Die Liebe ist ein schreckliches Ungeheuer

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Das Einvernehmen mit Lazar Wechsler ist bereits getrübt, als 1941 der deutsche Produzent Günther Stapenhorst Heinrich Fueter als kaufmännischen Leiter in seine Gloriafilm AG holt mit dem Ziel, qualitativ hochstehende Schweizer Filme zu drehen. Nach mehreren Misserfolgen konzentriert man sich auf Kurzfilme und Werbestreifen. Fueter entwickelt den Zweig Dokumentarfilme; es entsteht der mehrfach ausgezeichnete Kurzfilm «Luzern und seine internationalen Musikfestwochen». In dieser Zeit gründet er die «Zürcher Sonntagnachmittags-Symphoniekonzerte» in der Tonhalle und initiiert als Vorstandsmitglied der Theater- und Tourneegenossenschaft Zürich die «Musiksommer» in Gstaad. 1946 verlässt er Gloriafilm, im Kopf eine Marktlücke – den Auftragsfilm. Als «Dr. Heinrich Fueter-Filmberatung» startet er mit einem Werbefilm für die Uhrenfirma Eterna und gründet am 1. Januar 1947 mit 100 000 Franken Startkapital die Condor-Film AG. Verwandte, Freundinnen und Freunde beteiligen sich als Aktionäre. Anne-Marie steckt einen Teil ihrer Ersparnisse in das Unternehmen und verzichtet aus Rücksicht auf die junge Firma und die junge Familie auf einen Siebenjahresvertrag in Hollywood. Sie sei ja vor allem ein Theatermensch.

Auf der Bühne der Wiener Kammerspiele gibt Anne-Marie Blanc 1945 ihr Auslanddebüt – und Fueter sucht die Zürcher Kioske nach Wiener Zeitungen ab. «So ist ein ersehntes Ziel erreicht! […] Nimm keine Rücksicht auf mich und die Kinder. Behalt uns nur lieb – auch mich. Irgendwie war ich etwas bedrückt von meinem letzten Besuch. Du weisst … vielleicht nicht, dass Du mir alles bist. Ciao, ciao, liebstes, zartestes Häsekken – vergiss mich nicht, nie, nie …» Häsekken? Sie unterzeichnet oft mit der Rückenansicht eines sitzenden Hasen. Seine Anreden sind häufig Girlanden aus Kosenamen und Zärtlichkeiten: «Meine allersüsseste, allerliebste, zarteste, bezauberndste und verzauberndste Frau» – «Meine Mi, mein Milein – mein vielgeliebter und mählich vielzuferner Hasemi» – «Meine gütige Ernährerin, my angel, darling, baby – alles weitere auf his masters voice oder Columbia erhältlich». Eine beeindruckende Briefkultur bei solch intensivem Arbeitsleben: «Ich bin heute kurz, weil ich arbeite wie ein Tier, täglich von 7.30 spätestens bis Mitternacht.» Der Haushalt ist Thema, «Frl. Baumgartner», die Haushälterin. Begegnungen und Essen mit Freunden, Familie, Geschäftspartnern. Ärger im Unternehmen, Erfolge natürlich. Geldsorgen. «Gottlob war der letzte Monat etwas billiger im Haushalt. Aber wir haben bezahlt – ausgegeben – Unsummen.» Er berichtet vom Start in die Selbstständigkeit, dem neuen Büro, zwei Räumen für monatlich 150 Franken. «WC leider bei Vermieterin in etwas eigenartiger Wohnung.» Die Stelle für eine Sekretärin sei ausgeschrieben, Möbel habe er bei einem Antiquar erstanden, einen Tisch und zwei Stühle für 105 Franken. «Eine Schreibmaschine muss ich noch mieten.» Es sei tröstlich, dass die alten Mitarbeiter mit ihm ziehen möchten. Nestlé wolle mit ihm zusammenarbeiten, es sehe geradezu viel versprechend aus. «Ich arbeite, arbeite, arbeite – wirklich wie wild.» Er listet die Ausgaben auf. «Nicht bezahlt sind jetzt: mein Anzug ca. Fr. 390.-, Dein Pelz, letzte Steuerrate.»

Peter-Christian und Martin, ab 1949 auch Daniel, erhalten viel Platz in Heinrich Fueters «Haus- und Hofnachrichten», ihre Fortschritte, Bonmots, Erlebnisse, ihre Krankheiten. «Die Kinder sind bezaubernd: Jedes in seiner Art. Ich weiss nicht, ob ich Dein Wegsein, das mir diesmal doch ordentlich zu schaffen macht, so … ertragen würde, wenn diese zwei Strupfs nicht da wären. Das Leben ist so kurz. Die Aussichten, die allgemeinen weltpolitischen so grau, dass man an den guten Tagen hängt!» – «Die Buben waren mir in ihrer Papibegeisterung Ersatz für manchmal fehlende Autosuggestion.» Er schickt Zeichnungen mit, später rapportieren die Kinder selbst ihr Tun und Lassen, liebevoll, witzig, selbstironisch. Schreiben auch mal französisch, englisch, lateinisch. Doch in jeder Sprache und Tonlage spiegeln die Briefe ihre innige Beziehung zur Mutter wieder.

Während der Theatersaison lebt Anne-Marie Blanc in Zürich, spielt 1939 in zehn Produktionen des Schauspielhauses mit, 1940 in acht, 1942 in zehn – und so fort bis Anfang der 1950er-Jahre. «Gestern habe ich den ganzen Tag mit Schreiben, Buchhaltung und Flicken verbracht», berichtet sie ihrem Mann, «und stellte fest, dass alles Geld wieder verschwand. Dir habe ich 150 Franken überwiesen. Wenn dieser Frankreichbeitrag nicht zustande kommt, ist die Pleite da. Bete zu Gott! Sonst kriegst du gleich 500 Franken, damit du dir einen schönen Mantel kaufen kannst». Heinrich bekommt den Mantel. Im April 1946 spielt Anne-Marie in Paris mit Erich von Stroheim im Film «On ne meurt pas comme ça». – «Mein Liebling, hier ist das Bahnticket, leider ist kein Flugzeug zu haben. Ich erwarte dich also Freitag in der Früh.» – «Mein liebstes poetisches Männchen», sie wolle ihn nicht mit familiären Sorgen belasten, er habe an ihr «genug Nüsse» zu beissen. «Aber ich glaube, dass ich jetzt wieder vernünftig bin», ihr Pariser Aufenthalt sei mit «dem Leben einer jungen Klosternovizin» zu vergleichen. Sie sei sogar enttäuscht, dass man sich so wenig um sie kümmere, «aber es ist recht so. Ich kann in mich gehen, meine Sünden bereuen und mich nach dir sehnen! […] Ich bin so froh, dass ich dich hab. Ich weiss schon, wie gut das ist, auch wenn ich manchmal spinne. Ich bin jung und war nur einmal verliebt in meinem Leben, darum finde ich es noch reizvoll, wenn es sich wiederholt. Hätte ich deine Erfahrenheit, würde ich es nicht mehr beachten!»

«Mein Herz», schreibt sie im Herbst 1946 aus England, wo sie im Film «White Cradle Inn» spielt, in dem es um französische Kinder geht, die in den Kriegswirren ihre Eltern verloren haben, von Pflegeeltern in der Schweiz betreut werden – und nach Kriegsende zurück in ihre Heimat müssen. Sie gehe abends oft aus. «Aber ganz manierlich, nur keine Bange!» Dankbar ist sie um Heinrichs Vorschläge für einen Vertrag. «Du bist doch ein sehr kluges Männchen und ich habe recht gehabt, dich zu heiraten!» Er habe immer recht, sie werde weiterhin nur auf sein «hartes Urteil» hören – und hofft, er könne wieder mehr mit ihr arbeiten. «Ich will und muss eine gute Schauspielerin werden. Und wenn es gelingt, dann wird es zum grossen Teil dein Werk sein!» Nun, er kümmert sich gerade um die erkälteten Kinder. «Verlieb Dich nicht zu schnell, sonst ist Dein halb-knock-outes Männchen bald ausgepunktet. Aber ich freue mich irrsinnig, wenn bei Dir alles gut geht. […] Ciao, ciao, ciao, ich hab’ Dich lieb wie beim ersten Rendez-vous.» Manchmal ist er enttäuscht, gar traurig über sein etwas schreibfaules, mit Nachrichten persönlicher, um nicht zu sagen persönlichster Art «sehr, sehr – ja ungeheuer, zurückhaltendes Frauchen». Er melde ja jeden getrunkenen schwarzen Kaffee.

Wiederkehrend betont er, ihr Erfolg sei für ihn das Wichtigste, Erfreulichste. «Wen das eigene Leben nicht befriedigt, der geht im Leben der anderen auf!» Ihr geht es ähnlich: «Du weisst nicht, was es für mich bedeutet, wenn du gut dran bist.» Sie erliegt seinem «tyrannischen Charme», ergötzt sich an seinem Witz, staunt über seine «schriftstellerische Ader». Ist stolz, dass er sie immer noch «so gut» leiden mag. Und unterzeichnet wie oft mit der Rückenansicht eines Hasen. Sie freut sich über eine neue Rolle, weil sie «alles andere als Zuckerpüppchen» ist und sie sich als Charakterdarstellerin ausprobieren könne. Sie ängstigt sich um Heinrichs labile Gesundheit, sein schwaches Herz, seine «übermässige Belastung». Fragt nach den Kopfmassen der Kinder, um Mützen zu kaufen. Sie schildert gute Hotels, schlechte Hotels, Treffen mit Freunden, Kinobesuche, Sightseeingtouren. Es geht um Verträge, Honorare, Steuerfragen. Rollenstudium, Fototermine, Interviews, schlechte Kritiken, Bravorufe, leere und halb leere Säle. Sie klagt über miese Stimmung in gewissen Theatern, unfähige Regisseure, schlechte Proben. Vor allem über ihre Einsamkeit. Gegenseitig ermutigen und trösten sie sich – aus fast jedem Brief klingt die «grosse Sehnsucht» nach dem anderen. «Ich habe natürlich nach Dir Heimweh», klagt Heinrich – «ich habe, es ist grotesk, wenn ich das sage, auch Heimweh nach Dir, wenn ich bei Dir bin, weil das Leben uns auffrisst mit Pflichten und Nöten, sodass das ‹Für sich Sein› rar ist. Es müssten schon Ferien sein … Tage für uns, zeitlose, programmlose Tage der Zweisamkeit. Darnach habe ich oft Sehnsucht. Lieberes kann ich Dir nicht sagen. Es ist darin nach 7 Jahren alles enthalten, was seit dem ersten Tag mich an Dich band: Dass Du mir genug bist! Ich liebe Dich über Alles.»

Sie denke oft an ihn, auch wenn sie nicht viel «schreibe und flirte», schreibt Anne-Marie im August 1948. «Ich hoffe für dich und deine romantischen Venedig-Tage, dass du auch so eine seelenverwandte Jungfrau (ein- oder zweideutige!) gefunden hast, denn so allein am Meeresstrand zu sitzen scheint mir für dich nicht das richtige zu sein. […] Tausend liebste Küsse – ich sehne mich nach Dir! Grüss mir die süssesten Kinder Zürichs. Sie sollen ihre Rabenmutter nicht vergessen.» Die «Rabenmutter» ist auf Tournee, der Hausmann stolz auf die erste eigene Produktion seiner jungen Firma: «Grat am Himmel». Spektakuläre Aufnahmen einer 35-Millimeter-Kamera aus 4000 Metern Höhe. Die Zuschauerin erlebt die Traversierung des Mittellegi-Grates auf dem Weg zum Eiger aus der Sicht der Bergsteiger. Der Kurzfilm ist über die Schweizer Grenze hinaus erfolgreich. Dazu der erste Grossauftrag: tägliche Reportagen über die Olympischen Winterspiele 1948 in St. Moritz für BBC und NBC. Condor übt das Fliegen.

«Es geht schon gegen Mitternacht, aber ich muss Dir doch noch schnell schreiben.» Der Brief wird sechs Seiten lang. Heinrich erzählt von Peter-Christians Zeugnis, seinen Fähigkeiten; von Martin, der zwei Stunden lang Schiffe zeichnet und perfekt das Vaterunser beten kann, nicht ohne maliziöse Zwischenbemerkungen. Von der Haushälterin. «Frl. B ist unersetzlich. Was soll einmal werden, wenn sie nicht mehr da ist, frage ich mich oft. Unser Leben wäre mit jemand anderem in der jetzigen Form gar nicht realisierbar. […] Es waren zwei gute Tage – gestern Dein Anruf, heute Dein Expressbrief. Schimpf mich kindisch, glaube mir, ich weiss vielleicht zum ersten Mal, was die grosse, grosse, letzte Liebe für einen Menschen ist.» Das Paar denkt gerade über seine Beziehung nach. Anne-Marie ist mit Ibsens «Gespenster» auf einer ausgedehnten Tournee durch Holland. Sie ist 29, seit gut acht Jahren verheiratet. Er quäle sich unverhältnismässig, beruhigt sie ihren Mann: Sie könnte keine freundschaftliche Beziehung haben zu jemandem, der sich mit Absicht «zwischen uns» schalten würde. «Wir haben uns gut verstanden, haben gemeinsame Lektüren, er hat sich um mich gekümmert – und das alles wohl, weil er mich gerne hat, aber er hat nie daran gedacht, etwas zu fordern, was ich nicht von mir aus bereit wäre zu geben. Meine Zurückhaltung und die Rücksicht, die ich auf dich nahm, waren ja auch Dinge, die ihm besonders gefallen haben und die ihm sehr verständlich waren.» Sie habe sich sehr an ihn «attachiert», aber es sei kein Grund, «diese Affäre» zu dramatisieren, jedenfalls bitte nicht von «Platz räumen» reden und «Kugel durch den Kopf jagen». «Für mich steht fest, dass keine andere Lebensgemeinschaft besser sein könnte als mit dir. Was ich mit dir erlebt und aufgebaut habe, könnte ich nie abschütteln.»

 

Drei Tage später leuchtet im Hotelzimmer ein riesiger Rosenstrauss, «so rot, so rot» … Anne-Marie ist gerührt, hofft aber doch, er habe die Blumen in Amsterdam besorgen lassen, sie seien hier «4 mal billiger» als in der Schweiz. Sie redet ihm aus, den Fehler bei sich zu suchen, doch sie könne und wolle nicht jemanden vor den Kopf stossen, der «nichts Böses» getan habe. Die «schuldige Sünderin» mag sie nicht spielen. Sie brauche Zeit. Schreiben könne sie nicht darüber, alles sei zu kompliziert, zu verworren. «Gefühle, Empfindungen entstehen auf seltsame Art, man kann sie nicht so leicht analysieren, registrieren, ein- oder abstellen, wie man will, besonders wenn sie in einem Menschen entstehen, der so voller Widersprüche und Zwiespältigkeit ist, wie ich es bin. Das soll keine Entschuldigung sein, es ist aber auch kein leeres Gerede, es ist so.» So wie sie Theater spiele aus einer gewissen Intuition heraus, unfähig, dies mit genauen Worten zu umschreiben, so sei es in ihrem Leben. Sie würde nach ihrer Rückkehr mit Heini gern ein paar Tage nach Venedig fahren, als «kleiner Ausgleich für die lange Trennung».

Ein paar Tage später beruhigt sie ihn nochmals: «Ich habe eine Krise durchgemacht, die, glaube ich, nicht so ungeheuerlich ist, weil sie im menschlichen Leben sehr oft schon da war. Ich wollte und musste mich ganz klar und mit genauster Überlegung daraus herausarbeiten und … mit mir selbst ins Reine kommen, um dann dir gegenüber wieder so zu sein, wie ich war. Nun bin ich soweit und ich freue mich unendlich, bei dir zu sein und zu bleiben. […] Ich habe erkannt, dass du mein Mann bist mit allem, was dieses Wort in sich birgt.» Von Verzichten halte sie nichts, «ich musste aus freien Stücken, unbekümmert um deine mich beängstigende, bedrängende Stimmung dazukommen». Vielleicht dachte sie auch an ihr Versprechen anlässlich der kirchlichen Trauung: «Eine Scheidung wollen wir den Kindern einst ersparen und nicht beim ersten Knatsch auseinandergehen, sondern durchstehen, was durchzustehen ist.»

«Soeben kam Dein Brief aus Amsterdam», schreibt Heini. Aber auch dieser vermeide halt das Persönliche. Das stimme ihn nachdenklich, besorgt, traurig. Das schrecke Gefühle auf, das nage an seinem Selbstvertrauen. «Das ist auch das, was ich nicht verstehe, sofern die Dir am Telefon manchmal so (für mich beschämend) mühsam abgerungenen Zusicherungen stimmen.» Er könne sich nur wiederholen. Er habe nicht gewusst, dass der Sinn des Lebens letztendlich in einem Menschen ruhe. «Du warst stets für mich etwas Unantastbares, das für sich besteht, gross und fest», antwortet Anne-Marie. «Mein Begehren entsprang einer Schwäche, einem merkwürdigen, schicksalhaften Getriebensein, dessen unglücklichen Ausgang ich zwar stets vorausahnte, aber dem ich nicht ausweichen konnte und wollte. Ich wusste, dass ich dadurch leiden würde, aber innerlich spürte ich irgendwie, dass mich dieser Konflikt reifer machen würde. Das physische Moment ist von keiner so grossen Bedeutung gewesen, wie Du es glaubst, was dir schon unser glückliches Zusammensein im letzten Monat bewiesen haben sollte; eine solche Rückkehr meinerseits wäre ja sonst nicht möglich.» Sie habe gewusst, dass er kraft seiner Stärke siegen, auch verzeihen werde. «Lass uns zusammen weiterleben, es ist bestimmt das Richtige. […] Wir können ja doch nicht ohne einander leben.» Sie sorgt sich um seine Nerven, sein Herz. Der Gedanke, er sei ihretwegen krank geworden, würde sie endgültig «aus den Fugen» bringen. Sie sei ein Mensch mit «ganz guten alltäglichen Qualitäten», mit einer gewissen Energie auch, im Grunde aber schwach. In wichtigen Momenten versage sie. Ein Jahr später liest Anne-Marie ein paar Zeilen ohne Liebesbeteuerungen: «Es tut mir unendlich leid, dass dieser Brief noch geschrieben werden musste. Aber Klarheit muss endlich sein. Du hast die Pflicht Dich zu entscheiden, Heini.»

Es ist so, sie können ohne einander nicht leben. Anne-Marie verabschiedet sich wieder mit «1000 und aber 1000 Zärtlichkeiten für dich». Andere Sorgen beschäftigen sie. 1953 schreibt sie aus Berlin, am Vorabend ihres Geburtstags – «leider fast schon 34-jährig!», der morgige Tag stimme sie sentimental; «restlos glücklich» mache sie die Filmerei nicht und «das ganze Getue drumherum». – Alles an sich wunderbar und schön, berichtet sie drei Jahre später aus Wien, «ein herrlicher Sommeraufenthalt, bezahlt noch obendrein». Aber trotz ihres «Keepsmiling»: Sie ist beunruhigt, für die nächste Saison noch kein fixes Engagement zu haben. Sie seien doch eine verrückte Familie, schreibt Heini, «und am Ende des Lebens werden wir weder reich sein noch uns richtig kennen gelernt haben. Vielleicht sollten wir doch einmal etwas weniger arbeiten und ab und zu ein paar Wochen unabkömmlich sein. Ich könnte in nächster Zeit sicher ein paar Tage weg». Sie solle mit seinem Besuch rechnen und tue gut, «allfällige Ersatzmänner für später zu heuern». In einem anderen Brief bittet er sie: «Vergiss mich nicht inmitten der Kavaliere, ich bin auch einer und nicht der schlechteste. Meine Einsamkeit ist gross und nicht zu beheben, bis ich Dich wieder in meine Arme schliesse.» Seine vielen 100 000 Küsse zum Schluss ergeben eine Sextillion Küsse und «ein Streicheln übers ganze vielgeliebte Fell meines Häsekken von Deinem oft traurigen, immer daumenhaltenden Heini». Erschüttert stellt er fest, dass selbst im Freundeskreis ihre Arbeit nicht begriffen werde. Da glaube man, sie sollte nur Hauptrollen spielen. Was für «Banausenstandpunkte». Eigenart und Schwierigkeit, Schönheit und Einmaligkeit ihrer Berufe würden wohl nur Leute vom Fach verstehen. Er wisse, was das Erreichte bedeute, dass ihre Wege mühsam, aber stetig aufwärtsgingen. «Es ist nicht schade für Dich, in wenig künstlerischen Filmen zu spielen, es ist nicht schade, wenn ich Parkettfabrikationsfilme drehe – wichtig ist nur, dass wir das, was wir tun, gut machen und dabei viel lernen. Hab Mut in allem, was Du künstlerisch tust.»

Höchste Qualität, das fordert Heinrich Fueter selbst für Auftragsfilme. Er produziert Filme zur Technik, Industrie, Wissenschaft, Kunst. Zahlreiche medizinische Filme für das Chemieunternehmen J. R. Geigy AG. Werbefilme, Aufklärungsfilme, Schulungsfilme, Tonbildschauen. Fernsehfilme. Die Musik ist ein Markenzeichen der Condor-Produktionen, Heinrich Fueter lässt namhafte Musiker komponieren: Paul Burkhard, Rolf Liebermann, Rolf Langnese, Armin Schibler. 1970 entsteht «Le Corbusier» mit Musik von Iannis Xenakis, Architekt und Komponist, der von 1947 bis 1958 mit Corbusier zusammengearbeitet hat.

Leider habe sie in Frankfurt zwei heftige Verrisse bekommen, ärgert sich Anne-Marie. Sie spielt 1959 die Lady Milford in Schillers «Kabale und Liebe», inszeniert von Josef Gielen. Nach den Festspielen Innsbruck folgt eine Tournee durch Deutschland, Österreich, die Schweiz. Es ist frühmorgens, sie sitzt in eine Bettdecke gewickelt am Schreibtisch ihres Hotelzimmers in Hannover. Vielleicht sei sie nicht müde genug, vielleicht zu viel allein, vielleicht habe sie zu wenig zu tun, dass sie an sich selbst zweifle, sich frage, ob und wie es weitergehen werde. «Man überdenkt den Weg, den man gegangen ist, und stellt fest, dass er doch eigentlich mittelmässig war.» Es bestünden auch keine grossen Hoffnungen mehr auf einen «wirklichen Durchbruch». Andere, die sie für gleichwertig halte, seien weitergekommen. Vielleicht erkauft mit «Opfern privaten Charakters», was zur Erkenntnis führe, dass sie eben doch keine Vollblutschauspielerin sei, sondern nur eine talentierte kleine Bourgeoise. Mit zu viel Kritik an sich selbst, zu viel Klarheit, um sich und andere zu belügen, und zu wenig Rücksichtslosigkeit und Durchschlagskraft, «edle» Eigenschaften, in diesem Beruf nur hinderlich. «Man kann aber nicht aus seiner Haut heraus, weil man im Grunde weiss, dass man die Kraft zur Einsamkeit nicht hat … und so bleibt man mittelmässig.»

1961 zieht sie einmal mehr Fazit: «Es will mir nicht gelingen, die richtige Rolle am richtigen Ort mit sicherer Führung zu spielen! Das ist wohl der Tribut, den ich für mein sonstiges glückliches Leben zu zahlen habe.» – «Ich brauche vollwertige Aufgaben, sonst bin ich wie gelähmt.» – «Mit 40 war ich zu alt für jugendliche Rollen, zu jung als Charakterdarstellerin. So wurde ich zur Spezialistin für die betrogene Ehefrau.» Heinrich tröstet, ermuntert zu Experimenten, zu mehr Selbstverstrauen und Optimismus. «Hab gute Laune – erproben macht Spass, verjüngt.» Er stürze sich bewusst in Neues, «ohne Gewähr des Gelingens». Sie hingegen fragt sich, ob ihr Beruf wirklich so wichtig sei, um Mann und Kinder diesen Entbehrungen auszusetzen. «Aber du hast wohl recht: unsere getrennten Leben, unsere Berufe ermöglichen es, unseren Buben eine schöne Jugend zu bieten und andererseits bewahrt es uns davor, einander überdrüssig zu werden. Wahrscheinlich ist das der Sinn unseres gemeinsamen Lebensweges.» Heini, überzeugt, dass die berufliche Verbindung eine «ideale Lebensgemeinschaft» ermöglicht, findet die Trennungen zwar traurig, «aber ein bescheidener Tribut an ein sonst so grosses und wohl rares Glück». «Ich habe die mir liebste und mich am glücklich machenste (und das ist gar nicht so einfach!) Frau in Dir gefunden. Ich weiss nicht, was das Leben, ich ohne Dich, wäre, würde, geworden wäre.» Ihr «Nur-mir-Sein» bedeute ihm tausendmal mehr, als sie ahne. «Ich will für und um Dich kämpfen bis ans Ende der Welt, koste es was es wolle. Lass Dich lieb haben, mein Herz, in grösster Zartheit, in flammender Liebe, im Verstehen, im Verzeihen, in unserer ganzen unverbrüchlichen Freundschaft, für die ich mein Letztes gebe, aber auch Grosses fordere.»

«Wir versuchten immer, die Zeit, die wir füreinander reservierten, nicht mit Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten zu verschleudern», sagt Anne-Marie in einem Interview. Heinrich habe es verstanden, sie zu ersetzen, ohne sie je zu verdrängen. «Er verstand es, den Buben die Zufälligkeiten und Zwänge in meinem Beruf verständlich zu machen.» Ihre Familie sei «elastisch und anpassungsfähig». Mit «stark ausgeprägtem Familiensinn», ergänzt Peter-Christian, der älteste Sohn: «Beide kamen aus Familien, deren Eltern sich scheiden liessen, mein Vater und meine Mutter wollten das nicht.» Auch Martin Fueter betont: «Wir waren eine intakte Familie. Unser Haus war ständig voll von interessanten Leuten. Wir telefonierten dauernd, wir schrieben uns, und die ganze Familie fuhr an Mutters Premieren.» «Sie liess uns an ihrer Arbeit teilhaben», erinnert sich Daniel Fueter, der initiative Pianist, Komponist, Pädagoge, ehemalige Rektor der Hochschule Musik und Theater Zürich. «Wir haben oft mit ihr gespielt, wenn in einem Stück Kinder gebraucht wurden. Jeder von uns war einmal Walter, Tells Sohn in Schillers Stück.»

Heinrich Fueter engagiert sich für die Arbeit seiner Frau, hilft ihr, die Rollen zu entwickeln. Verpasst keine Hauptrobe. Macht sich im Dunkeln Notizen (Kugelschreiber mit Beleuchtung!). Registriert jedes Detail: ein Wort falsch ausgesprochen, ein Lächeln zu angestrengt, eine Kleiderfarbe unpassend … Bei Premieren fürchtet Anne-Marie sein Urteil mehr als das der Journalisten. Unermüdlich ermuntert er sein «tapferes, fleissiges Milein». – «Mach’s gut, sei bester Dinge beim Spiel, sei ganz wer Du sein musst. Verliebe Dich in die Darzustellende – sei sie!» – «Mach’s weiterhin so gut und so tapfer, Du Säule der Familie in deutschem Gau.» – «In aller Eile. Ich hatte eine ganz grosse Freude an der heutigen Probe. Du bist ganz ausgezeichnet – klug. Du weisst sehr genau, was Du spielst, was Du sagst! M. E. ist alles 100 % und wenn ich mir noch den Glanz der Premiere denke … Bravissimo!»

 

Ende 1961 hilft kein Bravissimo. «Liebstes Milein, tränenreiches, fernes Mädchen – so unselbständig scheinst Du plötzlich wieder, so unsicher. Aber, aber! Mit über 40 Jahren […] Weisst Du, in unseren Berufen muss man, wenn man den Beruf ausübt, einfach ‹ganz› sein, – ich meine, man muss seine Lösung finden und die letzte Überzeugung von dieser Richtigkeit muss über die Rampe springen, wird über die Rampe springen. Es ist wichtiger, in sich Geschlossenes zu leisten, als Eingetrichtertes, Angelerntes zu reproduzieren. […] Du bist nun über 20 Jahre am Theater und musst selbst wissen, was Du willst. Ich habe immer wieder den Eindruck, dass Du Dir die Personen in ihrem äusseren Gehabe und Wirkungen vorstellst, anstatt die Personen ‹in sich› zu erfassen und nur von da aus zu gestalten. Dann kann man nicht mehr anders sprechen, gehen, sitzen, hören usf., weil man dieser Mensch ist (ihn nicht imitiert, spielt usf.). Das sage ich seit Jahr und Tag, ich kann es nur wiederholen. Glaube ja nicht, ich sei ärgerlich, nein, nur betrübt, dass Du Dich gegen diese Binsenwahrheiten im Grunde doch immer wieder stellst und Rechtfertigungen für erwiesen Untaugliches und Unerfolgreiches vorträgst. […] Wenn ich dies schreibe, ist es einfach, weil ich weiss, dass Du es schaffen könntest, immer, aber dass es am ‹Zwick an der Geisel›, an innerster Spielleidenschaft und Konzentration des Sicheinlebens sehr oft einfach fehlt. Modische Details, Bewegungen … (ausstudiert, erdacht) beherrschen viel zu sehr Dein Rollenstudium. Das sind … die letzten Sorgen und Arbeiten.»

Misserfolge erlebt auch Heinrich. Anne-Marie tröstet: Er habe etwas aus eigener Kraft geschaffen, was ihm niemand so schnell nachmachen könne. «Ich bin zu fest von deinen aussergewöhnlichen Fähigkeiten überzeugt, als dass ich glauben könnte, dass deine Kurve nicht bald wieder aufsteigen wird.» Sie mahnt auch: «Gib nicht zu viel Geld aus, es genügt, dass ich es tue, der einzige Nachteil dieses an sich so herrlichen Hamburgs.» Sie hält ihren Mann gern zum Sparen an, er ermuntert sie präzise zum Gegenteil. Geld ist ihm nicht wichtig, Grosszügigkeit sehr. «Ende Februar», schreibt er im November 1961, «machen wir, wenn die Welt es erlaubt und Du nichts Verlockenderes hast, Ferien und geniessen die ‹erchrampfte› Freizeit […] Deine Anmerkung des ‹Verdienen-Müssens› darf nie der Impetus, die Basis der Entschlüsse sein. Wir schaffen’s auch sonst, schlimmstenfalls mit einigen Einschränkungen.» Trotz Arbeitslast pflegt Heinrich Fueter seine Lebenskunst in vielfältiger Weise: Konzerte, Theater, Essen mit Freunden, Gespräche bei Rotwein und Havanna-Zigarren.

Im Februar 1964 der erste Herzinfarkt. Er ist 53. Der 19-jährige Martin, seit ein paar Monaten Kameraassistent und Aufnahmeleiter bei Condor, übernimmt mehr Verantwortung. Heinrich zieht in sein geliebtes Engadin, nach St. Moritz. «Kulturstätten wirken auf mich immer irgendwie vorwurfsvoll», kommentiert er seinen Umzug, man werde sich bewusst, wie wenig man wisse. Die Landschaft hingegen stelle keinen übertriebenen Kulturanspruch. «Jetzt ist es dann an der Zeit, dass wir wieder zusammen sind!», teilt er seiner Gattin gegen Ende des Jahres mit. «Nun bist Du so nah gewesen und fährst schon wieder weit weg. Für die Zukunft muss man sich eine solche Tournée gründlichst überlegen, ob sie was einbringt, oder ob man sie fallen lässt. Unser gemeinsames Leben ist ja auch absehbar, das müssen wir wohl mehr bedenken.» Andererseits sei ein beruflicher Ausstieg auch problematisch, er sehe dies schon an seinem Teilausstieg und sei doch acht Jahre älter. Im Übrigen lebe er zurzeit wirklich «arztkonform». Es wäre «ganz furchtbar», sollte das Engadin nicht heilend wirken. «Was dann? Wo dann?»

Im November 1965 verliert er durch den Zusammenbruch der Aiutana Bank Ersparnisse und Firmenreserven. Erbschaftsgeschichten kommen dazu. Ein Filmprojekt endet als Scherbenhaufen. Zukunftsängste bedrängen ihn. Im Frühling 1966 lästert er über seinen Job, missratene Drehbücher aufzupolieren, Regisseure zu bezirzen, den technischen Leiter mit Samthandschuhen anzufassen, Verträge zu redigieren, Hoffnungen zu begraben. Er schildert nächtliches Herzklopfen, Schweissausbrüche – «und Denken, Denken, Denken». Dabei habe er sich zeitweise so gut gefühlt, dass ihm alle gesundheitlichen Befürchtungen übertrieben schienen. «Auf den langen Spaziergängen hatte ich weiss Gott Zeit, um eine Formel für mein eigenes und berufliches Leben zu finden.» Nun werde alles überschattet von depressiven Stimmungen, das stimme ihn «masslos traurig». «Aber Vernunft und Gemüt wandern eben verschiedene Wege.» Es sei schlimm, sich selbst wohl gar nicht so falsch einzuschätzen, aber aus sich und seinen Gedanken nicht ausbrechen zu können. Von der Firma nicht zu reden. «Alles, was ich sehe, ist halbbatzig und unkontrolliert. Die Leute merken rasch, wenn man nicht beisammen ist, oft nicht mehr mag, aber auch öfters einfach nicht (mehr) kann. Dazu muss man nach Aussen diese verfluchte, bewunderte Aktivität noch einigen Blinden und Halbblinden vorzutäuschen versuchen.»

Im Herbst 1966 liegt Heinrich Fueter erneut auf der Intensivstation des Zürcher Waidspitals. Der zweite Herzinfarkt. «Frühstück in der Notfallstation 06.00, Mittagessen 11 Uhr, Nachtessen 17 Uhr. Abend und Nacht endlos. Ein milder, geistig harmloser Schnarcher hat dem armen ‹Lärmer› Platz gemacht. Wir glauben, dass er gestern verstorben ist. Denn es sind Blumengebinde mit Schleifen gekommen …» Regie- und Requisitenfehler gebe es auch hier. «Axel muss im Laden nur richtig und genau bestellen! Ich meine, die Lilien besser ohne Schleife ‹Letzter Gruss›. […] Ich bin schon etwas down, so lieb sie auch alle zu mir sind […] Du hast hinter meinem … Rücken mit dem Professor telefoniert … er erkundigte sich nach meiner Psyche. Aber, aber, ich berichte Dir doch alles – ist mir doch zur Zeit der Beichtstuhl näher als der Rennsattel. Nicht einmal zum Flachrennen reicht’s.» Peter-Christian bricht sein Studium der Theaterwissenschaft ab, verzichtet zugunsten des väterlichen Unternehmens auf einen eigenen Weg und wird sich für den Spielfilm engagieren: 1976 für «Riedland» von Wilfried Bolliger nach dem Roman von Kurt Guggenheim, 1977 für «Violanta» von Daniel Schmid nach der Erzählung «Die Henkerin» von C. F. Meyer.

«Meine ferne Geliebte, aller guten Dinge sind 3! Da liege ich also wieder in diesem Wachraum», meldet er 1969 – und schildert auf gelben Condor-Nachrichtenzetteln den Nachbarn, die Geräusche, die Massnahmen. Alles Übrige wie in einer «bestgeführten, alten Familienpension». «Nur bekannte Gesichter, viel Sympathie und Lächeln und Lachen, ein organisiertes Kommen und Gehen, messen und kontrollieren, Pülverchen schlucken, stechen und einstellen. Alles wie gehabt! Mit einer etwas resignierten Apathie lässt man es geschehen.» Er habe sich so sehr aufs Engadin in dessen Herbstfarben gefreut, und mit der Arbeit wäre er «leidlich à jour» gewesen. – «Schon ist’s der 3. Tag und ich hab’ das Gefühl, dass der Wachraum noch ein wenig mein Stammquartier bleibt. […] Der Zimmerkollege wurde ausgetauscht – ich glaube, er ist dem Sargdepot näher gelagert worden. Jetzt schnarcht ein Herr Gross weiter nach dem 1. Infarkt – ein Anfänger also.» Draussen lichte sich über den Schrebergärten der Himmel. Aber die flammende Pracht des Engadins habe hier Mittelstandsniveau. Er fühle sich «behaglich verwöhnt». Alkohol werde vorläufig gelagert, «also sind Kranzspenden noch nicht erbeten».