hasard entfaltete das Schriftstück. Die Männer rückten näher auf ihn zu.

„Einmal im Jahr segelt die Manila-Galeone mit Waren aus China quer über den Stillen Ozean in die Neue Welt“, erklärte er. „Den Gegenwert in Gold und Silber nimmt sie dann von Acapulco aus wieder mit zurück nach Manila.“

Shane stieß einen Pfiff aus. „Donnerwetter, jetzt geht mir langsam ein Licht auf.“

„Unterbrich doch nicht dauernd“, fuhr O’Flynn ihn an.

„Hier steht, daß der Gouverneur von Panama vorgeschlagen hatte, diesen Gegenwert einmal in Smaragden zu entrichten, sobald man genug Steine aus der Mine in Neu-Granada angehäuft hatte.“

„Daraus wird jetzt nichts mehr“, frohlockte der alte Donegal. Er verstummte aber, als er den drohenden Blick bemerkte, den Shane auf ihn abschoß.

„Ob der König oder einer seiner Vizes diesem Plan zugestimmt hat, geht aus diesem Geheimdokument nicht hervor“, sagte Hasard. „Es ist nur von dem Geldwert die Rede, dem die jeweilige Ladung Gold, Silber oder Juwelen zu entsprechen hat – zwei Millionen spanische Piaster.“

Die Männer hielten unwillkürlich die Luft an. Erst Ferris Tucker fand nach einigem Staunen als erster die Sprache wieder.

„Donnerschlag – zwei Millionen! Das ist ein enormer Batzen!“

„Wem sagst du das?“ gab Ben Brighton trocken zurück. „Die Manila-Galeone dürfte für einen Freibeuter wohl das begehrteste Schiff sein, das je über dieses Meer gesegelt ist.“

Old O’Flynn stapfte mit seinem Holzbein auf. Der alte Schnapphahn wurde wieder in ihm wach, das sah man ihm deutlich an. „Warum, zum Teufel, bringen wir diesen elenden Zuber dann nicht auf?“

„Die Route der ‚Nao‘ wird streng geheimgehalten“, erwiderte Ben Brighton. „Und ich glaube, Philipp II. selbst legt sie jedes Jahr neu fest.“

„Du mußt es wissen“, sagte der Alte. „Du bist ja unter den Dons gefahren.“

Hasard überflog die Eintragungen auf dem Büttenpapier mit einem Blick. „Von dem Kurs des Schiffes ist auch hier nicht die Rede. Nur die Zeit der Überfahrt und Rückreise wird erwähnt.“

„Du meinst, wie lange die Galeone benötigt?“ erkundigte sich Smoky.

Hasard entgegnete: „Nicht nur das. Auch der voraussichtliche Aufbruch in Manila ist festgehalten. Wenn ich die anderthalb Monate hinzuzähle, die die Spanier für die Überquerung des Ozeans eingeplant haben, den Aufenthalt in Acapulco, die Zeit, die man dort für das Löschen der Ladung und das Verstauen von Gold und Silber benötigt, dann befindet sich die Galeone entweder ein paar Tagesreisen irgendwo hinter uns, oder sie ist uns vor der Nase davongesegelt. Wenn ich das eher gewußt hätte!“

„Warum segeln wir nicht einfach nach Neuspanien zurück?“ fragte der alte O’Flynn. „Vielleicht schnappen wir diese Narren noch. Einen Versuch wäre es doch wert.“

„Donegal“, sagte Hasard. „Nun überleg doch mal. Wir müßten gegen den Wind kreuzen und würden für die Rückkehr in die Neue Welt mehr Zeit brauchen als siebzehn Tage. Das kann ich nicht verantworten, wir haben icht mehr genügend Proviant und Trinkwasser an Bord. Außerdem wissen wir ja nicht, ob die Manila-Galeone noch in Acapulco liegt. Und ihren Kurs kennen wir nicht. Sie könnte also glatt an uns vorbeisegeln, ohne daß wir sie überhaupt sehen. Und weiter: Wer sagt uns, daß die Spanier den Terminplan der ‚Nao‘ inzwischen nicht bereits wieder geändert haben?“

„Da ist was dran“, meinte der Alte zerknirscht. „Das muß man sich erst mal genauer durch den Kopf gehen lassen. Ja, dann können wir den Kahn wohl doch in den Wind schreiben, oder?“

Hasard steckte das Dokument wieder ein. „Ich bin ein unverbesserlicher Optimist, Donegal. Ich rechne mir noch ein paar Chancen aus, der Galeone irgendwo aufzulauern.“

„Und was du da eben über den Proviant gesagt hast, glaubst du denn, bis in das Land der Zopfmänner brauchen wir weniger Zeit als noch mal zwanzig, dreißig Tage?“

„Keineswegs.“

„Dann sollten wir lieber Fische zu fangen versuchen, statt hier Löcher in die Luft zu glotzen“, sagte der Alte zu Ben, Ferris, Shane und Smoky gewandt. „Sonst nagen wir bald am Hungertuch.“

Hasard lächelte wieder. „Donegal, ich schätze, wir stoßen bald auf Inseln. Dort läßt sich unser Nahrungs- und Frischwasserproblem lösen.“

„Dein Wort in Gottes Ohr, Kapitän Killigrew“, sagte Old O’Flynn verdrossen.

Er wollte noch etwas hinzufügen, aber sein Sohn richtete sich genau in diesem Augeblick im Großmars auf und stieß einen wilden Schrei aus.

Dan wies mit dem ausgestreckten Arm nach vorn und rief: „Land in Sicht! Direkt voraus!“

Er lachte, stieß Arwenack mit dem Ellbogen an, und der gab ein begeistertes Grunzen von sich, klatschte in die Vorderpfoten und drehte sich im Kreis auf der Großmarsplattform.

Sir John ließ sich von der Großmarsrah fallen und raste im Sturzflug zwischen Groß- und Fockmast auf die Kuhl zu. Er fing seinen Flug mit ausgebreiteten Schwingen ab, glitt in einer eleganten Schleife dahin, wich den Steuerbordfockwanten um knapp eine Handspanne aus, setzte seine Reise in kreisenden, spiralförmigen Abwärtsbewegungen fort und landete schließlich auf Carberrys linker Schulter.

Zärtlich knabberte er am Ohr des bulligen Mannes herum. „Land in Sicht“, brabbelte er dabei.

„Du gerupfter Zwerghahn“, sagte der Profos. „Das wissen wir doch schon. Deswegen brauchst du doch nicht so einen Aufstand zu veranstalten.“

Er war aber auch froh, daß sich eine Abwechslung anbahnte. Jetzt war nicht nur mit dem eintönigen Dahinsegeln Schluß, jetzt konnten die Kombüsenvorräte ergänzt werden, und mit einigem Glück würden sie eine Trinkwasserquelle finden.

Der Kutscher stürzte aus dem Kombüsenschott, er sah verstört aus.

„He, du blinder Bär“, fuhr Carberry ihn an. „Hast du gepennt, was, wie? Schleif die Messer und wetz die Hackebeilchen, es gibt bald Arbeit für dich. Ich hoffe, wir finden genügend Viehzeug zum Jagen.“

Der Kutscher blieb stehen und schaute ihn an. „Ja, Ed, das wird auch Zeit. Ich habe eben festgestellt, daß etwa die Hälfte unseres letzten Zwiebackbestandes schimmlig geworden ist. Und die letzte Speckseite ist auch angefault. Der Teufel mag wissen, wie das passieren konnte.“

„Du hast nicht aufgepaßt, das ist es“, sagte Carberry erbost. „Weißt du, was ich mit dir mache?“

„Ich kann’s mir vorstellen“, erwiderte der Kutscher. Er dachte dabei an das Profos-Lieblingszitat.

Aber Hasard trat zu ihnen. Er hatte das Achterdeck verlassen und begab sich mit dem Spektiv in der Hand auf den Weg zur Back. Er wollte sich ein Bild von Dan O’Flynns Entdekkung verschaffen.

„Ed“, sagte er. „Es ist einfach zu heiß. Der Kutscher hat keine Schuld, wenn ein Teil unseres Proviants verdirbt. Dir würde es auch nicht besser ergehen, wenn ich dich zum Kombüsendienst abkommandieren würde.“

„Ich als Heringsbändiger und Suppenpanscher?“ stieß Carberry entsetzt hervor. „Das fehlte noch!“

„Dann hol tief Luft und zähle bis zehn“, sagte der Seewolf.

Der Profos tat es. Als er ausgezählt hatte, waren Hasard und der Kutscher verschwunden. Sie standen nun beide auf der Back – neben Smoky, Batuti, Al Conroy, Matt Davies und all den anderen, die sich dort nach und nach einfanden. Alle spähten angestrengt voraus.

„Das sind Inseln!“ schrie Dan O’Flynn aus dem Großmars. „Zwei – jetzt sehe ich noch eine dritte!“

„Vielleicht sind’s auch noch mehr als drei“, murmelte Carberry. „Ein ganzer Archipel. Hoffentlich gibt’s da nicht so blöde Biester wie auf den gottverfluchten Galapagosinseln. Drachen, Riesenschildkröten, anhängliche Seelöwen und diebische Drosseln – davon hab ich die Nase gestrichen voll.“

2.

Siri-Tong stemmte die Fäuste in die Seiten. Ihr hübsches Gesicht hatte einen harten, widerwilligen Ausdruck angenommen. Bislang hatte sie unausgesetzt vom Achterdeck ihres Schiffes zur „Isabella VIII.“ hinübergeblickt, jetzt drehte sie sich zu Thorfin Njal, Juan und dem Boston-Mann um und sagte: „Ich habe verstanden, was Dan O’Flynn gerufen hat – Land. Was ist mit unserem Ausguck los?“

„Unsere Position liegt gut zwei Kabellängen hinter der des Seewolfes“, gab der Wikinger zu bedenken. „Wir sind noch zu weit vom Land entfernt.“

Die Rote Korsarin legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Vormars hoch. „Unsinn, der Kerl pennt, das ist es. Ich sehe ihn nicht. Wer hat zuletzt den Posten im Vormars übernommen? Missjöh Buveur?“

„Ja, Madame“, sagte Juan.

„Wenn dieser Bursche wieder getrunken hat, verpasse ich ihm einen Denkzettel, den er nicht vergißt“, stieß sie erzürnt hervor. „So etwas lasse ich nicht zu.“

„Stör!“ brüllte Thorfin Njal. „Hinauf in den Vormars und nachsehen, was mit dem Franzosen los ist. Wird’s bald?“

„Wird’s bald“, sagte der Stör. Er hatte nicht nur ein beängstigend langes Gesicht, sondern auch eine bedenkliche Angewohnheit. Er sprach immer den letzten Satz von Thorfin Njal nach, und das hatte ihm mehr als einmal eine Maulschelle oder einen Boxhieb eingebracht.

Diesmal stand er aber zu weit von seinem Landsmann und Vorgesetzten entfernt – auf der Kuhl des schwarzen Schiffes. Als Thorfin Njal Anstalten traf, vom Achterdeck hinunterzusteigen, setzte der Stör sich schleunigst in Marsch, lief ganz nach vorn auf die Back und enterte in den Steuerbordwanten auf.

Er hatte vernommen, was Siri-Tong gesagt hatte und sann darüber nach. War Missjöh Buveur wirklich so leichtsinnig, den Posten als Ausguck zu vernachlässigen? „Buveur“ war französisch und bedeutete Trinker, soviel war dem Wikinger bekannt. Und alle an Bord des Viermasters wußten ja auch, daß der Franzose seinem Spitznamen alle Ehre bereitete. Er war dauernd auf der Suche nach etwas Trinkbarem. Jeder Seewolf soff gern, aber Missjöh Buveur übertrumpfte alle.

 

Auch als Ausguck?

Er riskierte viel. Siri-Tong pflegte bei Unregelmäßigkeiten an Bord hart durchzugreifen, sie kannte kein Pardon. Besonders bei Disziplinlosigkeit wurde sie fuchsteufelswild.

Wollte Buveur, dieser Narr, sie wirklich auf diese Art herausfordern? Er mußte lebensmüde sein.

Eigentlich hätte Missjöh Buveur schon quicklebendig werden müssen, als Njal seinen Befehl gebrüllt hatte. Das hatte doch bis zu ihm durchdringen müssen! Der Stör schüttelte den Kopf und hangelte weiter nach oben. Nur noch ein paar Webeleinen trennten ihn von der Plattform des Fockmastes. Innerlich war er darauf vorbereitet, den Franzosen sternhagelvoll und nach Alkohol stinkend hinter der Umrandung vorzufinden.

Konnte man sein Schnarchen nicht schon hören?

Der Stör richtete sich ganz oben in den Wanten auf, klomm mit den Händen höher und legte sie auf den Rand der Segeltuchverkleidung. Er blickte darüber weg – und in diesem Augenblick geschah es.

Eine Gestalt schoß hinter der Verkleidung hoch, zweifellos Missjöh Buveur, wie der Wikinger reflexartig feststellte. Der Kerl hielt den Kieker mit beiden Händen vor dem Auge fest und brüllte plötzlich aus voller Kehle: „Land! Land in Sicht!“

Es gellte in den Ohren des Störs, er glaubte, Glocken läuten zu hören. Und Missjöh Buveur hatte ihn so erschreckt, daß er glatt den Halt verlor und abzustürzen drohte.

Der Stör ruderte mit den Armen und wirkte dabei ungefähr so wie eine jener merkwürdigen Windmühlen, die sie in Holland bauten. Er geriet immer mehr aus dem Gleichgewicht. Vergeblich versuchte er zu balancieren, drückte die Knie nach vorn, um das drohende Abkippen nach hinten zu verhindern. Aber er schaffte es nicht mehr und schien verloren zu sein.

In einer spukhaften Sequenz sah er sich schon auf Deck stürzen.

Aber Missjöh Buveur fuhr jählings herum. Er starrte den Wikinger verdutzt an, ließ das Spektiv sinken, streckte eine Hand aus und hielt ihn fest.

„Was ist denn mit dir los?“ rief er.

„Das wollte ich dich fragen“, keuchte der Stör.

„Was willst du denn hier oben?“

„Hast du Thorfin Njal nicht brüllen hören? Hast du nicht gehört, was Dan O’Flynn drüben auf der ‚Isabella‘ gerufen hat?“

„Nein, hab ich nicht.“

„Bei Odin …“

„Ich war viel zu vertieft“, sagte der Franzose. Er zog den Kameraden näher zu sich heran.

Der Stör hielt sich wieder an der Vormarsumrandung fest, hatte große Augen und sagte völlig verdattert: „Ja, Mann, in was denn, zum Teufel?“

„Na, in meine Beobachtungen.“ Missjöh Buveur ließ den Stör los, weil der ja jetzt allein zurechtkam, beugte sich weit über die Verkleidung und schrie: „Land! Drei Inseln!“

„Dein Glück!“ brüllte Thorfin Njal zurück.

Der Franzose drehte sich zu dem Stör um. „Was sagt er denn?“

„Daß du schwerhörig bist. Hast du die Inseln wirklich eben erst entdeckt?“

„Ja, als du ’raufstiegst und …“

„Schon gut“, erwiderte der Wikinger mühsam beherrscht. „Nun hauch mich mal an, ja?“

„Wieso denn?“

Der Stör schaute so grimmig drein, daß Missjöh Buveur augenblicklich verstummte und der Aufforderung folgte. Der Stör brummelte noch etwas Unverständliches, schüttelte den Kopf und verschwand dann in Abwärtsrichtung. Missjöh Buveur blickte ihm nach, kratzte sich am Hinterkopf und spähte wieder durch sein Fernrohr.

Wieder auf der Back angelangt, traf der Stör mit Arne und Oleg zusammen. Sie schauten ihn fragend an, und er sagte verwirrt: „Komisch, der Franzose stinkt wie ein alter Ziegenbock, aber nicht nach Schnaps. Er ist ausnahmsweise stocknüchtern.“

„Das hat ihn vor der Neunschwänzigen bewahrt“, entgegnete Arne.

Der Seewolf ließ den Kieker sinken. Die größte der Inseln konnte er nun mit bloßem Auge erkennen. Sie hob sich dunkel und kegelförmig vom Horizont ab.

„Ich glaube, das sind die Inseln, die auf einer meiner von den Spaniern erbeuteten Seekarten eingezeichnet sind“, sagte er zu den Männern, die ihn umringten. „Allerdings ist die geographische Länge nicht genau angegeben. Ich wußte also nicht, ob wir heute, morgen oder erst in einer Woche auf die Gruppe stoßen würden.“

Old O’Flynn stand hinter ihm. „Deswegen warst du also deiner Sache so sicher. Du bist schon ein Teufelskerl, Hasard.“

Hasard wandte sich um. „Aus meinen Aufzeichnungen geht hervor, daß es sich um neun große und mehr als ein Dutzend kleinere Inseln handelt. Wir müssen bei der Landung sehr vorsichtig sein, denn ich rechne fest damit, daß wir auf Eingeborene treffen.“

Carberry, der nun ebenfalls das Vordeck betreten hatte, stieß einen ärgerlichen Laut aus. „Eben, und bei denen weiß man nie, woran man ist. Sie können harmlos sein, aber genausogut können sie schon in den Büschen lauern, um uns anzufallen und uns die Gurgeln durchzuschneiden.“

„Das ist Schwarzmalerei“, sagte Smoky.

„Das ist die Wahrheit“, versetzte der Profos dumpf.

Sie blickten wieder zu den Inseln. Die große richtete sich nun immer wuchtiger aus den Fluten auf. Das imposante Bergmassiv in ihrem Zentrum war um die Gipfel herum von Wolkenstreifen gekrönt.

Fasziniert betrachteten die Seewölfe dieses Werk der Natur. Eine unerklärliche Aura haftete dem Eiland an, und je näher sich die „Isabella“ darauf zuschob, desto stärker wurde der Bann, in den die Männer sich gezogen fühlten.

Hasard suchte das Ufer mit Hilfe des Spektivs ab.

„Merkwürdig“, sagte er schließlich. „Die nordöstliche Küste ist pechschwarz wie verkohltes Holz, aber zum Südufer hin wird die Landschaft hell und lieblich. Ich sehe einen weißgoldenen Strand und Palmenwipfel.“

„Das Paradies auf Erden“, brummte Carberry. „Aber darauf falle ich nicht wieder ’rein. Macht euch auf Kopfjäger, feuerspuckende Berglöcher und bösartige Viecher gefaßt.“

Hasard blieb unbeirrt. „Wir runden die Insel im Süden und suchen nach einem Landeplatz. Wir ankern, fieren die Beiboote ab, und dann sehen wir weiter.“

Tatsächlich stießen sie etwa eine Stunde später an der Leeseite der großen Insel auf eine langgestreckte, von weißem Sandstrand gesäumte Bucht. Sie lud regelrecht zum Verweilen ein.

Hasard dirigierte seine „Isabella“ hinein, und das schwarze Schiff folgte ihm. Smoky lag bäuchlings auf der Galionsplattform und lotete die Tiefe aus. In regelmäßigen Zeitabständen gab er die Daten weiter: „Elf Faden – zehneinhalb – zehn – zehn …“

Als sie die Mitte der Bucht erreicht hatten, war die Wassertiefe gleichbleibend und pendelte um das Zehn-Faden-Maß. Der Seewolf atmete auf. Die Gefahr, auf Grund zu laufen, bestand nicht mehr.

„Fallen Anker!“ rief er.

„Fallen Anker!“ brüllte Ed Carberry, und kurz darauf ertönte der Befehl auch auf dem schwarzen Schiff.

Die schweren Stockanker rauschten an ihren Trossen aus, schwebten im klaren Wasser bis auf den Grund und bohrten sich in den hellen Sand. Der Seewolf beugte sich nach vorn, blickte nach unten und konnte Trosse und Buganker verschwommen in der Tiefe erkennen. Die See glitzerte wie flüssiges Kristall.

Hasard sah zum Ufer und beobachtete, wie sich die Palmenwipfel in einer leichten Brise wiegten. Ein Vogel schwebte über dem Grün des Binnenlandes. Die Szene atmete Frieden, Ausgeglichenheit, Harmonie. Dies schien tatsächlich das Paradies auf Erden zu sein.

Carberrys barsche Stimme rief in die Wirklichkeit zurück. „Fiert ab die Beiboote, ihr müden Säcke! Wollt ihr wohl spuren, oder muß ich euch anlüften? Habt ihr das verlernt, ihr triefäugigen Kakerlaken? O, ihr Faulenzer, ihr Rübenschweine, wenn man euch nicht dauernd den Marsch bläst! Ich hab’s ja schon immer gesagt, euch hat eine Wanderhure vor der Kirche verloren …“

So ging das weiter, bis die Beiboote endlich im Wasser lagen und bemannt waren. Hasard landete mit zwei Jollen und einem Dutzend Männern. Er wollte die Insel gründlich erkunden, um vor Überraschungen sicher zu sein.

Siri-Tong ließ ebenfalls zwei Boote an Land pullen. In dem ersten saß sie selbst. Ihre Begleiter waren die fünf Wikinger, der Boston-Mann und Mike Kaibuk. Das zweite Boot war unter anderem mit den beiden Portugiesen, Muddi und Tammy bemannt.