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Birgit starrte zu der grausamen Szene hinauf und konnte ermessen, wie Jesus sich gefühlt haben musste, nachdem er ans Kreuz geschlagen worden war.

Gott hatte sie verlassen.

Sie wusste, dass solche Gedanken blasphemisch waren, aber spielte das noch eine Rolle? Das Wesen dort oben war nicht klassifizierbar, es glich nichts, was auf Gottes grüner Erde wandelte, und es war erfüllt von unstillbarem Hass. Sie sah sich einem Dämon gegenüber, daher würden weitere Sünden ihre Lage wohl kaum verschlechtern.

Der arme Mann schrie inzwischen nicht mehr. Aber seine Arme zuckten und seine Beine strampelten, während der Dämon sich immer tiefer in seinen Kopf hineinfraß. Obwohl sie nicht glaubte, dass es unter den gegebenen Umständen helfen würde, betete Birgit darum, dass er nicht mehr bei klarem Verstand war.

Es war ihr nicht möglich, den Blick von den erschütternden Vorgängen abzuwenden. Sie brannten sich dermaßen in Birgits Verstand, dass sie auf der Stelle versteinerte, als hätte sie ins Antlitz der Medusa geschaut. Sie wusste, dass sie gemeinsam mit Kati fliehen sollte, aber sie konnte nicht. Gleich würde der Dämon sich ihr zuwenden. Er würde sie fixieren, um sich dann abzustoßen und ihr Gesicht zu zerfetzen, bis es zu solch einer unförmigen Fleischmasse geworden war wie das des Wachmanns. Anschließend würde er sich Kati schnappen. Und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.

»Mami, Angst!«

Etwas warf sich gegen ihren Oberkörper und umschlang mit blutigen Armen ihren Kopf, aber es war nicht das Monster. Birgit roch Blumen, spürte Wärme, hörte ein Herz in schnellem Rhythmus schlagen.

Kati. Ihre Tochter. Sie hatte geschafft, was ihr nicht gelungen war, und als könnte sie ihre Kraft auf andere Personen ausdehnen, zerschnitt sie durch ihre bloße Anwesenheit die Fesseln der Angst.

Noch einmal regten sich die Mutterinstinkte in Birgit, griffen auf Kraftreserven zu, von denen sie bislang nichts gewusst hatte. Sie drängten das Dröhnen zurück, das seit dem Schlag zwischen Birgits Ohren hallte und erhöhten die Grundspannung sämtlicher Muskeln.

Birgit nahm Katis Kopf zwischen die Hände und sah ihr tief in die grünen, goldgesprenkelten Augen. »Mami beschützt dich. Aber du musst hier sitzenbleiben, okay? Kannst du das für mich tun?«

»Sitzen.« Kati nickte.

Birgit küsste sie auf die Stirn und war erfüllt von unbändigem Stolz. Obwohl die Verletzung sehr schmerzhaft sein musste, gelang es Kati, ruhig zu bleiben. Sie war so tapfer.

Birgit stand auf, wurde von Schwindel erfasst, streckte die Hand aus und stützte sich an der Wand des Treppenhauses ab.

Einige Stufen weiter oben lag der inzwischen reglose Körper des Wachmanns, an die Treppe geschmiegt und dermaßen zerfleischt, dass er auf grauenhafte Weise an rote Auslegeware erinnerte. Das Monster hatte von den Überresten des Kopfs abgelassen und sich dem Brustkorb zugewandt. Mit schnellen Bewegungen zerrte es unter Knacken und Knirschen Dinge hervor, die Birgit nicht sehen wollte. Sein blaues Leuchten versetzte zuckende Schatten in Bewegung, projizierte das Gemetzel an die Wände, umzingelte sie von allen Seiten mit unmenschlicher Grausamkeit.

Trotzdem gelang es Birgit, die ersten Stufen zu erklimmen. Sie zwang sich, den Blick auf ein bestimmtes Detail zu heften, auf die eine Sache, mit der sie die Lage vielleicht zu ihren Gunsten beeinflussen konnte: der rechte Arm des Wachmanns. Er deutete in Birgits Richtung, als würde er nach Hilfe suchen. Die Hand befand sich nur ein kleines Stück oberhalb von ihr. Und sie hielt noch immer den Griff der Pistole umschlungen.

Birgit leckte sich die Lippen. Sie musste auf Armeslänge an den Dämon heran. Ihr war keineswegs entgangen, wie flink das Monster war. Falls es sie bemerkte, ehe sie die Waffe an sich genommen hatte …

Aber wenn sie es erst gar nicht versuchte, würde eine schreckliche Möglichkeit unweigerlich zur Gewissheit werden. Irgendwann musste der Blutrausch nachlassen. Der Dämon würde sich an die anderen Opfer erinnern, die unterhalb von ihm in der Falle saßen.

Besser, ich sterbe bei dem Versuch, ihn aufzuhalten. In dem Fall habe ich mir wenigstens nichts vorzuwerfen.

Ein zögerlicher Schritt, dann noch einer. Sie streckte sich, stützte sich mit der freien Hand auf der Treppe ab … und erreichte die Pistole trotzdem nicht. Noch zwei Stufen fehlten, mindestens.

Über ihr verwandelte sich das Knacken in schmatzende Geräusche. Mit lautem Klatschen schlug etwas neben ihr auf die Stufen. Birgit musste sich auf die Faust beißen, um einen Aufschrei zu unterdrücken.

Ein schneller Blick zurück. Kati saß gegen die Wand gekauert, hatte die Knie eng an den Körper gezogen, kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu. Gutes Mädchen.

Zwei weitere Schritte, gefolgt von einem dritten, zur Sicherheit. Sie war jetzt so nahe, dass sie trotz des Gestanks des Gebäudes und ungeachtet des sauren Dampfs, der von der Leiche aufstieg, den Geruch des Monsters wahrnahm. Wieder sprangen Alarmglocken in ihrem Stammhirn an, meldeten einen Feind, der nicht geduldet werden durfte. Was immer dieses Biest war, es würde sie erst dann in Frieden lassen, wenn einer von ihnen nicht mehr am Leben war.

Birgit presste die Lippen so fest zusammen, dass es schmerzte, und streckte sich noch einmal nach der Pistole.

Sie bekam den Lauf zu fassen. Als sie vorsichtig daran zog, rührte die Waffe sich jedoch nicht. Die Finger des Toten gaben seinen Besitz nicht frei. Als könnten sie sich am Leben festkrallen, wenn sie nur fest genug zupackten. Das durfte nicht wahr sein! Der restliche Körper lag schlaff da, nur die rechte Hand hatte sich verkrampft. Wie war so etwas möglich?

Herr, ich brauche deine Unterstützung, dachte Birgit verzweifelt. Was immer du im Austausch von mir fordern wirst, ich werde es dir geben. Nur bitte hilf mir jetzt, meine Tochter zu retten!

Sie zog erneut an der Pistole, kräftiger diesmal. Durch den Ruck bekam sie die Waffe teilweise frei, allerdings geriet dadurch auch der tote Wachmann ins Rutschen. Birgit sprang zurück und versuchte verzweifelt, die beiden Finger aufzubiegen, die den Griff noch immer umschlossen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie das Wesen herumfuhr. Es kreischte, und weil es kaum einen Meter entfernt war, fuhr ihr der Ton ohrenbetäubend laut in den Schädel.

Immer energischer bog sie, zog, rüttelte. Über ihr duckte sich das Biest, um sie anzufallen.

Birgit schrie auf. Sie schaffte es nicht.

Ein Hagel aus feuchten Klumpen und spitzen Trümmern peitschte ihr Gesicht. Das Biest hatte sie erwischt! Kreischend machte sie einen Satz nach hinten, schlug zwei Herzschläge später auf dem kalten Beton des Treppenabsatzes auf, rang nach Luft. In blinder Panik schlug sie um sich, versuchte, den Dämon irgendwie abzuschütteln.

Bis ihr klar wurde, dass er nicht da war.

Ungläubig blinzelnd, spähte sie die Treppe hinauf. Das Licht war deutlich schwächer geworden, nur das Blut des Monsters leuchtete noch immer. Es bedeckte genug von der Umgebung, um Birgit erkennen zu lassen, dass der Dämon nicht mehr am Leben war. Er hing über der Leiche des Wachmanns, zwei Tote in einer letzten, grausigen Umarmung.

Jemand hat ihn getötet.

Gott hatte ihr ein Wunder geschickt.

Birgit rieb sich übers Gesicht, verschmierte die leuchtenden Rückstände, die daran klebten. Auf dem Hosenboden schob sie sich zu ihrer Tochter hinüber. Kaum hatte sie Kati erreicht, schlang sie die Arme um sie und begann, hemmungslos zu schluchzen.


»Pass auf die weißen Dinger da auf, Harry. Brennen wie Sau, wenn man sie anfasst.«

Der alte Knacker schenkte Tom einen finsteren Blick. »Mein Name ist Harald«, grummelte er.

»Harry klingt lockerer«, entschied Tom.

Der Alte schnaubte, sagte aber nichts. Und das war Tom ganz recht so. Harry hatte schon so einiges erzählt, seit sie zusammen unterwegs waren, und nichts davon hatte ihm gefallen.

»Ich glaube nicht, dass du halluzinierst, weil du Drogen genommen hast«, hatte er gesagt. »Ich sehe dieselben Dinge, und ich glaube kaum, dass ich solche Substanzen konsumieren würde. Zuerst habe ich törichterweise angenommen, dies wäre so etwas wie die Hölle oder zumindest ein Ort jenseits des Lebens, aber deine Anwesenheit zeigt mir, dass es eine weniger fantastische Erklärung geben muss. Du hast ebenfalls das Gedächtnis verloren, sagst du?«

»Ja«, hatte Tom nickend erwidert, »aber ich glaub, es kommt langsam zurück. Mir ist vorhin wieder eingefallen, wer meine Mom ist und was ich so mache.«

Dass Mom im Cougars strippte und seine Hauptbeschäftigung aus Schulschwänzen bestand, hatte er aber für sich behalten.

»Dieses Gefühl habe ich ebenfalls«, hatte Harry gekrächzt und auf einen mit Schleim bedeckten Metallklumpen gezeigt. »Ich erkenne dieses Gerät. Es handelt sich um eine Zentrifuge, oder zumindest um ihre Überreste. Und das dort hinten war einmal ein Abzug. Darin konnte man Dinge aufbewahren, die giftige Dämpfe abgesondert haben – sie wurden durch diese Leitungen dort abgesaugt, siehst du? So etwas gehört in ein Labor, und ich vermute, dass ich früher mit solchen Geräten gearbeitet habe.«

Tom hatte keinen Plan gehabt, was ein Zentri… Dings war, aber er hatte es sich nicht anmerken lassen. Harry quasselte ihn auch so permanent mit langweiligem Scheiß voll.

 

Der Alte war klapprig und schwach, seine Arme und Beine bestanden praktisch nur aus Knochen und Leder. Und weil er barfuß unterwegs war, musste er höllisch aufpassen, wo er hintrat. Das alles bedeutete, dass sie verschissen langsam waren. Und die ganze Zeit über sabbelte Harry vor sich hin. Wenn einen Opa zu haben bedeutete, so einen Rotz öfter ertragen zu müssen, war Tom froh, dass er keinen Opa hatte. Den einen hatte er nie gesehen, er war wohl genauso ein Arschloch wie Dad, und der andere hatte ins Gras gebissen, als Tom noch eine Teppichratte gewesen war.

Kann ich mich zur Abwechslung vielleicht mal an was Cooles erinnern?, dachte er.

Langsam – so verdammt langsam! – tasteten sie sich tiefer in das Gebäude vor. Harry bestand darauf, Räume mit Fenstern zu meiden, falls das möglich war, weshalb es um sie herum meist ziemlich düster zuging. Strom gab es nicht, und selbst wenn es welchen gegeben hätte, wären da keine intakten Lampen gewesen.

Der Alte war überhaupt verdammt vorsichtig. Er schielte um jede Ecke, blieb immer wieder stehen und legte den Zeigefinger an den Mund, um zu lauschen. Er war ein echter Schisser. Und so jemand nannte ihn eine Memme!

»Mann, was suchen wir eigentlich?«, maulte Tom schließlich. Das sinnlose Rumgewackel ging ihm auf die Eier, und außerdem war sein Hunger inzwischen echt übel geworden.

Harry blieb stehen. Er sah sich nach allen Seiten um, ehe er antwortete: »Anhaltspunkte. Ich möchte herausfinden, wo wir sind.«

»Dann geh raus und kuck’s dir an. Da gibt’s doch bestimmt irgendwo ein Schild oder …«

Harry blieb stehen und funkelte ihn an. »Ich habe dir doch gesagt, was da draußen ist! Ich setze keinen Fuß vor diese Mauern, es sei denn, mir bleibt keine andere Wahl.«

»Mann, was soll das denn für ein Vieh gewesen sein? Godzilla oder wie?«

Harry schwieg einige Sekunden lang. »Nach allem, was ich gesehen habe, wäre das durchaus möglich«, flüsterte er schließlich, und aus irgendeinem Grund lief Tom bei den Worten ein Schauer über den Rücken.

»Und du sagst, daran wären keine Pilze schuld? Alter, das kannst du doch nicht wirklich glauben!«

»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Aber ich weiß, was ich tun werde: Ich werde mich wie ein Wissenschaftler verhalten. Ist dir klar, wie ein Wissenschaftler vorgeht, wenn er etwas nicht versteht? Wenn er den Dingen auf den Grund gehen möchte?«

Er macht irgendwelches langweiliges Zeugs?, dachte Tom, sagte aber nichts und schüttelte stattdessen den Kopf.

Harry verzog den Mund. War das etwa ein Lächeln? Hatte der alte Furz Spaß daran, ihm Vorträge zu halten?

»Er beobachtet. Er sammelt Informationen. Das ist es, was wir gerade tun. Wir erforschen diesen ehemaligen Laborkomplex. Dadurch erhalten wir hoffentlich genügend Informationen, um zum nächsten Punkt der wissenschaftlichen Arbeitsweise überzugehen: Wir erstellen eine Hypothese.«

Tom wollte nicht fragen. Aber irgendwie wusste er, dass er sowieso keine Ruhe haben würde, bevor Harry alles losgeworden war. »Hypo… was?«

Harry hob einen Finger. Ein alter Mann in fleckiger Unterhose, der tat, als sei er der größte Schlaumeier der Welt, sah echt verschickt aus, fand Tom. Wenigstens hatte er sich inzwischen an Harrys Pissegestank gewöhnt.

»Hypothese. Das bedeutet, dass wir uns überlegen, was zu den Phänomenen geführt haben könnte, die wir beobachten. In unserem konkreten Fall sollten diese Überlegungen Fragen beinhalten wie: Warum ist alles dermaßen heruntergekommen? Weshalb gedeihen hier Gewächse, die wir niemals zuvor gesehen haben? Warum ist der Himmel lila und nicht blau? Aus welchem Grund sind an diesem lilafarbenen Himmel zwei Sonnen zu sehen? Und natürlich: Was war das für eine Kreatur, der ich vorhin begegnet bin?«

»Alter, so ein Hypoding hab ich dir doch schon lange gegeben«, stöhnte Tom.

Harry hob eine Augenbraue. »Ach ja? Und wie lautet sie?«

»Pilze.«

»Pfff, Pilze!« Der Alte winkte ab und wurde sauer. »Das ist keine ernstzunehmende Hypothese!«

»Ach ja?« Tom ließ fast seinen Hoodie fallen, als er die Hände in die Hüften stemmte. »Und warum nicht?«

Diesmal war er sicher, dass Harry lächelte. »Weil du sie nicht beweisen kannst. Das ist nämlich der nächste Schritt, wenn man wissenschaftlich arbeitet: Man versucht, die Hypothese durch Experimente zu untermauern. Gelingt das nicht, muss man die Hypothese ändern. Es gibt viel zu viele Menschen, die glauben, eine Erklärung für etwas gefunden zu haben. Sie posaunen diese sogenannte Erklärung als Wahrheit in die Welt hinaus, ohne sie je wirklich hinterfragt zu haben. Solange wir gemeinsam unterwegs sind, werde ich so etwas nicht dulden.«

Tom war langsam echt genervt. Er breitete die Arme aus und drehte sich um die eigene Achse. »Alter, hier sind tonnenweise Beweise.«

»Pah.« Harry sah ihn mit diesem herablassenden Blick an, den nur Lehrer draufhatten. »Mit dem gleichen Recht könnte ich behaupten, Gott wäre für alles verantwortlich. Oder, oder …« er bückte sich ächzend und hob etwas auf. »Dieser Knochen hier. Seit er hier herumliegt, ist alles anders, da bin ich mir sicher.«

»Mann, du erzählst gequirlte Kacke.«

»Soll ich dir sagen, was gegen deine sogenannte Hypothese spricht?«

»Lass raus.«

»Wenn wir uns im Drogenrausch befänden, sollten wir uns dann nicht verändert fühlen? Beschwingt oder euphorisch? Spürst du etwas dergleichen? Nein? Ich auch nicht. Und außerdem sollte die Konzentration der Droge, die durch unsere Adern zirkuliert, doch allmählich nachlassen, habe ich recht? Wenn das stimmt, sollten die Halluzinationen dann nicht weniger werden? Sieht es für dich so aus, als würde sich unsere Umgebung verändern? Ich sag dir was, Tom, und ich sage es so, dass du es verstehst: Deine Hypothese ist Mist.«

Tom sperrte mehrmals den Mund auf, schloss ihn aber immer wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Der alte Sack hatte ihn an den Eiern.

»Und was ist dann dein Hypothesaurus, hä?«

»Es ist noch zu früh dafür«, stellte Harry fest. Als ob das irgendwen gewundert hätte! »Die Informationen reichen nicht aus. Aber ich verfolge die eine oder andere Idee.«

Tom wurde hellhörig. »Echt? Also … also was sind das für Ideen?«

»Gedankenspiele, bestenfalls. Aber sie sind teilweise fast so verrückt wie deine Pilz-Theorie.«

»Jetzt erzähl schon!«

»Na schön.« Harry sah ihm in die Augen. »Aber vermutlich wird sich alles als falsch entpuppen, wirf mir diese Fantastereien später also nicht vor. Und mach dich auch nicht darüber lustig.«

»Jaja Mann, geht klar.«

Harry begann im Kreis zu gehen, wobei er permanent auf den Boden starrte. »Erste Idee: Wir befinden uns nicht mehr auf der Erde.«

»Alter, was? Und du sagst, mein Hypodings wäre scheiße?«

»Es ist wie gesagt nur eine Idee«, erinnerte ihn Harry. »Aber einige Beobachtungen sprechen dafür. Die zweite Sonne zum Beispiel. Sogar du müsstest doch wissen, dass unser Sonnensystem nur ein einziges Zentralgestirn beinhaltet. Wo soll die zweite Sonne also herkommen? Befänden wir uns allerdings in einem gänzlich anderen Sonnensystem, wäre ein zweiter, zentraler Stern durchaus im Bereich des Möglichen. Die zweite Beobachtung, die für diese Idee spricht, sind die Kreaturen. Dieses riesige Wesen, das mich angegriffen hat … du hast es nicht gesehen, aber hättest du, dann wäre dir klar, dass es nicht von der Erde stammen kann. Zumindest nicht von der Erde, wie wir sie kennen. Und wirf einmal einen Blick auf die Skelette dort drüben. Sie sind recht klein, deswegen musst du schon genau hinsehen. Fällt dir die dritte Augenöffnung in den Schädeln auf?«

Das Kribbeln am Rücken war wieder da. »Du meinst, das sind … waren … Aliens?«

»Ich meine gar nichts. Im Moment sehe ich aber nichts, was gegen die Idee spräche.«

»Und wie kommen wir her? Haben die uns mit ihren UFOs entführt oder wie?«

Harry zuckte die Achseln. »Ich habe keine Ahnung. Allerdings war es vermutlich etwas komplizierter – falls es sich so zugetragen hat. Du vergisst dabei nämlich das Gebäude.« Er deutete auf die Wände des Raums, in dem sie sich befanden. »Obwohl es von fremdartigen Gewächsen befallen ist, bleibt es doch ein menschliches Bauwerk. Diese ganzen Gerätschaften, so vermodert, rostig und zerfallen sie auch sein mögen … ich erkenne sie. Ich weiß inzwischen sogar, wie man mit dem Großteil von ihnen umgeht. Sie stammen von der Erde. Falls wir uns also auf einem fremden Planeten befinden, wurde dieser Komplex gemeinsam mit uns umgesiedelt.«

Er blieb stehen und schöpfte Atem. Das viele Sabbeln schien ihn ziemlich anzustrengen. »Das spricht gegen diese Idee, finde ich. Und ich kann nicht sagen, dass ich bedaure, sie womöglich widerlegen zu können. Aber es bringt mich zu Idee Nummer zwei.«

Tom trat ungeduldig mit dem Fuß auf. Der Scheiß war so spannend, dass er ganz vergaß, auf seine Sneaker zu achten. »Und die wäre? Jetzt sag schon!«

Harry sah sich wieder um, diesmal mit deutlich erkennbarem Misstrauen. »Wir befinden uns noch auf der Erde, sind aber Bestandteil eines grausigen Experiments. Man hat uns betäubt, unsere Erinnerungen manipuliert, die Umgebung so gestaltet, wie sie sich darstellt, und beobachtet unsere Reaktionen darauf. Möglicherweise sind weitere Experimente geplant, denen wir uns im Verlauf der Versuchsreihe stellen müssen.«

Das Kribbeln wurde stärker. Tom schluckte. »Aber der Himmel. Und … und die Sonnen. Und dieses Vieh. Und …«

»Bluescreen, Hologramme, raffinierte Ingenieurskunst, Special Effects … ich bin vielleicht alt, aber ich lebe nicht hinterm Mond.«

»Fuck.«

War es möglich? Hatte irgendein durchgeknallter Perversling seinen Spaß mit ihnen?

»In gewisser Weise«, sagte Harry in nachdenklichem Ton, »ist mir diese Idee lieber als die erste. In gewisser Weise aber auch nicht. Verstehst du?«

Tom nickte mit großen Augen. Er verstand ganz genau. »Hast du sonst noch ne Idee?«

»Bist du sicher, dass du noch eine hören möchtest?«

Tom wurde klar, dass das eine verdammt gute Frage war. Er hatte das Gefühl, dass dieses Kribbeln in seinem Nacken mit jeder weiteren Theorie nur schlimmer werden würde. Obwohl er es sich nur ungern eingestand, hatte er eindeutig Schiss.

Jemand mit Eiern macht weiter, obwohl er Schiss hat, erinnerte er sich selbst, setzte eine grimmige Miene auf und nickte.

»Idee Nummer drei besagt, dass wir uns auf der Erde befinden. Allerdings ist die Erde nicht mehr so, wie wir sie gewohnt sind.«

Tom schluckte. »Und warum?«

»Ich sehe hauptsächlich drei Möglichkeiten: Erstens könnten wir uns in einer anderen Dimension befinden. Die Welt, wie wir sie normalerweise wahrnehmen, stellt nur einen winzigen Teil des multidimensionalen Kosmos dar. Aus irgendeinem Grund könnte es uns in einen anderen Winkel des Raums verschlagen haben, der ähnliche Bedingungen wie jener aufweist, den wir kennen – allerdings nicht dieselben. In fremde Dimensionen, die uns erlauben, zu existieren, sonst aber vollkommen ungewohnt für uns sind.«

Harry schöpfte Atem, ehe er fortfuhr: »Möglichkeit Nummer zwei: Es gibt Wissenschaftler, die behaupten, jedes Mal, wenn man eine Entscheidung trifft, erschaffe dies mehrere Wirklichkeiten – eine für jede mögliche Option. Und das betrifft nicht nur uns Menschen, sondern jede Situation mit mehreren Ausgängen. In einem Universum hast du Pilze zu dir genommen, in einem anderen nicht. Und in einem dritten war es vielleicht eine Limo. Es ist durchaus vorstellbar, dass nach unzähligen solcher Weggabelungen eine Erde entsteht, die sich von der uns bekannten fundamental unterscheidet, obwohl sie sich subjektiv betrachtet an derselben Stelle befindet – nur eben gewissermaßen seitlich davon. Möglicherweise befinden wir uns an solch einem alternativen Ort. Kannst du mir folgen?«

Tom hatte irgendwo mittendrin den Faden verloren, aber die Gänsehaut, die sich auf seinem Körper ausbreitete, ließ sich davon nicht aufhalten. »So ungefähr.«

Harry nickte. »Mehr kann ich wohl nicht erwarten. Dir das Thema umfassend nahezubringen, würde Stunden, wenn nicht Tage dauern. Und was ich eben erzählt habe, waren in den meisten Fällen unzulässige Verallgemeinerungen und Zusammenfassungen. Nicht umsonst setzen sich nur die klügsten Köpfe mit solchen Fragen auseinander und studieren jahrzehntelang, ehe sie daran arbeiten können.«

»Und warum weißt du so was dann? Bist du einer von denen?«

Harry versteinerte. »Ich … also … schon möglich, Junge. Schon möglich. Vielleicht erinnere ich mich ja bald daran.«

 

»Mann, ich hoffe, dir fällt bald ein, dass deine Ideen alle Schwachsinn waren. Die sind nämlich echt spooky.«

Harrys Stimme war sehr leise, als er sagte: »Ich habe noch eine vierte Idee. Aber ich fürchte, sie ist die unheimlichste von allen.«

»Moment.« Tom hob eine Hand. »Für Idee drei gab es drei Möglichkeiten. Was ist die dritte?«

Harry sah ihn überrascht an. Dann lächelte er. Diesmal blieb das Grinsen länger. »Gut aufgepasst! Die hatte ich doch tatsächlich vergessen. Mir scheint, du bist trotz allem ein aufgeweckter Knabe.«

Tom prustete. »Das Mittelalter ruft an und will sein Gesabbel zurück.«

Harry ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Vollkommen ungerührt dozierte er: »Die dritte Möglichkeit lautet, dass wir uns nicht seitlich zu den uns bekannten Gesetzen der Physik bewegt haben, sondern orthogonal dazu. Das bedeutet senkrecht. Also … ach, egal. Ich spreche von einer Zeitreise, entweder in die Zukunft oder die Vergangenheit.«

Tom blinzelte. »Echt jetzt? Das klingt wirklich zu abgefahren, um zu stimmen.«

»Tatsächlich? Sieh dich um. Was wir hier vor uns haben, ist eine moderne Forschungseinrichtung. Meinen – zugegebenermaßen spärlichen – Erinnerungen nach zu schließen, sind diese Gerätschaften auf dem neuesten Stand der Technik. Und trotzdem befinden sie sich in Zerfallsstadien, die nahelegen, dass sie schon seit Jahrhunderten vor sich hin rotten. Siehst du diese Dinger dort drüben? Das sind LCD-Bildschirme. Oder besser gesagt, sie waren es. Weißt du, wie lange es dauert, bis Kunststoff sich zersetzt? Dazu müssten sie schon viel länger hier stehen, als es überhaupt Computer gibt.«

»Kein Scheiß?«

Harry schüttelte entschieden den Kopf. »Kein Scheiß. Das Gebäude ist alt, uralt, und daher erscheint es mir durchaus möglich, dass wir in eine andere Zeit versetzt wurden. Ob das Gebäude mit uns versetzt wurde, und ob wir in diesem Fall an unterschiedlichen Punkten der Zeitlinie abgesetzt wurden, kann ich nicht sagen. Daher ist es mir auch nicht möglich, die Richtung dieser unter Umständen absolvierten Reise festzustellen.«

Noch einmal holte er tief Luft.

»Es erscheint mir zwar sehr unwahrscheinlich, aber trotz allem möglich, dass es zu irgendeinem fernen Zeitpunkt der Erdgeschichte zwei Sonnen gab oder geben wird. Die Wissenschaft hat bislang keinerlei Anhaltspunkte für ein derartiges Phänomen gefunden, aber wir waren schon immer sehr eingebildet, wenn es darum ging, den Grad unserer Allwissenheit zu bemessen. Wer kann schon wirklich sagen, was in Milliarden von Jahren sein wird … oder vor Milliarden von Jahren geschehen ist? Wir verfügen lediglich über Theorien. Modelle, die auf Extrapolationen und Annahmen beruhen. Ein guter Wissenschaftler ist stets skeptisch und offen für neue Möglichkeiten. Ich halte so etwas also für durchaus denkbar. Wie gesagt sehr unwahrscheinlich, aber denkbar.«

Tom schwirrte der Kopf. Er glaubte nicht, dass noch viel in ihn hineinpasste, darum fragte er schlicht: »Und Idee Nummer vier?«

Harry sah auf einmal traurig aus. »Idee Nummer vier besagt, dass ich mir alles nur einbilde, sei es durch Fremdeinwirkung oder weil ich den Verstand verloren habe. Etwas beeinflusst meine Wahrnehmung und lässt mich glauben, dass dies hier real ist.« Er sah Tom in die Augen. »In diesem Fall wärst auch du nichts als ein Hirngespinst.«

»Alter«, flüsterte Tom, der sich jetzt wirklich unbehaglich fühlte, »dann könntest du auch an die Pilze glauben.«

Er erwartete, dass Harry ihm mal wieder erzählen würde, wie dämlich die Idee war. Stattdessen sah der Alte ihn an, als hätte er etwas total Schlaues gesagt.

»Touché.«

»Tu was?«

In diesem Moment räusperte sich hinter ihnen jemand. Tom schrie auf und wirbelte herum. Dem Keuchen nach zu urteilen, bekam auch Harry beinahe einen Herzinfarkt.

Toms Überraschung wuchs ins Unermessliche, als er die scharfe Schnecke sah, die in der Türöffnung stand.

»Verzeihen Sie bitte«, sagte sie. »Ich habe Stimmen gehört und bin ihnen hierher gefolgt. Sie können mir nicht zufällig sagen, was hier vor sich geht?«

Tom starrte sie noch immer an. Höchstens einen Meter sechzig groß, lange, dunkle Haare, Pferdeschwanz, Stupsnase. Nadelstreifen-Kostüm, superspießig zwar, aber eng, kurvenbetont. Dunkle Nylons, Pumps. Sie war alt, mindestens dreißig, und sie guckte verdammt streng. Aber von der Bettkante gestoßen hätte er sie nicht.

»Wer sind Sie?«, krähte Harry und hielt sich die Hände vors Gemächt.

»Mein Name ist Tabea Golding«, antwortete die Schnecke, »und ich glaube, mir gehört das alles hier.«

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