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Der Mann ohne Namen kauerte in den Schatten und beobachtete. Er hatte instinktiv damit begonnen, als er erwacht war, und er schien gut darin zu sein. Deshalb vermutete er, dass Beobachten ein Teil dessen war, was er tat. Seines Berufs. Vielleicht war er Privatdetektiv, möglicherweise auch Polizist.

Allerdings sprach gegen diese Annahme, dass er kein Interesse daran hatte, Kontakt zu anderen Menschen herzustellen. Oder ihnen gar zu helfen. Im Verborgenen herumzuschleichen, das Gelände zu erkunden und die anderen zu observieren, fühlte sich deutlich besser an. Womöglich, dachte der Mann ohne Namen, bin ich ja beim Militär. Bei der Aufklärung.

Inzwischen hatte er mehrere Menschen beobachten können, allerdings waren zwei davon nicht mehr am Leben. Bei den Toten handelte es sich um eine auffällig geschminkte Frau in knapper, aufreizender Kleidung – er vermutete, dass sie Prostituierte gewesen war – sowie einen Mann in Uniform, offensichtlich ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma.

Die Frau hatte nie die Gelegenheit erhalten, wirklich zu sich zu kommen. Als der Mann ohne Namen sie entdeckt hatte, war sie bereits tot gewesen. Sie hatte außerhalb des Gebäudes gelegen, halb im roten Gras verborgen. Nur dass es kein Gras gewesen war, sondern etwas weitaus Gefährlicheres. Den Spuren im bröckelnden Asphalt nach zu schließen, hatte sie sich in einem Zustand der Benommenheit befunden, war getorkelt, mehrfach gestürzt und schließlich mit dem Gesicht in den Gewächsen gelandet. Die roten Strukturen waren daraufhin in sämtliche Öffnungen gedrungen, die ihnen ein Kopf bot. Vom Gesicht war nichts mehr zu erkennen gewesen, einzig ein Fleck besonders üppigen Bewuchses deutete auf den grausigen Dünger hin, der darunter verborgen lag. Es musste schnell geschehen sein, denn als der Mann ohne Namen die Leiche gefunden hatte, war der Körper noch warm gewesen. Und während er die Tote mit einer Nüchternheit betrachtet hatte, die ihn noch immer erstaunte, waren die Gewächse an ihr entlanggewuchert. Zielgerichtet, präzise, gnadenlos. Er nahm an, dass die Tote inzwischen vollständig von dem roten Gras eingehüllt war.

Seit diesem Erlebnis wusste er, dass er sich in einer feindlichen Umgebung befand.

Sein ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, die Gegend zu durchstreifen. Das Gebäude schien keine Antworten zu bieten, weil nichts darin intakt war. Den Menschen hatte er sich nicht nähern wollen; allein der Gedanke an eine Kontaktaufnahme flößte ihm Unbehagen ein, und außerdem schienen sie nach allem, was er gesehen hatte, mindestens ebenso von ihrer Lage verwirrt zu sein wie er. Sie würden ihm also nicht dabei helfen können, die Situation zu verstehen. Folglich blieb nur die Erkundung des umliegenden Geländes.

Aber ein Marsch durch diese endlosen, roten Felder wäre Selbstmord gewesen. Deshalb hatte er den Plan geändert und war in das Gebäude zurückgekehrt, um nach Ressourcen Ausschau zu halten. Möglicherweise gab es doch ein paar Dinge, die nicht verrottet waren. Etwas, das als Nahrung dienen würde, oder das man als Werkzeug verwenden konnte.

Oder als Waffe.

Der Mann ohne Namen war im Besitz einer halbautomatischen Pistole mit Schalldämpfer, deren Magazin vollständig geladen war. Aber er hatte das dumpfe Gefühl, dass die Kugeln an diesem Ort bald verbraucht sein würden. Außerdem schadete es nie, wenn man vorbereitet war.

Wenige Minuten nach der Entdeckung der toten Prostituierten hatte er dabei zugesehen, wie der Wachmann starb. Es war simples Pech gewesen. Der Kerl war in das falsche Zimmer gegangen, der Boden hatte plötzlich unter ihm nachgegeben und ihn verschluckt. Zwar hatte er sich noch für einige Sekunden an den Überresten der Dielen festgekrallt, doch zu seinem Unglück waren diese von den weißen Kugeln bewachsen gewesen, die überall dort zu haften schienen, wo etwas verfaulte – also an den meisten Orten innerhalb des Komplexes. Der Mann ohne Namen hatte beobachtet, wie die Kugeln platzten und zähen Schleim auf die Finger spien, die sich verzweifelt in sie bohrten. Es hatte gezischt, Dampf war aufgestiegen, der Wachmann hatte zu brüllen begonnen … und eine Sekunde später war seine Stimme in der Tiefe verklungen. Der Mann ohne Namen hatte in das Loch hinabgespäht, aber dort war nichts zu sehen gewesen. Keinerlei Regung in der Finsternis, der Abgrund war ihm bodenlos erschienen.

Er bedauerte den Tod des Mannes. Nicht, weil ein Leben ausgelöscht worden oder ein potenzieller Mitstreiter im Kampf ums Überleben verloren gegangen war, sondern wegen der Waffe, die das Gebäude verschluckt hatte. Er wünschte, er wäre rechtzeitig zu dem Mann geeilt. Im Austausch für seine Rettung hätte er die Pistole einfordern können. Oder sie dem Wachmann einfach abnehmen, während der noch an der Kante baumelte – immerhin war der Kerl kaum in einer Position gewesen, in der er großartig Widerstand hätte leisten können.

Aber so war das mit verpassten Chancen. Manchmal bot sich nur einmal die Gelegenheit für einen sauberen Schuss, und wenn man dann zögerte, entkam die Beute.

Die Jagdanalogien machten den Mann ohne Namen nachdenklich. War er vielleicht Jäger? Oder Abenteurer? Jemand, der die Gesellschaft von Tieren und wilder, unberührter Natur der von Menschen vorzog? Es würde vieles erklären. Einstweilen sollte es ihm genügen, entschied er.

Er musste etwas über sich wissen. Um nicht den Verstand zu verlieren, benötigte er irgendeine Art von Identität. Wenn er schon keinen Namen bekam, so würde er sich eine Profession aussuchen. Eine Sache, die beschrieb, was er war. Der Mann ohne Namen kauerte sich noch tiefer in die Schatten und taufte sich selbst auf den Namen »der Jäger«.

Ab sofort würde er nicht nur beobachten, er würde verfolgen und sich heranpirschen. Darin war er gut, es befriedigte ihn. Er tat es ohnehin schon die ganze Zeit über, nur hatte er es sich bis eben nicht eingestanden.

Als die Frau zum wiederholten Mal den Namen ihres Kindes schrie, klang es so weit entfernt, dass er sich hervorwagen konnte. Er hob gerade das Bein, um aus den Überresten eines Aktenschranks zu steigen, als Schritte herangetrampelt kamen.

»Wo sind Sie? Ich helfe Ihnen!«

Ein Mann rannte vorbei. Er verursachte so viel Lärm, dass jede Kreatur im Umkreis von mindestens einem Kilometer auf ihn aufmerksam werden musste. Er zertrampelte Knochen und Überreste von Mobiliar, trat Hindernisse aus dem Weg. Als er eine blockierte Tür erreichte, rammte er sie mit der Schulter. Holz zerbröselte, Splitter prasselten auf den mit Unrat übersäten Boden. Es war der Typ Superheld: athletisch, gutaussehend, Luft im Schädel. Dieser Mann hatte eine Frau in Not bemerkt und eilte ihr ohne nachzudenken zu Hilfe.

Wie der Jäger anhand der Uniform des Mannes sofort erkannte, hatte er hier einen weiteren Sicherheitsmann vor sich. Noch eine Pistole, die – dem primitiven Gebaren ihres Besitzers nach zu schließen – wohl bald herrenlos sein würde.

Während der Kerl sich trampelnd in Richtung der Schreie entfernte und dabei brüllte: »Ich bin gleich da, halten Sie durch!«, schlich der Jäger aus seiner Deckung und folgte ihm.


»Alter, du stinkst nach Pisse!«

Haralds Hand, die gerade dabei gewesen war, sich etwas zu entspannen, formte sich erneut zur Klaue. Sie stach ihm in die Brust, als wolle sie das stotternde Herz daran hindern, endgültig den Dienst einzustellen. Reflexartig trat er mit den Beinen aus, schob sich über den schmutzigen Untergrund, an der Wand entlang. Fort von der Stimme.

»Mann, komm klar! Ich tu dir nichts.«

Da stand jemand in der Türöffnung. Jemand oder etwas. Der Umriss war unförmig und hätte von so gut wie allem stammen können.

»Weg … geh weg!«, krächzte Harald und hob abwehrend eine Hand.

»Erst wenn du mir gesagt hast, was hier grad abging«, entgegnete die Gestalt und kam näher. Harald schrie auf.

An diesem Ort musste alles, dem er begegnete, schrecklich sein. Er malte sich die abartigsten Folterszenen aus; mittelalterliche Holzschnitte voll grausamer Darstellungen erschienen vor seinem geistigen Auge. Noch vor fünf Minuten hätte er jeden Gedanken an Dämonen oder die Hölle als lächerlich abgetan, aber dieses … dieses Ding … die riesige Zange, das Brüllen …

Ein weiterer Schrei entfuhr ihm. Er klang hoch und schrill. Es war der Laut eines hilflosen Wesens, das in der Falle saß.

»Mann, das ist echt übel.« Die Gestalt wedelte mit einer Hand in der Luft herum. »Als ob’s hier nicht schon genug stinken würde. Immerhin ist das Fenster im Arsch. Vielleicht bringt‘s ein bisschen frische Luft ja.«

Harald blinzelte, versuchte vergeblich, den Sprecher deutlicher zu erkennen. »Was willst du von mir?«

»Opa, ich will gar nix. Hab den Krach gehört und wollte nachschauen. Und jetzt finde ich hier ’ne abgefuckte Freakshow. Was bist du denn für ein Clown?«

Harald gab den Versuch auf, die Ereignisse verstehen zu wollen. »Wer oder was bist du?«

»Alter, was …« Die Gestalt zögerte und beugte sich vor. Harald wäre gerne noch weiter vor ihr zurückgewichen, aber die feuchte Wand ließ ihn nicht. »Du kneifst die Augen so zusammen … siehst du nix oder wie? Wart mal …«

Das Wesen wandte sich ab. Schritte erklangen, knirschend und schlurfend. Harald versuchte, auf die Beine zu kommen. Aber noch ehe er eines seiner arthritischen Kniegelenke durchdrücken konnte, war die Gestalt wieder da.

 

»Hier. Bin vorhin draufgelatscht, sorry. Aber vielleicht taugt’s ja trotzdem noch was.«

Etwas wurde ihm hingehalten. Harald starrte mit kurzsichtigen Augen darauf.

»Jetzt nimm schon, du Freak!«

Zögernd streckte Harald die Hand aus. Es musste ein Trick sein. Gleich würden die Pranken des Anderen nach ihm fassen, sein Handgelenk umschließen und nie wieder loslassen …

Er ertastete einen vertrauten Umriss. Kühles Metall, das zwei elliptische Formen umrahmte. Ein Paar dünne Streben, eine davon war verbogen.

»Meine … meine Brille?« Harald schluckte, obwohl sein Mund völlig ausgedörrt war.

»Was denn sonst? Mann, ich wusste, dass ich nicht hätte nachsehen sollen. Jetzt hab ich ein verdammtes Riesenbaby an der Backe.«

Haralds Finger mochten steif vom Alter sein, aber diese Bewegungsabläufe hatten sie tausendfach absolviert. Innerhalb von zwei Sekunden trug er die Brille im Gesicht. Eines ihrer Gläser fehlte, das andere war zerkratzt. Da einer der Bügel ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen worden war, saß sie schief. Trotzdem entfuhr Harald ein glückliches Schluchzen. Er konnte wieder anständig sehen!

»D… danke!«, stammelte er. »Vielen Dank, wer immer du b…«

Der Rest des Satzes blieb ihm in der Kehle stecken, als er seinen barmherzigen Samariter musterte.

Ich hätte es wissen müssen, dachte er. Bei der Sprechweise gab es praktisch keine andere Möglichkeit.

Es war ein Mensch. Natürlich war es ein Mensch. Ein verflixter Teenager! Seine schwarzen Haare waren mit Gel zu etwas geformt, das als modernes Kunstwerk hätte durchgehen können. Er trug ein T-Shirt, das mindestens fünf Nummern zu groß für ihn war, außerdem hatte er sich in einer Pose, die wohl lässig wirken sollte, einen Pullover mit Kapuze über die Schulter geworfen. Seine Beine steckten in einer dieser furchtbaren, auf Kniehöhe hängenden Hosen, die stets aussahen, als habe ihr Träger seine Ausscheidungen nicht unter Kontrolle.

Dabei bin ich es, der sich eingenässt hat, wurde Harald klar. Schlagartig breitete sich Schamesröte auf seinem Gesicht aus.

»Hey, krasses Gesichtskino! Und falls es dich tröstet: Du siehst für mich auch nicht grad wie Fernanda Brandão aus.«

»Wie … was … wer?«

Ehe der Teenager eine Antwort geben konnte, winkte Harald ab. »Schon gut. Würdest du mir bitte beim Aufstehen helfen?«

Der Bursche verzog den Mund. »Alter, ich weiß nicht. Du versaust mir noch die Klamotten.« Er trat von einem Fuß auf den anderen und streckte schließlich zögernd eine Hand aus. »Vielleicht, wenn wir echt gut aufpassen und so.«

»Nicht nötig, ich komme auch allein zurecht«, sagte Harald stöhnend und zog die Beine unter den Körper. Nicht nur, dass der Bengel keinen Respekt vor dem Alter hatte, er war auch noch eitel!

Mit gefletschten Zähnen kämpfte Harald sich in die Höhe. Die Schmerzen in seinen Hüftgelenken waren furchtbar, aber er schaffte es. »Wie ist dein Name, Junge?«

»Tom.«

»Ich bin Harald. Freut mich, dich kennenzulernen.«

Es stimmte, wenn auch nur bedingt. Von allen denkbaren Untergruppen der menschlichen Gesellschaft waren ihm halbstarke, ungebildete, selbstverliebte Jugendliche wie dieser Tom am meisten zuwider. Aber immerhin war er nun nicht mehr allein. Und weil er hoffte, dass dieser Zustand anhalten würde, fügte er rasch an: »Tut mir leid, dass du … mich so sehen musst. Hier war vorhin etwas … ein … Wesen, das …« Er wusste nicht, wie er es beschreiben sollte, ohne vollkommen lächerlich zu wirken.

»Hat es den Krach gemacht?«, wollte Tom wissen. »Klang, als wär’s ein fetter Brocken, was richtig Verstrahltes.«

Harald blinzelte. »Ja, was … Verstrahltes. Das trifft es wohl ganz gut. Sag mal, du hast nicht zufällig auch Kleidungsstücke gefunden?«

»Klamotten? Nee, Mann.« Tom trat einen Schritt zurück und presste sich das Sweatshirt an den Körper. »Kuck mich jetzt nicht so an, meine Sachen kriegst du nämlich nicht!«

Harald seufzte. »Beruhige dich, ich möchte deine Kleider nicht. Aber falls du es aushältst, würde ich darum bitten, dass du mir noch etwas länger Gesellschaft leistest.«

Tom zuckte mit den Schultern. »Schätze, das geht klar. Irgendwas muss ich ja machen, bis ich wieder runterkomme.«

Harald hob eine Braue. »Was meinst du?«

»Na die Pilze!« Tom gestikulierte, als wäre es eine zwingende Schlussfolgerung. »Du musst doch auch welche gefressen haben, so wie du abgegangen bist.«

»Ich weiß nichts von irgendwelchen Pilzen«, entgegnete Harald zögernd. »Weißt du, wo wir sind? Und wie wir hierherkommen?«

Tom legte den Kopf schief und verschränkte die Arme, als halte er ihn für zurückgeblieben. »Ich sag doch: Das müssen die Pilze sein. So’n krankes Zeug kann’s nicht geben, also sind wir dicht. Ganz einfach.«

Harald begann zu dämmern, dass die Kommunikation mit dem Jungen eine Herausforderung werden würde.

»Hast du etwas dagegen, wenn wir ein wenig die Umgebung erkunden, während wir uns unterhalten?« Er deutete auf die zerbrochene Fensterscheibe. »Ich würde gerne von den Wänden weg.«

Tom wirkte wenig begeistert. »Alter, aber … der Gestank …«

Wenn Harald eines über Teenager wusste, dann, dass eine strenge Hand manchmal Wunder half. »Du musst dir eben die Nase zuhalten. Jetzt sei keine Memme und komm. Du kannst mir glauben, dass du diesem Ding von eben bestimmt nicht begegnen willst!«

»Ich bin keine …«, fuhr Tom auf, richtete den Blick dann aber auf seine Schuhe. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und zuckte erneut mit den Schultern. »Fernanda wär mir zwar lieber, aber ich schätze, das geht schon irgendwie klar.«

Harald schüttelte den Kopf. Womit hatte er das alles verdient? »Also dann los!«


Der Wachmann namens Max Ernst zerrte fluchend an einem rostigen Metallrohr. Es gehörte zu einem ganzen Bündel von Leitungen, die einmal an der Decke des Flurs verlaufen waren, diesen jetzt aber blockierten, da sie sich zu einer sperrigen Barrikade verkeilt hatten.

Max wusste nicht mit Sicherheit, ob er Wachmann war, doch es erschien ihm wahrscheinlich. Zum einen war da seine Uniform. Warum sollte er so etwas tragen, falls es nichts mit seinem Beruf zu tun hatte? Gut, es hätte eine Verkleidung sein können, aber falls das stimmte, würde es sich um das wohl langweiligste Kostüm aller Zeiten handeln. Und die Pistole war keine Attrappe: Als er sie vorhin aus dem Holster gezogen hatte, hatten seine Finger mit geübten Bewegungen das Magazin herausschnellen lassen und den Sicherungshebel gecheckt.

Zum anderen stand die Tatsache im Raum, dass er sich auf einer unbewussten Ebene in dem Gebäude auskannte. Er konnte nicht sagen, was die einzelnen Räume beherbergten oder in welcher Richtung ein bestimmtes Ziel lag, aber wenn er einen Korridor betrat, wusste er, wie viele Türen von ihm abgingen und ob er andere Wege kreuzte. Solche Dinge speicherte man nur ab, wenn man besagte Korridore schon oft beschritten hatte, oder nicht?

Deswegen war Max Wachmann. Ziemlich sicher. Und er arbeitete in diesem riesigen Gebäudekomplex.

Allerdings glaubte er kaum, dass man jemanden benötigte, um eine Einrichtung zu bewachen, die dermaßen im Verfall begriffen war. Etwas an dem Gebäude war ganz und gar nicht so, wie es sein sollte – nein, nicht etwas, sondern vieles. Ein Unglück musste sich ereignet haben, etwas Schlimmes, das ihm die Erinnerung geraubt und den Komplex in eine Ruine verwandelt hatte. Ein Anschlag vielleicht? Wollten irgendwelche Irre hier den elften September nachstellen?

Endlich gelang es ihm, das Rohr zur Seite zu stemmen. Es kreischte wie eine Katze, der man auf den Schwanz trat, als es über die anderen Leitungen schabte. Noch eines, dann konnte er sich durchzwängen.

Seine Gedanken kehrten zu der Anschlag-Theorie zurück. Wären hier kürzlich Bomben detoniert, müsste doch Staub in der Luft liegen, oder nicht? Es sollte Brände geben, nach giftigem Rauch riechen … Stattdessen stank es wie im Inneren eines Komposthaufens und überall wuchs abstoßendes Zeug. Sah eher nach der Oberfläche eines fremden Planeten als nach dem Schauplatz eines Angriffs der Mullahs aus.

Die Kleine schrie wieder und holte ihn damit in die Realität zurück. Die Stimme der Mutter vermischte sich mit den Schmerzenslauten. Sie war so schrill und angsterfüllt geworden, dass sie von der des Mädchens kaum noch zu unterscheiden war.

Max zog mit aller Kraft. Schmerzen explodierten in seinen Oberarmen, dunkle Punkte schwirrten vor seinen Augen. Er brüllte, wie er es manchmal tat, wenn er im Fitnessstudio ein besonders schweres Gewicht stemmte.

Mit einem hohlen Krachen brach das Rohr ab. Er schleuderte es fort und duckte sich in die entstandene Lücke. Die Bruchstelle war scharfkantig und so voller Rost und Dreck, dass ihr bloßer Anblick ihn mit Tetanus zu infizieren schien. Aber es gelang ihm, sich nicht daran zu verletzen.

Dann war er durch, die Gabelung lag vor ihm. Links ging es in den Gang, aus dem die Hilferufe drangen. Es war verflucht düster hier, aber er brauchte sich schließlich nur an dem Lärm zu orientieren. Um alles andere würde er sich kümmern, wenn es soweit war. Max trabte los.

Er stieß sich Schienbeine und Ellbogen, zertrat Dinge, die auf grässliche Weise knackten oder platzten, und musste immer wieder dunkle, sperrige Umrisse zur Seite zerren. Ein unsichtbares Band legte sich um seine Kehle, während er sich den Schreien näherte. Jeder Laut, der von vorne zu ihm drang, zog das Band ein wenig enger zu. Bald staute sich der Druck bis in seinen Magen.

Im Moment war vollkommen nebensächlich, was hier geschehen war. Ein Kind durfte nicht dermaßen leiden. Eine Mutter sollte so etwas nicht miterleben. Er musste eingreifen!

Max wusste, dass er sich einer Treppe näherte, die ins erste Untergeschoss führte. Was sich in diesem Untergeschoss befand, wollte ihm nicht einfallen. Aber ihm waren die Überreste der vielen Computer nicht entgangen. Oder die Räume voll zerbröselter Kacheln, in denen Metalltische vom Rost zerfressen wurden. War das hier so etwas wie eine Forschungseinrichtung? Könnte dort unten etwas eingesperrt gewesen sein, das entkommen war, als was auch immer geschah?

Die Mutter kreischte: »Lass sie los, lass sie los!«

Wurde die Kleine von einem solchen Etwas angegriffen?

Was auch immer vor sich ging, Max musste etwas dagegen unternehmen. Er befand sich an einem gefährlichen Ort, und dort vorne waren andere Menschen. Die ersten, die er gefunden hatte, seit er vor einiger Zeit zu sich gekommen war. Vielleicht wussten sie Bescheid. Und wenn nicht, konnten sie ihm immerhin dabei helfen, dem Geheimnis auf den Grund zu gehen.

Er griff sich im Laufen an die rechte Hand, spielte an dem goldenen Ring herum, der suggerierte, dass er verheiratet war.

Bestimmt habe ich auch Kinder, dachte er. Es zerriss ihm das Herz, die Kleine so leiden zu hören.

»Auaaa!«, kam es von vorne, hallend und jetzt ganz nah.

»Verschwinde! Du kriegst sie nicht, du … aaah!«

Max reduzierte das Tempo, um nicht die Treppe hinabzustürzen. So schnell es bei den herrschenden Lichtverhältnissen möglich war, tastete er sich nach unten. Die Stufen waren intakt, knirschten aber bedrohlich, wenn er sein Gewicht darauf verlagerte.

»Halten Sie durch!«, schrie er. »Ich bin gleich da.«

»Bitte beeilen Sie sich!«, schluchzte die Mutter.

Max erreichte einen Treppenabsatz und bemerkte das blaue Licht.

»Was zum …«

Zwei Schritte später sah er es. Das Wesen, das es nicht geben durfte. Es hatte das Mädchen zu Boden geworfen und presste lange, dürre Finger in dessen Gesicht, während es das Maul aufriss und etwas herausgleiten ließ, das aussah wie eine dornenbesetzte Zunge. Ein Arm des Mädchens war blutig, die Mutter lag ein Stück daneben, halb gegen die Wand gesunken, und hielt sich den Kopf. Unter ihrer Hand quoll ebenfalls Blut hervor.

Max’ Blick blieb einen Moment lang an ihr hängen. Sie hatte schulterlanges, rotes Haar, das an einer Stelle von einer weißen Strähne zerschnitten wurde. Ihr Körperbau war zierlich, das Gesicht ungeachtet der darin eingegrabenen Furcht hübsch. Die Kleidung, die sie trug, unterstrich ihre Vorzüge jedoch nicht. Jeans, dunkles Top, bequeme braune Schuhe. Keine Schminke. Sie wirkte auf Max nicht gerade selbstbewusst.

 

»Tun sie etwas, bitte!«, kreischte sie wie von Sinnen. »Es will ihr Gesicht fressen!«

Max hielt die Waffe bereits in der Hand. Ohne zu zögern, drückte er ab.

Die Kugel traf das Wesen in die Schulter. Leuchtende Flüssigkeit spritzte auf die Wand des Treppenhauses und rann gen Boden. Es wirkte auf Max wie eine bizarre Botschaft, die mit Geheimtinte geschrieben worden war.

Das Wesen fiel nicht etwa um, sondern fauchte erbost. Es sperrte den Rachen noch weiter auf und sah in Max’ Richtung. Die Krallenhände ließen den Kopf des Mädchens los und wurden drohend auf ihn gerichtet. Max starrte in das grässliche Gesicht hinein, das von innen zu glühen schien. Drei Augäpfel trieben in einer halbdurchsichtigen Masse aus Knochen und Zähnen, Blutgefäße wanden sich in alles hinein wie Maden. Es war das Hässlichste, was er jemals gesehen hatte, und der Anblick bannte ihn dermaßen, dass sein zweiter Schuss zu spät kam.

Er sah noch, wie das Monster sich anspannte. Doch als die Waffe in seinen Händen bockte, war es nicht mehr da. Max blickte sich panisch um, dann entdeckte er es wieder. Wie ein Irrwisch sprang es auf ihn zu, stieß sich von Treppenstufen und Wänden ab, als würde es der Schwerkraft nicht unterliegen. Dass es verletzt war, konnte man lediglich der Spur aus leuchtenden Spritzern entnehmen, die es hinterließ.

Max schoss, wieder und wieder. Aber das Vieh war einfach zu schnell für ihn.

»Passen Sie auf!«, schrie die Mutter. »Oh Gott!«

Max passte auf, aber es half nichts. Schon war es bei ihm, umklammerte seinen Kopf, stach Krallen in seinen Nacken und schlug die Zähne in sein Gesicht. Er brüllte, die Schmerzen warfen ihn auf die Knie. Mit dem Griff der Pistole drosch er auf den haarigen Körper ein, dessen Moschusgestank nun in das drang, was von seiner Nase übrig war.

»Steh ihm bei«, hörte er die Frau noch kreischen. »GOTT, STEH IHM BEI!«

Dann fuhr das Monster die Zunge aus, leckte über seine Augen und riss sie ihm aus dem Schädel.