Tatort Alpen

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Birne wurde aufgeregt, er wollte irgendwie gleich los, er wollte da rein, er wollte was tun. Ihm fiel der Sonntag ein, am Sonntag hatte er schon was vor, am Sonntag sollte er auf den Berg. Einfach so ging das nicht. Einerseits war er nicht sonderlich trainiert – er hatte eben erst angefangen. Das bereitete ihm keine Sorgen, Fettere hatten es auf andere Berge geschafft. Andererseits fehlte es ihm an Material. Er brauchte Schuhe, die Schuhe waren das Wichtigste. Im Prinzip war das in Ordnung. Er wollte raus aus dieser Stadt in ihre Umgebung, die sich lohnen sollte, wenn man den Menschen glaubte. Er kam aus einer großen Stadt und hatte gelernt in ihr zu leben, gut zu leben, jetzt musste er es mit dieser kleinen Stadt aufnehmen. Sie hatte ihre Reize und ihre Fallen und die Herausforderung war, hier genauso König zu werden wie anderswo. Ein Scheitern wollte er sich nicht erlauben. Es waren alle Spießer hier, und wenn es nur zehn Gerechte gab, galt es, sie zu finden.

Diese Mittagspause würde er noch nutzen, sich auszurüsten. Läden gab es genug. Nur der, in dem man nicht versuchte, ihm Ramsch anzudrehen, war nicht leicht zu finden.

»Bergsportgeschäft.«

Rucksäcke, Wanderstöcke, ein Zelt, Rucksäcke und Schuhe im Schaufenster. Keine Frau, die bediente, sondern ein Mann, der ihn ein bisschen an Werner ohne Bauch oder jünger erinnerte.

»Das sind die besten. Guter Mann, ich geh jeden Tag auf’n Berg. – Glaubst mir nicht? Kannst mir ruhig glauben.«

»Glaub ich doch.«

»Drücken sie?«

»Kaum.«

»Die musst jetzt einlaufen, dann gehen sie gut. Hast einen Rucksack?«

Birnes war zu klein, er musste dem Mann einen neuen abkaufen, der nicht ganz billig war, das nicht, aber er würde halten die »nächsten 30 Jahre«. Dann konnte man es machen. Wenn man dann 30 Jahre keinen mehr kaufen musste. Kaufte man sich einen nur halb so guten, musste man in 15 Jahren schon wieder einen neuen kaufen und mit der Inflation konnte man das nie mehr einsparen. 30 Jahre Ruhe, nie mehr einen neuen Rucksack kaufen. Geil. Die Trinkflasche gehörte dazu, die war nicht mehr teuer im Vergleich zum Beispiel zum Regencape, ohne das es bescheuert wäre, auf einen Berg zu gehen. Das Wetter schlug schnell um in den Bergen, da ging man los in der Früh bei strahlendem Sonnenschein und schon zwei Stunden später fand man sich in einem Gewitter wieder, dass man an einen Weltuntergang glauben konnte. Das wusste Birne, stand ja auch in den Büchern, die sie verlegten, brauchte man ihm nicht zu erzählen und auch nicht, dass es sakrisch kalt war da oben um die Jahreszeit jetzt, dass es schneien konnte, teilweise bis auf 700 Meter runter. Es schneite manchmal auch noch in der Stadt um die Zeit trotz Klimawandel oder gerade wegen. Hier war man drauf eingestellt, hier kam sofort der Streudienst, aber auf dem Berg, da konnte es richtig eng werden. Birne kaufte, kaufte, kaufte. Er spürte keine Erregung, als er das Geld raushaute, er fühlte auch kein Bedauern, das mit dem Geld berührte ihn kaum, heute Abend konnte er schon mehr davon berühren; die Menschen, sie halten sich immer so am Materiellen fest, was sie doch nicht mit ins Grab nehmen konnten. Was wollten sie auch im Grab damit? Was wären das für Friedhöfe, würde man die Menschen mit ihrem Lieblingsramsch begraben? Natürlich wäre die Welt dann auch einen Haufen Dreck los.

Birne schleppte schwer zum Büro zurück, aber er war froh dabei.

»Und wie war’s?«, fragte Alexa mit einem spitzbübischen Grinsen.

»Weiß nicht, ich bin ein bisschen konfus.«

»Ich hab keinen erreicht.«

»Wie?«

»Na, ich wollt doch Schluss machen und hab dazu angerufen und dann war keiner da.«

Die hatte er ganz schön auf seine Seite gebracht, die Kleine, so nah wollte er sie gar nicht dort haben.

»Ich hab dir gesagt, lass es, wart ein bisschen, wahrscheinlich heiratet ihr noch, dann täte dir die Affäre Birne leid.«

»Affären tun nie leid.«

»Du spielst nur, hör mal auf mit dem Spielen.«

»Was hast du da in den Tüten? Bist du wo ausgezogen?«

»Nein, hab eingekauft.«

»Schuhe, nehme ich an.«

»Schuhe? Ja, Schuhe.«

»Du, ich freu mich«, sagte Alexa.

Birne hätte sich auch gern gefreut, er fand sie nett, aber die Zulauf-Sache drückte, die musste erst aus der Welt sein. Blöd, dass sich im Leben die Geschichten nicht aneinanderreihten, anfingen, wenn die vorige jeweils zu Ende war, sondern dass sich die Stränge so verwirrten.

Im Geschäft blieb er nur noch eine Stunde. Am Freitag schaute einen keiner krumm an, wenn man mal früher ging. Werner war sogar schon ein Weilchen vor ihm weg. Tim nahm seinen Abgang zum Anlass, selbst zu verschwinden. Was wollte der Kerl von ihm? War er am Ende schwul? Konnte man da an einem Abend mal ein paar Bierchen spendiert bekommen?

»Du hast ja fest eingekauft heute«, laberte er Birne an.

»Du, ein bisschen Grundausstattung, ein bisschen was bleibt immer auf der Strecke, wenn man den Ort wechselt, das braucht man dann wieder.«

»Verstehe. Gewürze.«

»Gewürze?«

»Na, wenn du wo raus musst, dann schmeißt du sie weg, dann kommst du an, willst dir das erste Schnitzel braten und du hast nicht mal scheißschwul Pfeffer.«

»Schnitzel?«

»Zum Beispiel.«

Schmeißen Baden-Württemberger irgendetwas weg? War Tim eigenartig, aus der Art gefallen? Musste man aufpassen?

»Wie gefällt es dir bei uns?«, bohrte er.

»Passt.«

»Was heißt passt?«

»Passt.«

»Hast Glück, hast ja eine nette Bürokollegin. Die kleine Praktikantin.«

»Passt.«

»Die ist schon nett.«

»Ist es bei euch nicht nett?«

»Doch, doch.«

»Lad sie doch mal ein in der Mittagspause.«

»Jetzt ist sie erst mal mit dir unterwegs.«

»Woher weißt du das?«

»Man redet halt.«

»Gut. Ich geh jetzt heim. Schönes Wochenende.«

»Tschüs, dir auch«, sagte er, und es klang nicht zu freundlich. Da trennten sie sich und ihre Wege auch.

Birne ging heim, zum Ort seiner kommenden Tat, und erledigte blödsinnige Sachen, spülte ab, duschte, las im Wirtschaftsteil seiner Zeitung. Legte sie noch einmal so zusammen, wie er sie bekommen hatte.

Dann fielen ihm die bescheuerten Fingerabdrücke ein. Er war auch ein Mensch, er hinterließ auch welche, er musste etwas unternehmen. Er stand unter der Dusche, als er das dachte, deswegen konnte er nicht sofort in seinen Kleidern wühlen nach Handschuhen. Kaum trocken, noch in den Unterhosen, stellte er fest, dass er welche aus Wolle und alte, abgegriffene aus Leder, besaß. Beides keine richtigen für Einbrecher, was er streng genommen aber nicht war – er hatte einen Schlüssel. Vielleicht war das gar nicht mal Unrecht, was er beging, wenn es nur nach der Moral und nicht nach dem Gesetz ging, schon gar nicht.

Er zog sich schwarz an, unbewusst, es fiel ihm erst auf, als er in den Spiegel im Hausgang blickte, im Begriff, den nahen Baumarkt aufzusuchen und dort Aids-Handschuhe zu besorgen. Waren die sicher, konnten die reißen? Eine Spur von Finger, wenn er ein Möbelstück berührte, konnte das Aus seines blütenreinen Führungszeugnisses bedeuten.

Im Baumarkt lief bescheuerte Musik aus den 80ern von Phil Collins. Dabei hatte Birne schon gerechnet und gehofft, nie wieder an einen Ort zu kommen, wo man so etwas spielte. Um nicht allzu verdächtig zu wirken – er hatte nicht einmal ein Auto – kaufte er zu den Handschuhen noch zwei Dreifachstecker. Die waren nicht teuer, und die konnte man immer brauchen. Den Kassenzettel zerriss er mehrmals, bevor er ihn in den Papierkorb warf. Die trennen hier am Ausgang den Müll, sagenhaft, dachte Birne, und erschrak, weil er fürchtete, dass niemand auffälliger war als einer, der seinen Kassenzettel zerreißt, bevor er ihn auch noch in den richtigen Müll warf. Birne, Birne.

Daheim schaute er lange die Haustür der Toten an, hinter seiner steckte er seine neuen Stecker zusammen. Sie passten. Jetzt hatte er nichts mehr zu tun. Jetzt musste er los.

Birne kannte sich aus, er hatte einen Schrank hierher getragen, er hatte einen Schnaps getrunken. Er hatte sich die Handschuhe über- und dann seine Wohnungstür zugezogen und war schnell und ohne zu stolpern die zwei Treppenabsätze zur Alten hinuntergerannt. Vor der Tür hatte er nicht gezögert, wie einer auf dem Zehnmeterturm nicht zögern darf, wenn er wirklich springen will: Er hatte den Schlüssel in das Schloss gesteckt, und als er passte, war er hineingeschlüpft und hatte sich schwer schnaufend zwei Minuten an die geschlossene Haustür gelehnt. Er war drin. Die Tat war praktisch vollbracht.

Im Hausgang war es dunkel, obwohl es auf der Straße noch nicht dämmerte. Es roch ähnlich wie beim ersten Mal nach alter Frau, nur irgendwie unbewohnter. In der Küche tickte eine Uhr, es war still, Birne hörte Autos auf der Straße. Die Uhr tickte, die Autos fuhren, er war drin, sein Herz schlug, trotzdem fühlte er sich sicher. Hier war zwei Tage lang keiner mehr gewesen, wer sollte jetzt kommen? Das war keine Falle. Wie sollten die Türken wissen, wann er hier eindrang? Er hatte zum Wohnzimmer zu gehen, auf dem Fernseher stand ein Bild, dahinter eine Keksdose mit Geld, das wäre der Beweis, damit wäre der Herr Kemal frei; er könnte direkt mit der Dose zur Frau Kemal gehen und mit ihr zu den Bullen. Die Sache in dieser Wohnung würde keine zwei Minuten dauern.

Birnes Augen gewöhnten sich an das Halblicht, er konnte sehen, dass er auf einen Teppich trat, er konnte einen kleinen Telefontisch erkennen, der ihm im Weg war, als er den Schrank trug, das Telefon darauf blieb stumm, vielleicht schon abgemeldet. Birne bewegte sich langsam und achtete sehr auf den Weg, er wollte nicht fallen, er wollte keine Geräusche machen. Am Ende des Gangs führte die linke Tür ins Wohnzimmer, da musste er rein; ein Stockwerk höher lag hinter der Tür das Zimmer, in dem sein Bett stand. Die rechte Tür führte in die Küche, dorthin wollte er nicht, denn dort hatte sie gelegen, dort klebten vielleicht noch die Spuren ihres Bluts auf dem Boden. Birne wusste nicht: War schon jemand, zum Beispiel jener Enkel, da gewesen und hatte aufgewischt? Wie viel beseitigen die von der Polizei?

 

Birne ging zum Ende des Flurs und stand vor der linken Tür, hinter sich spürte er das Mordzimmer, die Küche, und wagte nicht zu atmen. Birne öffnete die Tür vorsichtig, seine behandschuhte Hand berührte die Klinke. Er konnte den Fernseher sehen, das Ticken der Uhr kam aus der Küche hinter ihm, die Geräusche der Autos vom Fenster des Wohnzimmers vor ihm. Der Fernseher stand links von ihm in einem Einbauschrank, sein Schrank hatte links einen Platz gefunden, der Enkel hatte seinen Teil des Jobs erledigt. Darauf stand eine halb leergetrunkene Flasche Mineralwasser. War ihr Hals das Letzte, was Frau Zulaufs warme Lippen berührt hatten? Tranken alte Frauen überhaupt direkt aus Flaschen?

Auf dem Fernseher lag noch die weiße Häkeldecke, da­rauf standen noch zahlreiche Bilder mit Momenten der Vergangenheit, aber nur eines mit einem kleinen Jungen, der blond, stolz und rotbäckig eine Schultüte mit aufgesticktem Teddybären hielt, und dahinter stand auch nur eine Keksdose mit aufgedruckten Weihnachtsmotiven. Birne schätzte, ohne eine Ahnung zu haben, russisch vom Stil her. Er war am Ende seiner Reise. Er rückte das Bild zur Seite, es klappte dabei zusammen. Birne fluchte und brachte es in seiner plötzlichen Aufregung nicht mehr zum Stehen, Birne fluchte noch mal flüsternd und ließ es dann sein. Er griff sich die Keksdose und wäre um ein Haar schon aus dem Wohnzimmer gerannt, als ihm einfiel, dass er zur Sicherheit schauen sollte, ob was drin war, damit der Weg nicht umsonst gewesen war. Sie fühlte sich leer an, und sie war leer, als er reinschaute. Scheiße!

Doch Raubmord? Kannte Frau Kemal ihren Mann nicht richtig? Sollte er ihr das sagen und sich dann eineinhalb Stunden überreden lassen, noch mal einzudringen und erneut zu suchen? Frauen waren misstrauisch. Die Welt wurde für sie Tag für Tag feindlicher, sie selbst immer schwächer, die Betrüger und Verbrecher immer dreister. Sie hatte das Versteck gewechselt, hatte einen sichereren Ort gesucht und hätte ihn Frau Kemal verraten an einem dieser Tage, wäre ihr nicht ein Messer in die Brust gefahren.

Birne fand, dass es gescheiter wäre, wenn er weitersuchte, wenn er noch einen Versuch unternahm, bevor er es für heute sein ließe und mit Frau Kemal noch einmal alles reflektierte.

Birne beschloss, im Schlafzimmer zu suchen. Wieso nicht? Das Bett war kurz, aber für zwei. Dunkles schweres Holz, Bauernmöbel. Gut, dachte Birne, dass er das nicht hatte reintragen müssen. Die Kissen waren weiß bezogen, das Bett gemacht. Über dem Bett hing – ebenfalls sehr rustikal – ein Gemälde von Mutter Maria, die ihrem Jesuskind an ihrer Brust zu trinken gab. Ihr Kleid war aus so dünnem hellblauem Stoff, dass man darunter den Nippel der anderen, der nicht säugenden Brust erkennen konnte. Die Alten, dachte Birne. Dem Bett gegenüber befand sich ein schwerer Bauernschrank, neben dem Bett stand ein Nachtkasten. Dessen oberste Schublade öffnete Birne und fand beim Durchwühlen ein Gotteslob und einige Sterbebilder, alte Bekannte, die Frau Zulauf vorausgegangen waren, wahrscheinlich alle unter friedlicheren Bedingungen. Aber kein Geld, kein bares. Aber was hatte Birne erwartet? Drei Millionen Euro in kleinen, nicht nummerierten Scheinen?

Er bekam nicht die Gelegenheit, die zweite, die untere Schublade zu öffnen und eventuelle Millionen dort zu entdecken, denn es erklang ein Geräusch, dem Birne zuerst nicht glauben wollte, und das er für eine akustische Täuschung halten wollte. Aber so weit konnte selbst er sich nicht täuschen, ohne als Trottel da zu stehen: Das Geräusch kam von draußen, von der Tür, und klang nach einem Wohnungsschlüssel, der im Schloss gedreht wurde. Es kam jemand herein, und Birne war hier in einer fremden Wohnung und hatte seine Hand auf einem Gotteslob in der Schublade einer Dame.

Birne schloss die Augen und wusste, dass ihm jetzt was einfallen musste, dass er vielleicht noch eine kleine Chance hätte, ohne tödliche Erklärungen hier rauszukommen. Er hörte, wie jemand die Tür öffnete, und er hörte die Stimme eines Mannes, der in die Wohnung kam und sich mit jemandem unterhielt. Er konnte kein Wort verstehen.

Man konnte, was folgte, für eine dumme Idee halten, die dümmste vielleicht, die man haben könnte, wenn einem so etwas passierte, was Birne gerade geschah, das wusste Birne selbst und auch in diesem Moment, aber er hatte auch keine Zeit zu überlegen und kaum eine Wahl, auch wenn man es von außen betrachtete: Birne ließ die Schublade offen und stürzte beinahe geräuschlos zum alten Schrank, riss ihn auf, tauchte in hängende Kleider einer alten Dame ein, und zog, quasi noch in dieser Bewegung und ohne zu fürchten, da drinnen ersticken zu können, die Schranktür hinter sich zu. Bevor es dunkel um ihn wurde, nahm er noch wahr, dass die Stimme, die der ersten antwortete, die einer Frau war. Das hielt er aus irgendeinem Grund für ein gutes Zeichen.

Es begann eine Zeit des Wartens, die nicht lang sein konnte, die Birne aber freilich so vorkam. Die anderen in der Wohnung mussten irgendwo, entweder in der Küche oder im Wohnzimmer sein. Sie hatten wie er einen Schlüssel, mussten aber nicht unbedingt wie er auf Geld aus sein. Sie könnten Mörder sein. Dann hätte Birne ein Problem. Er steckte zwischen Frauenkleidern und starrte auf einen kleinen Spalt, durch den Licht fiel, durch den er nichts erkennen und hören konnte. Ihn überkam Verzweiflung und er wäre gern ein Stockwerk höher und allein gewesen, um zu fluchen und zu weinen.

Und diese Verzweiflung war es, die ihm den Trieb in den Kopf pflanzte, etwas zu unternehmen, die Angst, dass die draußen nie mehr verschwinden könnten. Oder schon weg waren und er hier seine Nerven grundlos ruinierte. Er öffnete vorsichtig die Tür und erschrak darüber, dass sie furchtbar knarrte. Hatte sie das in seiner Eile auch schon getan? War er bereits verraten? Er stieß sie beherzt auf und tat zwei Schritte zur Tür und gleich darauf begann sein Herz zu rasen, weil er die Stimmen wieder hörte, diesmal wie zum Greifen nah vor ihm und jedes Wort verständlich: Die anderen standen vor der Schlafzimmertür.

»Und was machen wir mit dem da?«, fragte die Frau, und ihr Akzent verriet ihre Herkunft aus dem Osten.

»Weiß nicht. Sperrmüll, oder?« Das war der Mann.

Dann war es wieder still, eine Ruhe, die Birne nicht genießen konnte. Er saß in der Falle. Langsam schlich er zurück zum Schrank und rechnete jeden Moment damit, dass die Zimmertür sich öffnen würde und die beiden ihn erwischten. Aber dort blieb es still, auch als Birne wieder in sein Loch zurückkroch. Hatten sie ihn gehört? Waren sie jetzt auch leise, um ihn zu überraschen? War die Frau schon in der Küche und telefonierte mit der Polizei?

Als Birne seine Tür zuzog, sah er noch, wie sich vorsichtig die des Zimmers öffnete. Die hatten ihn gehört, die wollten ihn überwältigen. Er wagte es nicht, seine Tür ganz zu schließen aus Angst, ein Knarren zu verursachen und er wollte einen Spalt haben und sehen, was auf ihn zukam.

Der Mann trat herein, ein blonder Sportler, schon im T-Shirt zu dieser frühen Jahreszeit. Er sagte übertrieben laut: »Das hier ist das Schlafzimmer, hier drin könnten Antiquitäten sein. Da würde ich gern mal schauen, wie viel wir dafür bekommen könnten.«

»Aha«, sagte die Frau und kam hinter ihm ins Zimmer, und Birne wäre fast das Herz stehen geblieben: Das war seine heimliche Liebe aus dem Fitnessstudio, der Mann ihr Freund oder Mann. Birne blieb das Herz nicht stehen, aber ihm rutschte die Hand nach hinten aus, er schlug mit ihr an die Rückwand des Schranks, Gummi auf Holz. Das mussten sie gehört haben. Birne meinte, dass sie zuckten. Seine Schöne schaute zum Schrank und gleich wieder weg. Die wussten, dass er da war, und hatten vereinbart, ihn zu überraschen. Birne fühlte, dass er verloren war. Und er fühlte hinter sich etwas, durch den Gummihandschuh: Die Rückwand war locker an einer Stelle, die ließ sich zur Seite schieben. Birne schob ein Stück, weil er sich schon aufgegeben hatte, und langte auf einmal in Geldscheine. Er hatte es geschafft, er hatte das Versteck gefunden. Unmöglich zu schätzen, wie viel das war, aber sicher nicht wenig. Es war nicht abenteuerlich abwegig, hier Geld zu deponieren, aber man musste drauf kommen. Hätte man Birne nicht gestört, hätte er es nicht gefunden. Da war er sich sicher.

Der Mann riss den Schrank auf und packte Birne am Kragen. Er schrie dabei wie ein Blöder, er riss ein paar Kleider vom Haken, als er Birne ans scheußliche Licht zerrte. Er boxte Birne in die Seite und warf ihn aufs Bett und ließ seine Faust auf Birnes Rücken fallen, dass ihm die Luft wegblieb. Birnes Kopf wurde an den Haaren zurückgerissen, und dann spürte er das kalte Metall eines Küchenmessers an seiner Kehle. Das war’s, dachte er, gleich wird’s warm um den Hals herum und Nacht.

»So Freundchen, ein Mucks und dir geht’s wie meiner Oma.« Birne atmete nur noch in kurzen kleinen Stößen. »Simone«, fuhr der Mann fort, »nimm dein Handy und ruf die Polizei.«

Simone verriet Birne und ihre Liebe und wählte. Der Enkel nahm das Messer von Birnes Kehle und wickelte ein Seil oder eine Schnur um Birnes Hände, stieß dabei zwischen seinen Zähnen »Ich warn dich, bleib bloß still!« hervor. Als Birne verschnürt auf dem Bett lag, stieß er ihm noch ein paar mit den Füßen in die Seite. Birne musste schreien vor Schmerz.

Der Enkel sagte: »Sei bloß still.«

Simone bekam eine Verbindung und fragte sehr aufgeregt: »Hallo? Hier Polizei?« Dem Enkel war das zu wirr, er riss seiner Freundin das Mobiltelefon aus den Händen und schilderte der Stimme am anderen Ende die Lage, ein Einbrecher sei gefasst – er nannte die Adresse und Birne hätte dazwischenbrüllen mögen, schwieg aber aus Angst vor neuen Tritten – der Einbrecher sei womöglich bewaffnet, sie seien nur zu zweit. Die Stimme sagte wohl, dass man warten solle, Rettung sei unterwegs. Der Enkel jedenfalls antwortete »alles klar« und legte auf.

Jetzt fand Birne, dass es an der Zeit sein könnte, sich zu rechtfertigen. »Entschuldigung, das ist ein Missverständnis, ich bin ein Nachbar, ich habe Ihrer Großmutter geholfen …«

Weiter kam Birne nicht, denn mit den Worten »Halt dein dreckiges Maul, du Arschloch!«, schlug der Mann auf ihn ein, auf sein Gesicht wie ein Wahnsinniger. Jetzt spürte Birne die Wärme des Bluts in seinem Gesicht, ein tiefroter Fleck breitete sich vor seinen schwellenden Augen auf dem weißen Laken vor ihm aus. Er war still, er hielt sein Maul nun, bis der Mann aufhörte. Er atmete schwer, seine Freundin sagte nichts, starrte ihn an und war ein bisschen entsetzt von dem, was ihr Freund anrichten konnte, wenn er in Wut geriet und ein wehrloses Opfer zwischen seinen Fingern hatte.

»Was schaust mich so an? Die Sau hat’s nicht besser verdient. Wenn der erst im Knast ist, dann kann ich das nicht mehr machen. Ach, leck mich!« Sie hatte Angst bekommen, atmete schneller und laut. Er fuhr fort: »Weißt du was? Ich geh runter und wart auf die Bullen und du bleibst hier, und wenn er noch einen Mucks macht, rammst du ihm das Messer zwischen die Rippen, wie er es getan hat. Hast du mich verstanden?«

»Ich denk schon.« Birne gefiel auch ihre kleine helle, eingeschüchterte Stimme.

Er ging, ließ die Tür des Schlafzimmers laut zuknallen und erst recht die der Wohnung. Sie waren allein, und wäre die Situation nur ein wenig anders gewesen, Birne hätte es für seinen romantischsten Augenblick seit Langem halten mögen.

»Geht’s?«, fragte sie ihn.

»Geht schon«, antwortete Birne.

»Was wollten Sie?«

»Ich bin der Nachbar, ich heiße Birne, ich wollte nach dem Rechten sehen, ich habe einen Schlüssel, ich bin kein Einbrecher.«

»Ha. Das können Sie der Polizei erzählen.«

»Die brauchen wir nicht. Glauben Sie mir, das ist ein Missverständnis. Ich wollte nicht stehlen.«

»Versuchen Sie nicht, uns zu täuschen.« Sie klang wieder nervöser, Birne konnte nur, wenn er sich sehr umständlich verdrehte, sehen, was sie tat, aber sie hatte das Messer, davon ging er aus, und sie war nervös, er hatte nicht vor, irgendetwas zu versuchen.

»Sind Sie die Freundin vom jungen Zulauf?«

»Bernd? Ja, bin ich.«

Bernd? Sie sollte Bernd vergessen, ihn losbinden und sich mit ihm verbarrikadieren, hier in der Wohnung, das mit der Polizei würden sie regeln.

 

»Wie lange schon?«

»Weiß nicht. Vielleicht zwei Jahre. Was geht Sie das an?«

»Nichts. Sie halten mich fest, ich will gern wissen, wer mich festhält.«

»Sie sind hier eingebrochen.«

»Bin ich nicht. Ich habe einen Schlüssel, ich wollte sehen, ob alles in Ordnung…«

»Sie bluten viel mehr, wenn Sie reden. Das Bett. Bitte sagen Sie nichts mehr. Sie verbluten das Bett.«

Birne schwieg. Wenn sie nicht wollte, dass er mit ihr redete, dann schwieg er eben. Wenn ihr das verschissene Bettzeug wichtiger war als sein Leben, dann blutete er eben weniger und leise, das konnte er, kein Problem für ihn, sie hatte das Messer.

Ihr wurde unwohl von der Stille, das hatte sie davon. »Wenn Sie wirklich unschuldig sind, dann wird sich das klären, dann gibt es ein Verhör bei der Polizei, und Sie sind wieder draußen.«

Birne erwiderte nichts, er hatte keine Lust mehr, Liebe war sein einziges Verbrechen, Liebe, und jetzt blutete er dafür, Liebe zahlte sich nicht aus.

Schritte auf der Treppe. Mehr als eine Person. Aufgestoßene Türen. Polizisten, die Birne sehr unsanft packten, ihn zu Boden schleuderten, als hätte er wirklich was angestellt, als ginge wirklich eine Gefahr von ihm aus. Birne, der all das mit sich geschehen ließ, der resigniert hatte, seine Liebe dahinschwimmen sah wie einen Eisblock im Polarmeer, der sah, wie Bernd, der Affe, seine Simone in die Arme nahm, ihr wieder Trost spendete aus denselben Händen, die ihm gerade Blut beschert hatten.

Die zwei Polizisten steckten in grünen Uniformen, waren jung, nahmen alles noch sehr wichtig und so, wie sie es auf der Polizeischule gelernt hatten. Es war allerdings nur ein Streifenwagen. In München wären es mindestens sieben gewesen, dazu Kombis, und nicht nur, wenn er womöglich ein gefährlicher Mörder gewesen wäre, nein, auch beim Schwarzfahrer, der aufmuckte, oder beim Fahrradfahrer ohne Licht.

Birne wurde gefragt, ob er Handschellen wolle oder lieber keinen Widerstand. Birne entschied sich gegen den Widerstand. Einer, der Blonde, der fast eine Glatze rasiert hatte, warf ihn auf die Rückbank und setzte sich neben ihn. Der andere, der hatte fast schwarze Haare und trug diese länger, saß vorne und lenkte den Wagen. Sie fuhren schweigend. Sie hatten halt jetzt einen Einbrecher festgenommen, brachten ihn aufs Präsidium, damit die dort sich um ihn kümmern konnten. Von den Anrufern wollten sie auch nichts mehr wissen. Was wäre gewesen, wenn die die Einbrecher gewesen wären und er der, der zu Recht in der Wohnung war? Dann hätten die ihn und die Polizei sauber an der Nase herumgeführt. Dann hätte Birne allerdings auch einen Aufstand geschoben. So saß er nur da, sah aus dem Fenster, wie er durch die Stadt gefahren wurde, und blutete ein bisschen. Er hatte immer noch das Gefühl, kein großes Unrecht begangen zu haben und nicht viel befürchten zu müssen. So kam er zum ersten Verhör in seinem eigenen Fall. Immerhin.

Für diese Jahreszeit unpassend, begann es, draußen unendlich grau zu werden und nach wenigen Augenblicken zu schneien, als ob der Himmel nur noch diese eine Möglichkeit hätte, etwas von sich zu geben. Im April. Erst heute hatte er sich die Schuhe zum Wetter besorgt. Es war, als zögen die Schuhe das Wetter erst an.

Im Revier kam es ihm vor, als ob sie ihm eine Show vorführten. Er musste lange auf einem unbequemen Holzstuhl warten. Ein paar Mal reklamierte er wegen der Schmerzen. Er verlangte nach einem Aspirin, das ihm irgendwann auch gegeben wurde, damit er still war. Er verlangte daraufhin einen Arzt, und weil er ignoriert wurde, einen Anruf bei seinem Anwalt, was ebenfalls still übergangen wurde. Dann wartete er geduldig, da er hoffte, durch sein Mitspielen den Vorgang beschleunigen zu können. Sie ließen ihn dennoch relativ lange mit seinen Wunden sitzen. Einige davon waren Platzwunden und hörten auch die lange Zeit über nur unwesentlich auf zu bluten. Birne überlegte sich, eine Ohnmacht vorzutäuschen, und musste dann lachen, als er weiterdachte, ob es nicht besser und wirkungsvoller wäre, eine Marienerscheinung zu simulieren.

Als ihn endlich der muffige Beamte hereinbat, war bereits eine Dreiviertelstunde vergangen. Er ließ sich Birnes Personalien herunterbeten. Birne war kooperativ und dachte: Zwischen hier und Bananenstaat sind es nur drei Kilometer.

Wieder warten, wieder keine Antworten auf Fragen. Birne überlegte, ob er aufs Klo gehen sollte, dann kam ein großer Moment, an sich ein kleiner, aber für diesen Tag etwas Gewaltiges: Er wurde hereingebeten zum Kommissar.

*

Arschlöcher. Alles Arschlöcher, da oben, an ihren fetten Schreibtischen, Arschlöcher. Das war ihm jung mal passiert, ganz jung, und seitdem nicht mehr. Unerhört. Der eine Arm des Gesetzes hielt den anderen fest, wenn er nicht aufpasste, haute er ihn ab, der eine den anderen.

Bruno Abraham hatte keine Lust mehr auf den Mord, er hatte einen Verdächtigen verhaftet, er hatte noch kein Geständnis, aber er hatte Beweise, die den Mann in der Zelle durchdringen würden wie ein Bohrer, der sich durch eine Maus schob. Er hatte seine Arbeit für erledigt gehalten, die Akte heute Vormittag, noch nach Hustenbonbons riechend, unterschrieben und geschlossen und an die Staatsanwaltschaft in Kopie weitergegeben, sodass die damit anfangen konnten, was sie wollten. Und irgendeiner von den Arschlöchern hatte dort auf die Gelegenheit gelauert, ihm das Bein vollzupissen, denn als er und Trimalchio vom Mittagessen wiederkamen, lag eine Notiz auf seinem Schreibtisch, eine Notiz mit Tinas traumhaft-eleganter Schulmädchen-Handschrift. Er solle kurz drüben in der Staatsanwaltschaft anrufen, man bitte um Rücksprache. Es ging um den Mord, den er so lehrbuchhaft innerhalb einer Arbeitswoche seiner Klärung zugeführt hatte.

Was er beim Rückruf zu hören bekam vom Arschloch am anderen Ende der Leitung, war nicht schmeichelhaft. Man warf ihm vor, ein Dilettant zu sein, alles zu verstümpern, was ein Polizist falsch machen könne. Im ganzen Akt sei von drei Verhören die Rede, alle Beweise, die er im Moment habe, stützten sich auf Fingerabdrücke, er habe nicht einmal gewartet, bis die im Labor fertig gewesen seien, wo doch in der modernen Kriminalistik die DNA das A und O sei. Er habe den Deckel auf das oberste Blatt fallen lassen, bevor die eigentliche Arbeit angefangen habe.

»Ich meine, Sie haben kein Geständnis aus Ihrem Mann kitzeln können. Das ist kein Verhör, was Sie da geführt haben – das ist höchstens ein Pseudoverhör. Wenn wir so vor Gericht treten mit Ihren Beweisen aus Papier und Mehl, dann ist das je nach Richter wie eine Münze zu werfen. Bei Kopf sind wir durch und Ihr Mann hinter Gittern« – der Staatsanwalt sagte dauernd »Ihr Mann«, und Abraham fand es blöd, warum sollte es sein Mann sein – »und bei Zahl haben wir verloren, die Justiz einen ihrer schwarzen Tage und Kempten einen Mörder mehr auf freiem Fuß – wir müssen warten, bis ihm danach ist, wieder zu töten – welch Armutszeugnis.«

Bruno Abraham schluckte, statt zu antworten, ihm war schlecht, er wollte kotzen, sein Vortagesrausch wich einem Kater, der kein kleineres Arschloch war als das, das er gerade am Telefon hatte. Er hatte zum Mittag­essen in einer Stehmetzgerei mit Trimalchio eine Schweinshaxe, eine recht fette, zu sich genommen in der Hoffnung, dass sie ihn von seiner Magenrebellion befreie oder ihn ein Herzinfarkt ganz dahinraffe. Nichts davon war eingetreten. Er saß mit seinem Elend am Schreibtisch, telefonierte und betrachtete seinen Zustand als eine Art Strafe für seine verkorkste Existenz und fand es auf mysteriöse Weise auf einmal irgendwie in Ordnung.