Seewölfe Paket 6

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8.

„O verdammt, verdammt!“ fluchte Ed Carberry. „Der Teufel soll mich lotweise holen, wenn da nicht eine Schweinerei passiert ist. Nicht einmal der lahmste Kombüsenhengst braucht drei Stunden, um dieses vom Leibhaftigen im Suff ins Meer geschissene Eiland abzusuchen!“

„Was heißt hier der lahmste Kombüsenhengst?“ empörte sich der Kutscher. „Ich möchte dich verfressenen Steinzeitmenschen mal sehen, wenn ich nicht in meiner Kombüse …“

„Halt’s Maul, oder ich vergesse mich und setze dich mit deinem verdammten Affenarsch in die Bratpfanne. Hasard und die anderen müßten längst zurück sein, kapierst du Esel das nicht?“

„Natürlich kapiere ich das“, sagte der Kutscher mit Würde. „Aber ich kapiere nicht, warum du hier herumbrüllst, statt etwas zu unternehmen. Wir haben doch Boote genug – oder?“

Für einen Moment war Ed Carberry sprachlos.

Ben Brighton, der neben ihm am Schanzkleid stand, lächelte leicht. Es war ein flüchtiges Lächeln, das sofort wieder verschwand. Auch der Bootsmann und erste Offizier der „Isabella“ sorgte sich. Genau wie Big Old Shane, der ehemalige Schmied von Arwenack, der unruhig an seinem wirren grauen Bart zupfte, und Old Donegal Daniel O’Flynn, in dessen verwittertem Gesicht es arbeitete.

„Klar zur Wende!“ krächzte der Papagei Sir John, dem es nicht gefiel, daß alle so still waren.

„Halt den Schnabel, du Geier!“ fauchte der Profos aufgebracht. Und mit einem tiefen Atemzug: „Wir müssen wirklich etwas unternehmen. Ich schlage vor, wir stellen einen Suchtrupp zusammen. Jeff, Sam, Blacky, Bob, Luke und ich.“

Ben Brighton nickte. „Einverstanden! Aber seid vorsichtig, damit ihr nicht auch noch verschwindet.“

„Ha! Der alte Carberry verschwindet nicht, darauf kannst du einen Fliegenpilz frühstücken. Und wenn auf der verdammten Insel sämtliche Wassermänner der sieben Meere spuken!“

„W-w-wassermänner?“ stotterte Blacky, leicht blaß um die Nase.

„Klar doch“, verkündete Old O’Flynn dumpf. „Hast du noch nie davon gehört, daß die hier in der Lagune lauern, um unvorsichtige Seeleute in die Tiefe zu ziehen? Ist doch klar, daß es nicht mit rechten Dingen zugeht, wenn auf so ’ner Insel einfach jemand verschwindet, oder?“

Blacky schluckte, begriff dann, daß er aufgezogen wurde, und schoß dem grinsenden Alten einen giftigen Blick zu. Ed Carberry stemmte die Fäuste in die Hüften.

„Wenn wir einem Wassermann begegnen, werden wir ihn am Schwanz ziehen“, versprach er. „Und jetzt Tempo, ihr lahmen Decksaffen! Glaubt ihr, heute sei Weihnachten, was, wie? Bewegt euch! Beiboot abfieren, aber ein bißchen flott, sonst mach ich euch Feuer unterm Hemd, ihr schlafmützigen, von einer Seekuh im Suff gezeugten Mondkälber!“

Ed Carberry fluchte noch, als die Männer das Beiboot längst im Rekordtempo aufs Wasser gebracht hatten. Sie enterten über die Jakobsleiter ab, nicht ohne sich vorher mit Waffen und Munition versorgt zu haben. Ed Carberry hatte sich zur Abwechslung Batutis fürchterlichen Morgenstern an den Gürtel gehängt. Und die Art, wie er sein Rammkinn vorschob und mit den Zähnen mahlte, verriet deutlich, daß er entschlossen war, das Ding notfalls dem Teufel persönlich um die Ohren zu hauen.

Das Boot wurde sorgfältig an Land gezogen, neben das zweite Fahrzeug, das Hasard und seine Gruppe zurückgelassen hatten.

Genau wie der Seewolf entschied sich auch Ed Carberry dafür, die Insel zunächst einmal zu umrunden, Spuren zu suchen und vielleicht einen bequemen Aufstieg zum höchsten Punkt des Eilands zu finden. Aber der Profos rechnete von vornherein mit Verdruß. Vielleicht war auch ein bißchen zu viel von „Verschwinden“ und „nicht mit rechten Dingen zugehen“ gesprochen worden.

Ed Carberry teilte den Trupp. Er selbst, Blacky und Jeff Bowie marschierten los. Sam Roscill und Luke Morgen sicherten nach hinten, bis sie dann, von den anderen gedeckt, wieder aufholten. Auf diese Art ging das Unternehmen zwar etwas langsam vorwärts, aber auf jeden Fall wurde eventuellen Angreifern nicht die Möglichkeit geboten, den jeweils letzten Mann der Gruppe lautlos auszuschalten.

Lediglich das Felsengewirr der östlichen Landzunge überkletterten sie ohne diese Vorsichtsmaßnahme. An der Steilküste im Norden, marschierten sie jeweils dann gemeinsam, wenn es galt, vorspringende Klippen zu umrunden, die den Sichtkontakt hätten abreißen lassen.

Kein Wort fiel – bis sie zum drittenmal, vorsichtig auf der geröllbedeckten Brandungsplatte, an einer vorspringenden Felsennase vorbeiturnten.

Ed Carberry prallte zurück.

„Verflucht!“ flüsterte er nur.

Und auch die anderen blieben wie versteinert stehen und starrten auf das gespenstische Bild vor ihren Augen.

Ein Dutzend Schritte weiter befanden sich zwei einzelne übermannshohe Klippen, nicht weiter als eine Armspanne voneinander entfernt.

Jemand hatte einen angeschwemmten Balken quer über die beiden Felsen gelegt, einen Balken, der als provisorischer Galgen diente – und an dem eine ausgemergelte Gestalt mit kahlem Schädel baumelte.

Der Irre!

Der Schiffbrüchige, der zusammen mit Dan und Batuti von der „Isabella“ verschwunden war.

Das umgestürzte Fäßchen lag noch vor seinen Füßen. Der fachmännische Henkersknoten hatte ihm das Genick gebrochen.

Dan O’Flynns gefesselte Hände umklammerten den Stein, den er nach längeren Anstrengungen in seinem Rücken ertastet hatte.

Sein Blick hing an den Wachtposten. Diesmal war es der einäugige Esmeraldo, der schlapp wie ein ausgewrungener Lappen in der Nähe der Feuerstelle hockte, immer noch etwas grün im Gesicht.

Pepe le Moco kauerte hoch oben zwischen den Felsen und lauschte gespannt in die Stille. Inzwischen war ein dritter Mann zu ihnen gestoßen, der graubärtige Alte mit dem Namen Valerio. Er hatte den beiden anderen mit triumphierender Stimme erzählt, was passiert war – und für Dan und Batuti bedeuteten die wenigen Worte das Ende ihrer Hoffnungen.

Offenbar war eine Gruppe ihrer Kameraden an Land gegangen, um nach ihnen zu suchen, und von den Piraten im Handstreich überwältigt worden. Jetzt warteten die Kerle in aller Ruhe darauf, daß sich etwas tat. Irgendwann würde der Rest der Crew auf der „Isabella“ mißtrauisch werden und vielleicht einen weiteren Suchtrupp losschicken – und dann brauchten die Piraten nicht einmal mehr zu kämpfen.

Sie hatten Dan und Batuti nur deshalb nicht als Geiseln benutzt, weil sie immer noch glaubten, die beiden seien heimlich von Bord abgehauen und die anderen würden nicht viel Rücksicht auf ihr Leben nehmen. Jetzt sah das anders aus. Wenn es ihnen gelungen war, eine Gruppe von den Seewölfen gefangenzunehmen, hatten sie die Möglichkeit, sie als Faustpfand zu benutzen und den Rest der Crew zur Aufgabe zu zwingen.

Dan biß sich verzweifelt auf die Lippen.

Er hatte einen wachen Verstand, und er wußte, daß es sinnlos war, sich etwas vorzumachen. Die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, daß es den Piraten tatsächlich gelingen würde, sich die „Isabella“ unter den Nagel zu reißen.

Dan und Batuti hatten jetzt auch keine Chance mehr, sich von den Fesseln zu befreien: erstens waren sie noch gründlicher verschnürt worden als vorher, zweitens paßten ihre Gegner besser auf. Die beiden Gefangenen hätten höchstens riskiert, daß sie von neuem bewußtlos geschlagen wurden – und das wäre dann das endgültige Aus gewesen.

Die Piraten wollten sie mitnehmen.

Nach Chiapas, ins Land der Mayas!

Dan wußte, daß es jetzt nur noch um eins ging: eine Möglichkeit zu finden, ihren Kameraden irgendwie das Ziel der Piraten mitzuteilen. Denn Hasard und die anderen würden ganz sicher nicht lange auf der Insel festsitzen. Der Schwarze Segler war in der Nähe. Siri-Tong und der Wikinger würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihre Freunde zu finden.

„Batuti“, murmelte Dan fast unhörbar.

„Ja?“

„Kannst du dich aufrecht hinsetzen?“

„Bin ich Tattergreis? Batuti kann Kopfstand machen, wenn sein muß.“

„Bloß nicht! Hör zu, ich will versuchen, eine Nachricht für Hasard in den Felsen zu ritzen. Wir lehnen uns unauffällig an den Stein da drüben. Und du setzt dich so, daß du meine Hände verdeckst, klar?“

Der schwarze Herkules nickte nur und ließ die Augen rollen. Sie brauchten ein paar Sekunden, um sich langsam und unauffällig näher an die Felsen zu schieben. Batuti richtete sich auf und lehnte sich mit der Schulter dagegen. Dan suchte eine Position, in der er mit dem Stein in seinen Fäusten die glatte Wand hinter sich erreichen konnte.

Der einäugige Esmeraldo warf ihnen ab und zu einen flüchtigen Blick zu, aber er schien nichts Verdächtiges an ihrem Verhalten zu finden.

Dan biß sich auf die Lippen. „Chiapas“, wollte er in den Felsen ritzen. Das war ein einziges kurzes Wort, aber nach ein paar Minuten mußte er einsehen, daß er sich die Sache bei weitem zu einfach vorgestellt hatte.

Der Stein in seinen gefesselten Händen und der Felsen in seinem Rücken wiesen ungefähr den gleichen Härtegrad auf. Dan mußte höllisch aufpassen, um nicht ständig abzurutschen und lediglich ein Gewirr von Linien zustande zu bringen. Nach den ersten drei Buchstaben lief ihm der Schweiß in Strömen über den Körper.

Beim Querstrich des A zerbröckelte ihm der Stein unter den Fingern, und er mußte einen neuen suchen. Er brauchte eine volle Viertelstunde für das eine läppische Wort, und als er sich schließlich umdrehte, um sein Werk zu begutachten, stellte er fest, daß man schon sehr genau hinsehen mußte, um die Buchstaben als „Chiapas“ zu entziffern.

Einerseits ganz gut so, denn auf diese Weise wurde die Gefahr geringer, daß die Piraten die eingeritzten Schriftzeichen bemerkten und dann zerkratzten.

 

Aber würden Hasard und die anderen die Nachricht entdecken? Bestimmt, entschied Dan. Denn sie würden sicher annehmen, daß die beiden Gefangenen eine Nachricht für sie zurückgelassen hatten und ganz gezielt danach suchen.

Batuti grinste zufrieden und ließ seine Zähne blitzen.

„Kleines O’Flynn hell in Kopf“, stellte er fest. „Und jetzt weg von schönes Wort. Drüben in Schatten!“

Dan nickte nur.

Er ließ sich einfach nach vorn fallen und rollte über den Boden. Batuti folgte seinem Beispiel. Der einäugige Esmeraldo hob mit einem Ruck den Kopf, aber seine Haltung entspannte sich sofort wieder.

Für ihn sah es so aus, als ob die beiden Gefangenen lediglich Schutz vor der sengenden Sonne suchten.

Für Dan und Batuti war der angenehm kühle Schatten nur ein Nebeneffekt. Als sie sich von neuem gegen die Felsen lehnten, waren sie ein beruhigendes Stück entfernt von der Stelle, wo Dan das Wort „Chiapas“ in den Stein geritzt hatte. Sie konnten damit rechnen, daß die Piraten die Nachricht nicht entdecken würden.

Beide wußten sie ziemlich genau, daß es eine recht dünne Chance war, auf die sich ihre Hoffnung gründete.

Aber immerhin fühlten sie sich jetzt nicht mehr ganz so hilflos wie zuvor.

9.

Nur für ein paar Sekunden standen Edwin Carberry und die anderen sprachlos da und starrten auf den baumelnden Leichnam in der Sonne.

Carberry stieß einen Fluch durch die Zähne, den niemand verstand. Der Profos wußte auf Anhieb, was das makabre Bild zu bedeuten hatte: vielleicht ein Ablenkungsmanöver, ganz sicher eine Warnung. Instinktiv griffen die Männer zu den Waffen und spähten aus zusammengekniffenen Augen zu den Klippen hinauf. Sie ahnten, daß gleich etwas passieren würde, aber als es geschah, hatten sie nicht die geringste Chance, etwas dagegen zu unternehmen.

Jäh wurde es über ihnen lebendig.

„Keine Dummheiten!“ brüllte jemand im Gewirr der Felsen auf der Hochfläche. „Laßt die Finger von den Waffen! Wenn ihr in der Gegend herumballert, durchlöchert ihr eure eigenen Leute, Freunde!“

Ed Carberry holte tief Luft. Seine Augen waren dunkel vor Wut, sein zernarbtes Gesicht hatte sich verkantet.

„Der Teufel ist dein Freund!“ brüllte er zurück. „Komm her, du Hurensohn, dann zeig ich dir, wohin der Wind bläst …“

Der Profos stockte abrupt.

Hoch oben über der Felsenkante tauchte eine Gestalt auf, eine hochgewachsene, breitschultrige Gestalt mit flatterndem schwarzen Haar und eisblauen Augen. Hasard, dachte Carberry erleichtert – und in der nächsten Sekunde wurde ihm bewußt, daß zur Erleichterung nicht der geringste Anlaß bestand.

Philip Hasard Killigrew war gefesselt und geknebelt.

Selbst die Füße hatten sie ihm zusammengebunden, so daß er sich nur mit winzigen Schritten vorwärtsbewegen konnte. Von dem Kerl, der hinter ihm stand und ihn an den gefesselten Armen festhielt, war nur ein Schatten zu sehen.

Carberry erkannte graues Haar, eine große, hagere Gestalt – und die Pistole, die sich seitlich gegen Hasards Hals preßte.

„Ich bin Jean Morro!“ schrie der Unbekannte. „Vielleicht hat euch der kahlköpfige Halunke dort unten genugüber mich erzählt, um euch klarzumachen, daß ich nicht scherze. Ich knalle diesen Bastard hier ab, wenn ihr Dummheiten versucht. Und er ist nicht der einzige – wir haben auch die fünf anderen, den verdammten Nigger und dieses großschnäuzige Bürschchen! Also was ist? Wollt ihr eure Leute über die Klinge springen lassen?“

Ed Carberry war weiß vor ohnmächtiger Wut.

„Du dreckige Bilgenratte!“ Keuchte er. „Wenn du ihnen auch nur ein Haar krümmst …“

„Wir werden ihnen mehr als ein Haar krümmen, wenn ihr nicht spurt! Also los, werft eure Waffen weg! Alle schön auf einen Haufen! Und laßt euch nur nicht mit versteckten Messern oder so etwas erwischen! Ein einziger Trick, und wir schmeißen euch die erste Leiche vor die Füße!“

Für einen Moment blieb es still.

Auch links und rechts von Hasard wurden jetzt gefesselte, geknebelte Männer an den Klippenrand geschoben: Ferris Tucker, Smoky, dem Blut über das Gesicht lief, Matt Davies, Gary Andrews und Pete Ballie. Der Profos ballte die Hände, bis die Knöchel weiß und spitz hervortraten. Er starrte die anderen an. Luke Morgan, der schlanke, flinke Bursche mit dem jähzornigen Temperament, zerbiß sich fast die Unterlippe. Blacky, Bob Grey und Sam Roskill waren blaß geworden, und Jeff Bowie zerrte ratlos an seiner Hakenprothese.

„Wir haben keine Wahl, nicht wahr?“ fragte er leise.

„Stimmt“, knirschte der Profos. „O verdammt, ich …“

„Wird’s bald?“ peitschte die Stimme des Kerl mit dem Namen Jean Morro dazwischen. „Waffen weg, habe ich gesagt! Oder wollt ihr erst Blut sehen?“

„Du Bastard“, flüsterte der eiserne Profos mit bleichen Lippen. Und in seinen Augen stand kalter Mord, als er langsam Batutis Morgenstern von seinem Gürtel löste.

Die schwere Waffe klirrte gegen einen Stein und rollte ein Stück über den Sand der Brandungsplatte. Säbel, Pistolen und Musketen flogen hinterher, ein paar Messer und Handspaken. Sam Roscill bückte sich und zog einen schmalen Dolch aus dem Stiefel. Bob Grey legte gleich drei von den Spezial-Wurfmessern ab, mit denen er wie kein zweiter umzugehen verstand. Mit einer wilden Bewegung warf er sein blondes Haar zurück und starrte zum Klippenrand hoch, wo sich das gespenstische Bild immer noch nicht verändert hatte.

„Wunderbar!“ lobte der Grauhaarige hinter Hasard spöttisch. „Und jetzt klettert die Klippen hinauf. Schön einer nach dem anderen. Zuerst die Mißgeburt mit dem Haken.“

„Mit meinem Haken reiße ich dir demnächst den Arsch auf“, murmelte Jeff Bowie erbittert, während er sich in Bewegung setzte.

Das Kliff hinaufzuklettern, war ziemlich einfach, da es genug Kanten und Vorsprünge gab. Binnen weniger Minuten erreichte Jeff Bowie die Hochfläche. Einer der Piraten rammte ihm die Muskete in den Rükken, stieß ihn ein paar Schritte von der Felsenkante weg – und ein zweiter Mann schlug dem Opfer ohne viel Federlesens einen Holzknüppel über den Schädel.

Bob Grey war als nächster an der Reihe.

Auch er erhielt einen Schlag auf den Schädel – ganz offensichtlich hatten die Kerle da oben einen beachtlichen Respekt vor der Kampfkraft der Seewölfe und zogen es vor, auf Nummer sicher zu gehen.

Sam Roskill, der ehemalige Karibik-Pirat, mußte als nächster die Klippen hinaufklettern, dann folgte ihm der Profos – fauchend vor Wut, weil der Anführer seiner Widersacher ihn als „häßlichen, narbengesichtigen Bullen“ tituliert hatte.

Ed Carberry war zu wütend, um sich so einfach einkassieren zu lassen.

Oben am Klippenrand gab es ein kurzes, heftiges Gerangel. Der Profos entriß dem Kerl den Knüppel und schlug ihn das Holz um die Ohren, beförderte einen zweiten Mann fast über die Kante, aber das war auch schon alles, was er erreichte. Sie fielen zu fünft über ihn her, und er ging zu Boden.

Luke Morgan beobachtete die Szene voll hilfloser Wut und wartete auf das Zeichen, ebenfalls nach oben zu klettern.

Auch er brannte darauf, wenigstens einem der Kerle ein paar Zähne auszuschlagen oder das Nasenbein zu brechen. Aber mit ihm hatte der Grauhaarige offenbar etwas anderes vor.

„Hör zu, du halbe Portion!“ rief er. „Du wirst …“

„Komm herunter!“ schrie Luke außer sich. „Dann zeige ich dir, wer eine halbe Portion ist, du verlauster Mistbock!“

„Halt dein Maul, bevor wir es dir stopfen! Wir brauchen euer Schiff. Du setzt dich jetzt in das Boot und …“

„Nie!“ knirschte Luke Morgan.

„Nicht? Bist du sicher? Soll ich dem schwarzhaarigen Bastard hier eine Kugel in den Schädel jagen, damit du deine Meinung änderst?“

„Wenn du ihm ein Haar krümmst …“

„Das hatten wir schon“, sagte der Grauhaarige gelassen. „Und jetzt hör zu und quatsch nicht dauernd dazwischen, wenn du willst, daß deine Leute heilbleiben! Du pullst mit dem Boot zurück zu eurem Schiff. Richte den anderen aus, daß sie genau eine halbe Stunde haben, um uns das Schiff zu übergeben. Wir haben den Verrückten dort aufgeknüpft, damit ihr seht, daß wir es ernst meinen. In einer halben Stunde hängen wir den ersten von unseren Gefangenen daneben. Und dann alle Viertelstunde einen anderen. Solange, bis ihr weichwerdet. Oder bis keiner mehr am Leben ist, falls ihr euch stur stellt.“

Luke Morgan schwieg.

Es gab nichts mehr zu sagen. Jean Morro, der Südsee-Pirat, meinte jedes Wort seiner Drohung ernst, und es gab nicht den leisesten Zweifel daran, daß er alle Trümpfe in der Hand hielt.

Die „Isabella“ lag am Westzipfel der Insel auf Reede.

Eine weit vorspringende Felsennadel verdeckte die Sicht auf die Steilküste auf der Nordseite, aber dafür waren Riff und Strand einigermaßen gut zu überblicken.

Bill hockte im Großmars und schwenkte immer wieder mit dem Spektiv die Insel ab, in der vergeblichen Hoffnung, etwas zu entdekken.

Der Schimpanse Arwenack war in die höchsten Toppen geklettert, um nach seinem Liebling Dan O’Flynn Ausschau zu halten. Von dort aus beschimpfte er keckernd den Papagei Sir John, der sich lautstark revanchierte, da er wegen Carberrys Abwesenheit ebenfalls beleidigt war.

„Mistvieh!“ kreischte der karmesinrote Ara. „Affenarsch! Affenarsch …“

Normalerweise hätte das Geschrei sicher Heiterkeit erregt, da es sich so anhörte, als wisse der Papagei ganz genau, daß es sich bei seinem bevorzugten Kontrahenten um einen Vertreter der Affenart handelte.

Im Augenblick allerdings war niemandem aus der Crew nach Heiterkeit zumute. Sie ahnten alle, daß irgend etwas geschehen war. Die Undurchsichtigkeit der Situation, die eigene Hilflosigkeit, die geisterhafte Stille auf der Insel – das alles trug nicht gerade dazu bei, die Stimmung an Bord zu heben.

„Deck!“ schrie der Schiffsjunge Bill in seinem luftigen Ausguck. „Da ist jemand! Luke, glaube ich!“

Auf dem Achterkastell hob Ben Brighton das Spektiv an die Augen.

Er biß sich auf die Lippen, als er die schlanke Gestalt bemerkte, die zwischen den Ausläufern der Felsen auftauchte. Es war tatsächlich Luke Morgan. Allein! Er lief auf die Boote zu, und dann brauchte er Minuten, um eins davon ins Wasser zu wuchten und sich auf die Ducht zu schwingen.

„Luke allein?“ fragte Bil Old Shane heiser. „Verdammt, was bedeutet das?“

„Wir werden es gleich wissen.“ Ben setzte das Spektiv ab und sah dem Beiboot aus zusammengekniffenen Augen entgegen. Es war zwar nur eine Nußschale im Vergleich zu einem Schiff, eine Nußschale auch, wenn es galt, den tobenden Elementen zu trotzen, aber diese Nußschale bot immerhin einem Dutzend Männern Platz. Ein einzelner hatte beträchtliche Schwierigkeiten, sie durch die Brandung zu bringen. Und der kleine, pfiffige Luke Morgan gehörte zwar zu den wildesten, zähesten Männern der Crew, aber nicht zu den muskelbepackten Kraftmenschen, wie es Batuti, Ed Carberry, Big Old Shane oder der rothaarige Ferris Tucker waren.

Es dauerte eine Weile, bis das Boot längsseits ging.

Luke Morgan enterte an der Jakobsleiter hoch. Daß er so weiß war wie die Gischtkämme der Brandung, ließ sich nicht übersehen. Hastig schwang er sich über das Schanzkleid, schob den Kutscher und Old O’Flynn beiseite und steuerte auf Ben Brighton und Big Old Shane zu.

Seine Stimme klang rauh wie ein Reibeisen: „Sie haben Hasard! Und die anderen auch! Sie verlangen …“

„Wer hat Hasard?“ unterbrach ihn Big Old Shane rauh. „Wovon sprichst du, verdammt und zugenagelt?“

„Von den Kerlen auf der Insel! Piraten, schätze ich! Sie haben Hasard und die anderen gefangengenommen! Sie verlangen, daß wir ihnen die ‚Isabella‘ übergeben – sonst wollen sie alle Viertelstunde einen unserer Leute umbringen. Den Verrückten haben sie schon aufgehängt. Sie sind mindestens ein Dutzend. Und Dan und Batuti haben sie auch …“

Luke Morgan schwieg erschöpft. Die anderen starrten ihn an wie eine Geistererscheinung. Ben Brighton knirschte mit den Zähnen und versuchte, sich zusammenzureißen.

„Nun mal langsam!“ stieß er hervor. Fang von vorn an, Luke! Die verdammte Insel ist bewohnt?“

„Weiß ich nicht. Die Kerle sprechen jedenfalls Englisch. Piraten, nehme ich an …“

Auch Luke Morgan überwand seine Aufregung und begann, der Reihe nach zu berichten. An den Tatsachen änderte das allerdings wenig. Die Herren der Insel hatten es geschafft, außer Dan und Batuti noch elf weitere Seewölfe gefangenzunehmen. Sie hatten es auf eine verdammt hinterhältige Art und Weise geschafft, aber es war nicht zu bezweifeln, daß sie in diesem schmutzigen Spiel alle Trümpfe in der Hand hielten.

 

„Sie wollen das Schiff“, wiederholte Luke Morgan mit einem tiefen Atemzug. „Sie geben uns eine halbe Stunde Zeit. Und danach wollen sie alle fünfzehn Minuten einen ihrer Gefangenen umbringen.“ Für einen Moment blieb es still.

Ben Brighton sog scharf die Luft durch die Zähne. Old Donegal Daniel O’Flynn, der mit seinem Holzbein quer über die Kuhl gehinkt war, stieß einen Laut aus, der entfernt an das Schnaufen eines gereizten Bullen erinnerte.

„Verflucht!“ fauchte er. „Das darf doch nicht wahr sein, das!“

„Es ist aber wahr! Wir haben keine Wahl! Überhaupt keine!“

Wieder senkte sich Stille herab.

Ben Brighton starrte zum Strand hinüber. Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt, in dem sonst so ruhigen, beherrschten Gesicht arbeitete es.

„Wir haben keine Wahl“, wiederholte er Luke Morgans Worte. „Wir müssen die ‚Isabella‘ ausliefern. Und dann?“

„Die Kerle werden uns auf der Insel zurücklassen“, grollte Big Old Shane. „Und nach einer Weile wird hoffentlich der Schwarze Segler aufkreuzen und uns entdecken.“

Ben zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Aber dann werden die Piraten längst weg sein, und wir wissen nicht, wo sie hinwollen. Wir müßten eine Stecknadel im Heuhaufen suchen.“ Er schwieg einen Augenblick und wandte sich Big Old Shane und dem alten O’Flynn zu. „Es muß eine andere Möglichkeit geben. Etwas, womit unsere Gegner nicht rechnen.“

„Aber was? Sie haben alle Trümpfe in der Hand.“

„Wir müssen sie angreifen, wenn sie sich schon in Sicherheit glauben.“ Ben lächelte plötzlich, als er sich dem blonden Stenmark zuwandte. „Sten, kannst du dich noch an die ‚Santa Barbara‘ erinnern?“

„‚Santa Barbara‘? Da war doch neulich …“

„Die nicht! Es ist länger her. Al, du müßtest es auch noch wissen.“

Al Conroy, der Stückmeister, runzelte die Stirn – und dann blitzte plötzlich das Verstehen in seinen Augen auf. „Die ‚Santa Barbara‘ – natürlich! Die Prise, die Hasard damals im Auftrag Kapitän Drakes nach Plymouth segelte. Ferris Tukker hing uns in den Ohren, daß das Vorschiff abgeschottet sei. Wir konnten uns nicht darum kümmern, weil wir in einen knüppeldicken Sturm gerieten. Und als wir alle fix und fertig waren, stürmte aus dem abgeschotteten Vorschiff plötzlich ein Haufen Spanier, die sich dort versteckt hatten. Wir waren viel zu überrascht, um uns noch viel zu wehren. Später konnten wir den Spieß umdrehen, aber zunächst mal haben uns die Kerle glatt überrumpelt.“

„Genau.“ Ben Brighton nickte. „Das meine ich.“

Und Stenmark: „Mann, das ist die Idee! Wir verstecken uns, warten in aller Ruhe, bis die Piraten ankerauf gegangen sind, und dann fegen wir von Bord, daß es nur so raucht! Das wird ein Fest!“

„Langsam“, brummte Big Old Shane. „Zunächst mal können wir uns nicht alle verstecken, weil die Kerle ungewähr wissen, wieviel Mann noch an Bord sein müssen. Zwei, drei Mann können hierbleiben, mehr nicht. Zwei oder drei Mann gegen ein Dutzend!“

„Drei Seewölfe gegen einen Haufen lausiger Piraten“, sagte Stenmark abfällig.

„Unterschätze sie nicht, Sten.“ Ben Brighton schüttelte den Kopf. „Nein, wir machen es anders. Drei von uns verstecken sich in der Vorpiek, warten die Nacht ab und versuchen, sich diesen Jean Morro als Geisel zu schnappen. Ihn und vielleicht noch ein paar andere. Ob es funktioniert, werden wir dann schon sehen. Wenn es den Kerlen völlig gleich ist, was mit ihrem Kapitän passiert, haben wir Pech gehabt. Wir müssen es jedenfalls versuchen.“

„Ich bin dabei“, sagte Stenmark sofort.

„Ich auch!“ Luke Morgans Augen funkelten.

„Du nicht, Luke. Die Kerle haben dich hierhergeschickt und würden sich wundern, wenn du plötzlich verschwändest. Stenmark, Big Old Shane und ich bleiben hier.“

„Warum nur drei?“ fragte Al Conroy. „Ich könnte mit der Bugdrehbasse das ganze Vorschiff leerräumen, während ihr euch den Ober-Halunken schnappt.“

„Willst du die ‚Isabella‘ in Fetzen schießen?“ Ben lächelte leicht. „Nein, drei sind genug. Die Piraten wissen schließlich, wie viele Männer nötig sind, um eine große Galeone zu segeln.“

„Wenn du meinst.“

Al Conroy zuckte mit den Schultern. Man sah ihm an, daß er gern dabeigewesen wäre, genau wie die anderen, aber er sah ein, daß Ben Brighton recht hatte. Mit einem tiefen Atemzug blickte er wieder zu der Insel hinüber – und im nächsten Moment fuhr er leicht zusammen.

„He!“ stieß er hervor. „Was ist denn da los?“

„Die Piraten!“ knurrte Luke. „Verdammtes Gesindel! Sie haben unsere Leute bei sich. Hasard, Ferris, Ed …“

Ben Brighton brauchte das Spektiv nicht, um zu sehen, was drüben am Strand geschah.

Gestalten tauchten zwischen den Palmenstämmen auf. Piraten, die ihre Gefangenen mitschleppten. Philip Hasard Killigrews schwarzes Haar flatterte im Wind, Ferris Tukkers roter Schopf leuchtete. Ed Carberry, der Profos, wurde von zwei Kerlen zu einer der Palmen gestoßen, und selbst aus der Entfernung war der wilde Grimm auf seinen Zügen zu sehen, als die Burschen darangingen, ihn an den schlanken Stamm zu fesseln.

Hasard war als nächster an der Reihe. Dann Ferris Tucker, Blacky, Smoky, Matt Davies, Gary Andrews und all die anderen. Big Old Shane ballte erbittert die Hände, aber genau wie Ben Brighton und Stenmark war er geistesgegenwärtig genug, sich rasch in den Schatten des Achterkastells zurückzuziehen.

Die Piraten durften sie nicht mehr sehen.

Sie mußten glauben, daß sich nur noch diejenigen an Bord aufhielten, die sich jetzt am Schanzkleid drängten: Al Conroy, der Kutscher, Will Thorne, Bill und der alte O’Flynn mit seinem Holzbein. Und natürlich Arwenack und Sir John, die die jähe Spannung zu spüren schienen, für den Augenblick das Kriegsbeil begraben hatten und sich bemerkenswert still verhielten.

Ben Brighton atmete tief durch.

Er, der Bootsmann und erste Offizier, hatte während Hasards Abwesenheit das Kommando an Bord. Der nächste Befehl kam ihm nur schwer über die Lippen, aber er wußte, daß er keine Wahl hatte.

„Streicht die Flagge“, sagte er. „Wir übergeben das Schiff. Aber wartet einen Moment, bis ihr ins Boot geht, damit Shane, Sten und ich Zeit haben, uns in der Vorpiek einzunisten.“