Crossover

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Tom Meyer war mächtig angepisst.

»Was soll die Scheiße?«

Sein Schädel dröhnte wie bei ’nem Mörder-Kater, er hatte keinen Plan, wo er war, und auch sonst wusste er nicht viel. Was auch immer er eingeworfen hatte, es ballerte ihn ordentlich weg.

»Fuck.«

Er lag auf dem Boden, im Staub. Seine Billabong-Hose war verdreckt, ebenso wie der Burton-Hoodie. Von den limitierten Nikes ganz zu schweigen. Schnell stand er auf, schwankte, stützte sich an etwas ab, das wie ein völlig vergammelter Tisch aussah, und klopfte sich, so gut es ging, den Schmutz von den Klamotten.

Pilze … es mussten Pilze gewesen sein. Vermutlich wirkte der Scheiß noch immer und ließ Tom Hallus sehen. Es waren bestimmt Hallus, denn er war noch nie an so einem abgefuckten Ort gewesen. Er musste besser aufpassen, wo er sein Zeug herbekam.

Aber wo bekam er sein Zeug eigentlich her?

»Fuck, Mann.«

Er erinnerte sich an überhaupt nichts. Alter, Adresse, Freundin … gab es eine Schnecke in seinem Leben? Er schätzte schon, denn aufgrund seines Outfits war klar, dass er rockte und die Weiber auf ihn standen. Aber er wusste es nicht mit Sicherheit. Möglicherweise war er auch nicht der Typ für eine Beziehung. Die Welt war groß, es gab scharfe Bräute an jeder Ecke und jemand, der es geschnallt hatte, konnte feiern und vögeln, soviel er wollte. Die Bitches brauchten es doch, man musste sich nur ansehen, wie sie herumliefen.

»Yeah«, murmelte Tom und nickte. Das klang nach ihm. So einer war er, zumindest so lange, bis die Pilze aufhörten zu wirken. Und falls er anschließend feststellte, dass er doch nicht so einer war, würde er eben einer werden.

Sein Magen knurrte. Fressflash. Hatte er etwa auch einen durchgezogen?

Er sah sich um, suchte nach etwas Essbarem. Bereits nach wenigen Sekunden wusste er, dass er hier nichts Derartiges finden würde.

»Dieses Haus lutscht.«

Es kam ihm vor, als sei er in einen Teil der Resident Evil–Reihe gestolpert. Das Zimmer, in dem er stand, war früher vielleicht ein Labor gewesen. Inzwischen hatte es sich aber in eine Müllhalde verwandelt. Hängeschränke lagen zerbrochen und halb verrottet am Boden, Reste von Pappschachteln moderten überall vor sich hin, Kabel hingen von der Decke, löchrige, vom Rost zerfressene Leitungen verliefen zwischen ihnen oder hingen ebenfalls herab. Der Anstrich blätterte von den Wänden; wo er noch haftete, durchzogen ihn Risse, als wäre er aufgesprungener Wüstenboden. Alles war schmutzig und staubig, und wirklich hell war es auch nicht. Da gab es zwar ein Fenster, aber das sah aus, als hätte es jemand von oben bis unten vollgeschissen.

Überhaupt hing echt merkwürdiges Zeug in der Gegend herum. Zwischen den vielen Kabeln spannten sich Fäden, aber sie bildeten keine Spinnennetze. Sahen eher aus wie …

»Schleim«, murmelte er. »Was ist das für ein kranker Scheiß?«

Tom kannte kein Tier, das solche Dinger produzierte. Aber irgendwo mussten sie ja herkommen. Und dann diese kleinen Kugeln, die an mehreren Stellen das gammlige Holz bedeckten. Sie sahen aus wie Pilze, aber nicht wie die Sorte, die Tom sich gerne reinpfiff. Blass, käsig, irgendwie durchscheinend und … glibberig. Er stupste einen davon mit dem Finger an.

»Au!«

Es brannte, als hätte er eine glühende Zigarettenspitze berührt. Als wären diese Glibberkugeln Quallen und keine Pilze.

»Selbst wenn’s hier was zu essen gäbe, würde ich’s nicht fressen«, zischte er, während er die Hand mit dem verletzten Finger in der Luft schwenkte.

Ihm war heiß. Der Trip wurde immer schlimmer, jetzt fühlte er sich schon wie in der Sauna. Darauf bedacht, mit dem brennenden Finger nichts zu berühren, zog er den Hoodie aus und warf ihn sich lässig über die Schulter, wobei er den Daumen in der Kapuze verhakte. Einen schlechten Trip zu haben musste schließlich nicht automatisch bedeuten, scheiße auszusehen.

Aber auch wenn es ein verflucht schlechter Trip war … etwas stimmte nicht damit. Klar, mit schlechten Trips stimmte so manches nicht, aber sie fühlten sich trotzdem immer wie das an, was sie waren: Trips eben.

Hier fehlte das Gefühl; diese verschickte, verschobene Perspektive, das Eingelulltsein. Die Effekte, derentwegen man sich den Krempel überhaupt erst einwarf. Tom hatte verdammte Kopfschmerzen, aber er war nicht breit. Trotzdem stand er mitten in der Umbrella-Villa. Oder einem Labor an Bord der Nostromo aus Alien. Vielleicht schlüpfte ja gleich eine Horde Facehuggers aus den Schleimpilzen.

Wie ging man mit so etwas um? Tom hatte keine Erfahrung mit dermaßen üblen Hallus.

»Scheiße.«

Er wollte irgendwas tun, und wenn es nur dämliches Rumlaufen war. Aber das konnte gefährlich sein. Was, wenn er in Wirklichkeit über eine vielbefahrene Straße torkelte, während er sich einbildete, in diesem Drecksloch herumzustromern?

Was schließlich den Ausschlag gab, war der Gestank. Es roch wie im Arschloch des Teufels, und je mehr Tom zu sich kam, desto schlimmer wurde es. Sein Magen protestierte.

Er wollte nicht kotzen. Selbst wenn er vollkommen besoffen war, kotzte er nicht, denn er hatte was drauf. Da würde er hier bestimmt nicht damit anfangen.

Also lief er los. Und blieb nach zwei Schritten direkt wieder stehen.

Er hatte etwas gehört. Jemand hatte geschrien, und es war kein fröhlicher Laut gewesen. Klang eher nach jemandem, der echt in der Scheiße steckte. Und gleich darauf war irgendwas zu Bruch gegangen.

Tom überlegte, ob er hingehen und nachsehen sollte. Vielleicht war da einer, der dieselben Pilze gefressen hatte. Gut möglich, dass so jemand noch weniger klarkam als er. Ob dieser Jemand die gleichen Hallus hatte?

Aber hingehen bedeutete Stress. Im schlimmsten Fall ging womöglich ein durchgeknallter Irrer auf Tom los – wer konnte schon sagen, was in einem dermaßen weggeballerten Hirn vorging? –, im besten Fall würde er sich um einen flennenden, verstörten Typen kümmern müssen. Tom war von beiden Möglichkeiten kein großer Fan.

»Scheiß auf den«, murmelte er.

Vor ihm befanden sich die Überreste einer Türöffnung. Sie bestand aus einem unregelmäßigen Umriss, vor dem eine Holzplatte vergammelte. Eine ganze Kolonie der Schleimkugeln bedeckte die Fläche.

Der Schrei war von links gekommen. Tom machte einen großen Schritt über die Reste der Tür hinweg – er wollte gar nicht dran denken, was die glitschigen Kugeln mit seinen Nikes anstellen würden, falls er drauftrat –, und wandte sich nach rechts. Sollte der Typ allein damit fertigwerden.

Steinchen knirschten unter seinen Schuhen. Er würde sie später aus dem Profil der Sohlen fummeln müssen. Diese ganze Scheiße ruinierte ihm echt das Outfit! Sobald er wieder ganz da war, würde er rausfinden, wer ihm das Zeug besorgt hatte. Der Typ musste in Zukunft ohne ihn als Kunde auskommen, so viel war klar. Wenn Tom Bock auf abgefahrenen Gammel-Kram hatte, warf er die X-Box an und legte Dead Space ein, verdammt noch …

Der Gang verfinsterte sich. Krasser Lärm brandete plötzlich durch das Gebäude. Er kam von dort, wo der andere Kerl geschrien hatte. Irgendwas Großes war da am Werk, Zeugs ging kaputt, die Wände wackelten. Etwas schlug krachend gegen was anderes … und unter allem glaubte Tom, ein Schnaufen zu hören. Es wurde immer lauter, steigerte sich zu einem trompetenartigen Brüllen, das selbst die Alien Queen vor Neid hätte erblassen lassen.

Dann wurde es still. Kurz schepperte und bröckelte noch was, ehe sich der Gang aufhellte.

Tom hatte sich umgedreht, ohne es zu merken. »Kranker Scheiß.«

Jetzt wollte er erst recht weg, aber etwas hielt ihn davon ab: sein Stolz. Trotzdem nachsehen zu gehen, erforderte nämlich Eier. Weggehen nicht.

Tom wusste zwar, dass er Eier hatte, aber es schadete nicht, sich das ab und an zu demonstrieren. Nie wieder würde es sein wie in der Grundschule, als die anderen Kinder ihm hinterhergerufen hatten: »Der Meyer ohne Eier, der Meyer ohne Eier!«

Hey, ich erinnere mich an was!

Sie waren gnadenlos gewesen, wie Kids es nun mal waren. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er ihnen eins aufs Maul gegeben hatte. Er hatte es ihnen damals gezeigt, und er zeigte es heute noch jedem, der es wissen wollte … und allen anderen auch. Er war keine Memme.

Jemand begann zu weinen. Das klang nun wirklich nicht wie etwas, vor dem man sich fürchten musste.

Tom zuckte mit den Schultern. »Drauf geschissen. Sind eh nur Hallus.«

Er ging auf das Weinen zu, erreichte kurz darauf eine weitere Türöffnung, trat hindurch und fand einen alten Knacker mit vollgepisster Unterhose.


»Kati!«

Birgit Rehm war der Panik nahe. Das Gefühl umschlang ihre Eingeweide, als sei es eine Würgeschlange.

Irgendwo in der Ferne brüllte etwas. Und war das eben ein Klirren gewesen? Wo war sie hier gelandet, um Himmels willen?

Birgit hetzte durch einen heruntergekommenen Raum nach dem anderen, rannte dunkle, nach Moder riechende Flure hinab. Sie sah zerschmetterte Computermonitore, dermaßen von schleimigem Bewuchs befallen und zersetzt, dass sie kaum noch zu erkennen waren. Die Absätze ihrer Schuhe zertraten Gewächse, die aussahen, als gehörten sie in tiefe Erdlöcher oder Höhlen, jedenfalls an Orte, die kein Lichtstrahl je erreichte: blass, durchscheinend, gefüllt mit zähem Gallert. Alle paar Schritte trat sie zudem auf Knochen, die unter trockenem Knirschen zu Staub zerfielen. Die Gebeine befanden sich in viel zu schlechtem Zustand, um zu bestimmen, zu welchen Tieren sie gehörten. Aber da war etwas in der Form und Anordnung der Knochen, das in Birgit ein Gefühl der Fremdartigkeit hervorrief. Ein Kribbeln der Falschheit und des Abscheus, als handele es sich um die Überreste einer Kreatur, die es sowieso zu zertreten galt. Diese Knochen zu betrachten fühlte sich an, als säße man gemütlich auf der Couch und bemerkte plötzlich, wie eine gigantische, haarige Spinne die Wohnzimmerwand herunterkrabbelte. Birgit wusste einfach, dass diese Kreaturen nicht friedfertig neben ihr existieren konnten. Es nicht durften.

 

Sie taumelte durch ein zerfallendes Labyrinth und hatte keine Ahnung, wie sie hierher gelangt war. Alles war weg, nicht einmal fundamentale persönliche Erinnerungen waren ihr geblieben. Birgit kam es vor, als hätte eine höhere Macht ihr Betriebssystem neu gebootet. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Sie war eine gläubige Frau, und die Vorstellung, Gottes Zorn auf sich gezogen zu haben, war mehr als nur ein wenig beunruhigend.

Aber nichts davon war der Grund für die Furcht, die sie zu übermannen drohte, die sich in ihren Nacken krallte und ihr Herz bis hoch zum Hals schlagen ließ. Es war die eine Sache, von der sie wusste; die Erinnerung, die ihr geblieben war. Für Birgit war sie das Wichtigste auf Erden. Und sie war nicht mehr da.

»Kati!«, schrie sie noch einmal.

Ihre Tochter, ihre wunderhübsche Tochter! Sie war irgendwo hier drin, in einem Gebäude voll scharfer Kanten, Scherben und, dem allgemeinen Zustand der Zersetzung nach zu urteilen, allen Arten von Krankheitserregern. An jeder Ecke schien ein potenzielles Unglück nur darauf zu lauern, über das Mädchen hereinzubrechen.

»Hundi!«, hatte Kati gequiekt und war losgerannt. Im Gegensatz zu ihrer Mutter schien sie angesichts der Umgebung nicht im Mindesten verwirrt zu sein. Vielleicht, dachte Birgit, liegt es daran, dass ihr Verstand nach seinen eigenen Regeln funktioniert.

Kati hatte die Welt schon immer mit anderen Augen gesehen. Manche Menschen bezeichneten sie deshalb als zurückgeblieben, aber Birgit wusste es besser.

Als Kati davongelaufen war, hatte Birgit mit dröhnendem Schädel auf dem Boden vor dem Gebäude gelegen. Auf etwas, das einmal Asphalt gewesen sein mochte. Dunkle Krümel waren unter ihr zerbröselt, als sie sich mühsam herumgewälzt und die Hand nach ihrer Tochter ausgestreckt hatte. Doch es war längst zu spät gewesen. Kati war kichernd durch eine halb zerfallene, fleckige Betonwand geklettert, aus der Metallstangen ragten wie Gräten aus einem angefressenen Fisch. Eine gezackte Öffnung hatte das blonde Mädchen verschluckt, ihr blaues Kleidchen war das letzte gewesen, auf das Birgit noch einen Blick hatte erhaschen können.

Und jetzt war sie irgendwo hier drin. Allein, hilflos, ahnungslos. Sie verfolgte etwas, das sie für einen Hund hielt. Birgit betete im Stillen darum, dass es tatsächlich ein Hund war. Ein streunender, tollwütiger Kläffer wäre schlimm genug, aber es könnte noch viel schrecklicher werden.

Kati bezeichnete alles, was Fell und große Augen hatte, als »Hundi«. Selbst den zweieinhalb Meter großen Tiger im Zoo hatte sie so getauft. Und sie zeigte niemals Angst vor Tieren. Es war fast, als fehlte ihr dieser Instinkt vollständig. Birgit erinnerte sich an zahlreiche Nächte, in denen sie schweißgebadet hochgeschreckt war, davon überzeugt, ihre Tochter wäre von einem Bären, Löwen oder Wolf getötet worden, weil sie ihn ohne zu zögern in den Arm genommen hatte. Oder ein Auto hatte sie erfasst, auf das sie lächelnd zugegangen war …

Birgit blinzelte mehrmals, während sie sich darüber klar zu werden versuchte, ob das Zurückkehren dieses Gedankenschnipsels etwas Erfreuliches war oder nicht. Dann rief sie abermals nach ihrer Tochter, zwängte sich zwischen zwei rostigen Stahlträgern hindurch und betrat den nächsten Flur.

Hier war es so dunkel, dass Birgit kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Sie befand sich tief in den Eingeweiden des Gebäudes, seine Verdauungsgase lagen schwer in der feuchtwarmen Luft.

»Kati? Wo bist du, Schätzchen?«

Mehrere Herzschläge lang war Birgit sicher, sie verloren zu haben. Sie hatte wahrscheinlich einen anderen Weg eingeschlagen, das Gebäude war so riesig, dass sie sie niemals rechtzeitig finden würde. Wahrscheinlich war sie längst in eine Spalte gefallen oder hatte sich an einer scharfen Kante den Hals aufgeschlitzt. Oder etwas hatte sie vor Birgit gefunden. Etwas mit Zähnen, das hungrig war.

»Hundi!«

Birgits Herz machte einen Satz und schlug anschließend noch schneller. »Kati? Kati! Wo bist du?«

Glockenhelles Kichern antwortete ihr aus der Dunkelheit, hallend und verzerrt, so als stiege es aus dem Gewölbe einer Krypta auf. Obwohl Birgit sich dagegen sträubte, blitzte ein Bild vor ihr auf. Kati, auf einem Altar, die Händchen über einem blütenweißen Kleid gefaltet. Ihre Augen waren geschlossen und man musste nicht erst die fahle Farbe der Wangen bemerken, um zu wissen, dass kein Leben mehr in ihr steckte …

»Nein!«, zischte Birgit. Etwas regte sich in ihr, straffte ihren Rücken, gab ihr Kraft. Entweder war es Gott, der ihren Willen stärkte, um sie durch das finstere Tal zu führen, oder es handelte sich um eine Macht, die nur eine Mutter verstehen konnte. Vielleicht traf ja beides zu.

»Ich komme, Süße! Warte auf Mami!«

Sie streckte die Hände aus und ging weiter. Obwohl ihre Augen sich allmählich an die Lichtverhältnisse gewöhnten, kollidierte sie ständig mit irgendwelchen Gegenständen. Manches davon erkannte sie – etwa das von Rost zerfressene Metallskelett eines Bürostuhls –, manches glaubte sie, zu erkennen – wie einen unförmigen Klumpen schleimbedeckten Kunststoffs, der entfernt an einen Kopierer erinnerte. Und wieder anderes wollte sie lieber nicht identifizieren. Die länglichen Umrisse zum Beispiel, die vollkommen von transparenten Blasen bewachsen waren und die Formen von in Agonie erstarrten Menschen annahmen, wenn man zu genau hinsah.

Sie wusste, dass Kati nicht warten würde. Kati tat so gut wie nie, was man ihr sagte. Nicht, weil sie ein unfolgsames oder gar böses Kind gewesen wäre, nein: Sie war einfach zu schnell abgelenkt. Eindrücke rauschten durch den Verstand des Mädchens wie Herbstwind über ein Feld voller Laub. Gedanken wurden aufgewirbelt und verteilten sich chaotisch, sobald Kati etwas Neues wahrnahm. Sie vergaß einfach, was man von ihr wollte, oft innerhalb von Sekundenbruchteilen. Angesichts eines »Hundis« war an das Befolgen von Anweisungen also im wahrsten Sinne des Wortes überhaupt nicht zu denken.

»Kati? Schatz?« Sie musste sie bremsen, Gegenimpulse setzen, um sie zu verlangsamen. »Was sagt der Frosch?«

Frösche waren Katis Lieblingstiere. Sie mochte sie noch mehr als Hunde. Würde jetzt einer an ihr vorbeihüpfen, hätte sie das andere Ding in Nullkommanichts vergessen.

Aber Birgit war froh, dass Kati nicht »Froschi« rief. Gott allein wusste, wie ein Wesen aussehen mochte, das ihre Tochter für ein Amphibium hielt – hier, an diesem Ort. Birgit war der Himmel mit den beiden Sonnen keineswegs entgangen, genauso wenig wie der rote Pflanzenbewuchs, der einige Meter jenseits des bröckelnden Asphalts begann, als hätte man eine Linie mit dem Lineal gezogen. Aber sie hatte diese Beobachtungen in einen entlegenen Winkel ihres Verstands gesperrt. Kati war das Wichtigste. Solange sie nicht in Sicherheit war, konnte ihr alles andere gestohlen bleiben.

Sie kam an mehreren Türen vorbei, die noch in den Rahmen steckten und wie kariöse Zähne vor sich hinfaulten. Ein Gewirr aus Kabeln baumelte von der Decke; mit dem Unterarm wischte sie es weg und sah sich gleich darauf einem Rechteck aus umfassender Schwärze gegenüber. Sie zögerte, und das rettete ihr vermutlich das Leben.

Birgits nächster Schritt trat in leere Luft. Sie schrie auf, ruderte mit den Armen und musste erkennen, dass sie das Gleichgewicht nicht halten konnte. Auf der Suche nach Halt griff sie um sich, kippte vornüber … und landete auf der obersten Stufe einer Treppe. Ein matschiges Knirschen ertönte. Offenbar war der Beton hier genauso marode wie im Rest des Gebäudes.

Sie atmete japsend, griff sich erst ans Herz und dann ins Gesicht. Kalter Schweiß blieb an ihrer Hand haften.

Das Kichern erklang wieder. Es war nicht mehr weit entfernt.

»Hundi ustig!«

Weiter, Birgit musste weiter! Sie streckte die Arme aus, ertastete rechts von sich eine feuchte Wand und stützte sich dagegen, während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte.

Was, wenn die nächste Stufe wirklich fehlt?, fragte sie sich, oder dein Gewicht die Treppe nachgeben lässt?

Sie schluckte und verdrängte die Sorgen. Falls ihr etwas geschah, so wäre es Gottes Wille. Und sie war sich ziemlich sicher, dass Gott ihr nichts Schlimmes zustoßen lassen würde. Immerhin hatte er ihr Kati geschenkt. Es war gewiss in seinem Sinn, dass sie das Mädchen zurück ans Tageslicht führte.

»Hundi ustig«, quiekte es abermals unter ihr. Birgit fragte sich, auf der Grundlage welcher Sinneseindrücke ihre Tochter feststellen konnte, dass das Wesen unterhaltsam war. Die Dunkelheit umschloss alles dermaßen dicht, dass sie selbst noch nicht einmal Umrisse wahrnahm.

Sie wäre beinahe der Länge nach hingefallen, als der Weg plötzlich eben wurde. Prüfend griff sie um sich und traf mit der Handfläche auf eine Wand direkt vor ihr. Die Treppe beschrieb eine Kehre! Und dort, auf der linken Seite … waren das Stufen? Sie konnte sie sehen, wenn auch nur ganz schwach.

Wo kam das Licht her?

»Schatz? Bist du da unten?«

»Mami! Mami, Hundi!«

Sie war jetzt ganz nah! Beinahe hätte Birgit vor Erleichterung geschluchzt. Sie beeilte sich, die drei Schritte zum nächsten Treppenabschnitt zurückzulegen, in Richtung des bläulichen Schimmers. Ihr Fuß traf auf die erste Stufe, sie sah nach unten … und erstarrte.

Kati stand nur wenige Meter entfernt, auf dem nächsten Absatz. Einen Schritt vor ihr gähnte ein finsterer Abgrund. Wohin auch immer die Betontreppe früher geführt hatte, jetzt endete sie im Tod.

Als wäre ein drohender Sturz nicht grauenhaft genug, befand sich neben Kati dieses … Ding. Es war die Quelle des Leuchtens, Licht strömte aus seinem Körper wie aus einer Laterne. Birgit hatte etwas Derartiges niemals zuvor gesehen. Augenblicklich sprang sie dasselbe Gefühl an wie bei der Betrachtung der vermodernden Knochen. Das hier war ein Feind. Diese Spezies und die menschliche Rasse konnten nicht koexistieren. Was immer es sein mochte, es war ihrer Tochter und ihr so sicher böse gesinnt, wie abends die Sonne unterging. Unmöglich konnte so etwas Gottes Schöpfung entspringen, es stellte den Inbegriff der Blasphemie dar.

»Kati, geh da weg!«, keuchte sie mit staubtrockener Kehle. »Komm zu Mami.«

Kati schob schmollend die Unterlippe vor und deutete auf das Scheusal. »Hundi!« Ihre Augen leuchteten wie die einer Dreijährigen, obwohl sie erst vor Kurzem ihren zwölften Geburtstag gefeiert hatte.

Das Wesen zitterte jetzt. Sein Pelz stellte sich auf, es öffnete das Maul. Nadelartige Zähne standen in sämtliche Richtungen ab, der Rest des Schädels war im Vergleich dazu winzig. Drei überdimensionale Augen nahmen den größten Teil davon ein, starrten lidlos und hasserfüllt. Es war der Kopf einer bizarren Tiefseekreatur, montiert auf einen Primatenkörper.

Das Monster war nicht sonderlich groß, es reichte Birgit vielleicht bis an die Hüfte. Trotzdem flößte sein Anblick ihr schreckliche Angst ein. An den Stellen, wo der zottige Pelz zurücktrat und faltiger Haut Platz machte, trat das Leuchten hervor. Extremitäten, Gesicht, Bauch und Genitalregion … sie verströmten kaltes, blaues Licht, das alles, worauf es fiel, krank und welk erscheinen ließ.

Es handelte sich um Biolumineszenz. Birgit hatte keine Ahnung, woher sie das wusste, aber sie wusste es. Das Ding leuchtete von innen heraus, und es war dabei so transparent wie die Kugelgewächse, die sie weiter oben gesehen hatte. Ungläubig starrte sie auf durchscheinende Muskeln, unter denen Knochen und verschlungene Organe zu erkennen waren. Und überall dazwischen, alles umspannend, ein Netzwerk aus Blutgefäßen.

Es war unbeschreiblich scheußlich und brachte ihren Glauben an Gottes großen Plan ins Wanken.

»Hundi böse«, stellte Kati fest, als das Monster zu knurren begann. Aus dem grollenden Laut wurde gleich darauf ein Kreischen. Es bohrte sich schmerzhaft in Birgits Ohren.

 

Großer Gott, dachte sie, wenn dieses Fangeisen von einem Maul nach ihrem Gesicht schnappt …

Sie versuchte, ihren Worten Kraft zu verleihen, als sie forderte: »Gib mir meine Tochter, du Scheusal!«

Anstelle einer Antwort riss das Wesen den Kopf herum. Etwas schoss aus seinem Maul und schlang sich um Katis Unterarm.

Zähne, dachte Birgit noch, oh Gott, es ist eine Zunge voller Zähne …

Kati schrie und sämtliche rationalen Gedanken waren fort.