Za darmo

Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig: Eine Novelle

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Die Wärter rissen ihn fort. Lange noch hörte ich ihn heiser lamentieren: „Kan heiln Vatta!“

Vor der Türe meines Zimmers, das abseits lag und vor dem der Gang durch ein Gatter abgeteilt war, verließ mich der Wachtposten und fing an, eintönigen Schrittes auf und ab zu patrouillieren.

Wollte ich ein Bedürfnis verrichten, nahm er mich wieder in Empfang, führte mich zum Retirat und wartete vor dem Eingang.

Auf der offenen Latrine saßen im Kreis die Männer und verrichteten ihre Notdurft.

War das möglich? So oft bin ich in den Kasernen an den Mannschafts-Aborten vorübergegangen und hatte das nicht bemerkt. Alles mit Allen teilen, Mahlzeit, Schlafraum, und selbst dies hier offen verrichten müssen, welch’ eine Entwürdigung des Lebens! – Und Sinaïda? – Auch sie war in den Gefängnissen Rußlands gewesen!

Wo ist sie? Lebt sie? Oder liegt ihre geheimnisvoll geliebte Gestalt in irgend einer schäbigen Totenkammer? Vielleicht gar auf Eis, denn solche Leichen kommen auf die Anatomie, in die Menschenlatrine der Großstädte.

O, ich war voll Stolz, während ich solches dachte!

Was ist denn der Tod? Ich bestehe auf ihn. Ich lasse mich nicht von ihr, von niemandem lasse ich mich beschämen. Und jetzt! Jetzt wollen sie mich um den Tod bringen, mich zu einem Verbrecher dritter Klasse, zu einem Besoffenen, zu einem Exzedenten degradieren! – Ich lasse mich aber nicht betrügen.

Nicht mehr will ich als ein Schulbub vor den Vater treten, als ein Kadettlein, das für jede Ohrfeige erreichbar ist, ja zu dem er sich noch niederbeugen muß, um ihm die Tachtel zu versetzen. Nein, meinen Kopf soll er gar nicht sehen, so hoch wird der in den Wolken stecken! Ich will gestehen und sterben! Ich bin bereit!

Der Hauptmannrechnungsführer war des Morgens schon aus dem Zimmer weggebracht worden. Nun gehörte der große Raum mir ganz allein. Der Arzt hatte heute sich recht lange mit mir befaßt, den Schädel abgetastet, meine Augen, meine Kniereflexe untersucht und am Schluß die Frage gestellt, ob ich durch keine Magenübelkeiten gequält werde, nicht Ohrensausen und Gesichtsstörungen verspüre? Nein, nein! Dies alles nicht! Im Gegenteil! Meine Beine schlenkerten und tanzten in den Gelenken. Ich fühlte mich leicht, göttlich leicht! – Und dann dieser neue, nie gekannte Enthusiasmus in meiner Seele. Den aber verschwieg ich klüglich dem Doktor. Ich allein genoß ja diese Erhabenheit, diese Stromschnelle der Gedanken. Immer ging ich auf und ab, und es waren Wolken, auf denen ich ging.

Ich werde ihm gegenüberstehen und die Wahrheit sagen. Was ist Wahrheit, fragt wohl Pilatus. Ich aber weiß wenigstens, was die Wahrheit ist, für die ich sterben will. Ach, nicht das, was alle Menschen glauben werden. Kein kleines Geständnis, etwa, daß man den Zaren ermorden wollte, oder die tote Sinaïda liebt. (Ist sie tot? O Gott!) Anders ist meine Wahrheit.

Ich werde diesem General, diesem Vater sagen… Was denn?

Nun, die Wahrheit.

Ich werde solche Sätze zu ihm sprechen: Der Himmel ist blau. Schwalben schießen durch die Luft: Nachtfalter fliegen ins Licht. – — Das sind meine Wahrheiten, und wer sie erkennt, muß sich ja auf die Erde werfen vor zielloser Liebe.

Ja, ihr habt mich alle verstoßen, weil ich häßlich bin und ein recht mittelmäßiger Offizier, da hielt ich mich an die Gaststube der Frau Koppelmann und überließ mich der Führung eines Taubstummen. Und ich trat unter die Lumpen, die Opiumraucher und die Heiligen.

Das tat ich, weil es mir nicht gefiel, am Sonntag mit meinem Herrn Vater auszureiten, mit ihm, der mich immer so böse traktiert hat, wenn ich vor ihm beweisen wollte, daß auch ich Wer bin! Und nun soll er selbst krank sein!

Aber gleichviel!

Die Lumpen und Heiligen, sie sind ein durchsichtiger Nebel für mich, und jetzt sehe ich hinter diesem Opiumrauch überwältigt die geschaffene Welt.

Ja, ich sehe sie, die Wahrheiten, für die ich sterben will:

Der Himmel ist blau! Die Schwalbe fliegt. Nichts anderes will ich ihm sagen. Er aber wird sich wehren:

„Die Schwalbe fliegt,“ sage ich.

Er schreit den Adjutanten an:

„Bringen sie den Akt Nr. so und soviel!“

Aber meine Wahrheit wird die Akten und Dienststücke von seinem Tisch fegen, und ich werde siegen – siegen!

Traumlos und schwer schlief ich auch diese Nacht.

Am frühen Morgen des nächsten Tages (es war der dreißigste Mai) ahnte ich schon, daß ich in wenigen Stunden vor meinem Vater stehen würde.

Ich putzte mir die Knöpfe blank, bürstete meine Stiefel und verwendete große Sorgfalt auf meinen Anzug.

Eine große Ruhe hatte sich meiner bemächtigt.

Noch immer war ich fest entschlossen, „die Wahrheit zu sagen“, – jene Wahrheit, unter der ich mir selbst nichts Bestimmtes dachte.

Aber ich war voll Hoffnung. Heute mußte mich der Vater verstehen, dessen war ich sicher; ich fühlte mein Wesen von einer seltsamen Würde verklärt, gegen die auch er ohnmächtig sein würde.

Wie jung und unmündig war doch diese alte Existenz, diese recht steifbeinige Exzellenz, mein Vater?

Immer nur in Kanzleien sitzen, an der Tête reiten, Front abschreiten, Defilierung rechts, nachlässig den gebogenen Zeigefinger an die Kappe heben, Untergebene abkanzeln, Vorgesetzten stramm den Vortritt lassen, Sporenklappern, Hackenklappen, Zigaretten rauchen, – ist das Leben?

Und ich?

Ich bin an der Queue marschiert, ich habe den Troß erlebt, Antlitz und Schritt Sinaïdas, ich bin in Katastrophen gestanden!

O, um ein Weltalter war ich älter als der Vater, dieser Abkömmling einer primitiven Zeit, dieser Berufssoldat comme il faut, diese Blase, aufgeworfen vom militärischen Reglement.

Man sagt, daß die Welt altert, daß die Zeit immer älter wird! Und die Väter, Geschöpfe der Welt und Zeit, die noch jünger, ungealterter ist, gelten für älter als die Söhne, die einer schon gealterten Welt und Zeit entstammen.

Das Alter der Person und das Alter des Universums steht also in einem merkwürdigen Widerspruch.

Wie alt bin ich doch mit meinen fünfundzwanzig Jahren! Und gerade deshalb! Meiner höheren Gereiftheit wird er nicht widerstehen können.

Die Katastrophe verwandelt sich in ein Versöhnungsfest, trotz alledem – und dann, dann habe ich meinen Frieden mit der Welt gemacht und will den Tod des Königsmörders sterben, ihr nicht mehr nachhinken, werde alles gestehen, alle Vorbereitungen, die Bombe vorweisen......

Ein Offizier holte mich ab.

„Herr Leutnant, machen Sie sich fertig! Wir müssen zum Korpskommando fahren, auf Befehl Seiner Exzellenz, Ihres Herrn Vaters!“

Trotz der Hoheit, die ich über mir ruhen fühlte, schrak ich wild zusammen.

Das Wort „Befehl“ hätte mich fast vergiftet. Der bittere Geschmack meiner Kindheit war mir im Mund. Fassung! Ich hätte mir gewünscht, gefesselt zu sein! Statt dessen salutierten mir auf Gängen und Stiegen alle Soldaten mit schroff erschrockenen Rucken.

In der rumpelnden Droschke ergriff mich plötzlich Unbehagen. Wie wenig paßte doch diese Uniform zu mir! Und warum hatte ich dunkelbraunes Haar? Glatte, blonde Strähnen gebührten mir, ein Havelock von Kamelhaar, Sandalen, kurz die Kleidung, wie sie die Naturmenschen, die Vegetarianer, die Wüstenpropheten und die ganz Befreiten tragen, die licht erhobenen Auges ruhig das Gerassel und Getümmel der großen Plätze überqueren.

Wir waren angekommen und stiegen aus. Ich machte lange, langsame Schritte, als würde eine Kutte mir um die Knie schlagen! Mein Begleiter sah mich von der Seite wie einen Verrückten an.

Das Haus quirlte von Geschäftigkeit.

Angstgepeitscht liefen Unteroffiziere auf und ab, eilten durch die langen Korridore, klopften an mächtige Türen mit nichtig devoten Fingern. Offiziere schimpften wie immer, Posten schritten übernächtig und mit nüchternem Magen in den Höfen auf und nieder.

Mir war’s, als müßte ich sie alle, alle zu mir rufen, denn mein Amt war es ja, Versöhnung zu bringen. Wenn ich dieses Haus verlassen werde, wird keiner mehr haßerfüllt verhaßten Befehlen gehorchen, keiner mehr auf offener Latrine sitzen müssen.

Der Offizier stieß mich an: „So salutieren Sie doch!“

Ich hatte einen vorübergehenden Major nicht gegrüßt.

„Auch das wird aufhören,“ sagte ich.

Der Offizier starrte mich entsetzt an, dann wandte er hoffnungslos den Kopf ab.

Wir mußten sehr lange warten.

Drei Tage hatte ich fast nichts gegessen. Mein Leib war wie ohne Materie, ein Schweben fast, eine Lauterkeit, die mir Freude machte. Mir fiel Beschitzers Ausspruch ein:

„Alle Angst ist Irrtum.“

Ich wiederholte diesen Satz immer wieder, denn irgendwo in einer antipodischen Landschaft meiner Selbst war ein Rest von lauernder Unruhe übriggeblieben.

Dennoch! Ich war bereit, mochte kommen, was da wollte. Für mein Gefühl – das ist keine Floskel – hing das Schicksal der Menschen von dieser Stunde ab.

Plötzlich aber wurde mein Kopf übermäßig klar.

Der Adjutant kam, grüßte kurz, richtete einige Worte an meinen Begleiter, der sich entfernte, – und ich stand im Zimmer meines Vaters.

Er saß an seinem Schreibtisch und schien zu arbeiten. Zwei Stabsoffiziere hatten sich hinter ihm postiert, kurz auf seine Fragen zu antworten, die er noch lange nicht unterbrach.

Ich verschränkte die Arme auf den Rücken, wie es Gelehrte tun, senkte den Kopf und wollte langen und langsamen Schrittes vorwärts gehen.

Der Adjutant hielt mich am Arm fest und deutete auf eine Stelle nahe der Türe:

„Nein! Hier bitte!“

Er zischte das.

„Nur keine Umstände,“ glaubte ich zu sagen, aber ich sagte nichts.

Weitschweifig drückte der General seine Zigarette aus und erhob sich.

Er war bräunlich, trotz der apoplektisch violetten Flecken auf seinem Gesicht; schien schlecht geschlafen zu haben. Die Hand, in der er die Reitgerte hielt, zitterte.

 

Ich stellte mit Absicht einen Fuß vor den andern und machte keine Meldung.

Der General stand vor mir, wartete und gab es dann mit einem bösen Verkneifen der Augen auf.

Jetzt stemmte er die Faust in die Hüfte:

„Leutnant Duschek! Sie sind ein Schandfleck der Armee!“

Ich dachte vor mich hin: Sinaïda! Mein Mund war offen, und ich fühlte fast ein Lächeln.

„Lachen Sie nicht, lachen Sie nicht!“

Es war eine dumpfe, kaum beherrschte Stimme, die das sprach. Ich sah, wie die Hand mit der Gerte zitterte. Der General holte schwer Atem. Sein Schnurrbart war glänzend aufgefärbt, aber sein Scheitel nicht so ordentlich wie sonst.

„Leutnant Duschek,“ – die gleiche merkwürdig unsitzende Stimme – „beantworten Sie mir folgende Fragen:

Haben Sie mit sub-ver-siven Individuen verkehrt?“

„Diese subversiven Individuen sind heilige Menschen. Ich habe mit ihnen verkehrt.“

Der General schluckte mehrmals. Jetzt zitterte auch seine andere Hand. Er wandte sich um. Die beiden goldenen Krägen kamen auf Zehenspitzen näher. Endlich hatte er sich von meiner Antwort erholt. Wieder diese Stimme, so ganz und gar ungewohnt!

„Sie leugnen nicht. Gut! Weiter! Haben Sie in betrunkenem – Zustand – den Befehlen eines Höheren, des Herrn Majors Krkonosch Widerstand geleistet? Antworten Sie!“

„Ich habe vollkommen nüchternen Bewußtseins vor einem bübischen Überfall Menschen geschützt, die dieses Schutzes wert waren. Den Anführer dieses Überfalls, mag es Herr Krkonosch oder ein anderer gewesen sein, kannte ich nicht!“

Der General schlug mit dem Fuß einen unheimlichen Takt und beschaute sehr lange seine Fingerspitzen. Als er wieder aufsah, war sein Gesicht in das eines Schwerkranken verwandelt.

„Gut! Auch das leugnen Sie nicht. Nun, die letzte Frage: Gestehen Sie, an einem Höheren, eben dem Herrn Major Krkonosch sich tätlich vergriffen zu haben?“

„Ja! Ich habe diese Handlung in einem Augenblick der äußersten Erbitterung begangen, denn durch den Überfall dieses Mannes kam es zu einer Schießerei, bei der – vielleicht, – Blut geflossen ist!“

„Leutnant Duschek, Sie bekennen sich hier drei schwerer Verbrechen gegen den allerhöchsten Dienst schuldig!“

Ich richtete mich auf. Jetzt wollte ich die große „Wahrheit“ sagen:

„Vater!“

Der General trat einen Schritt zurück; dieses Wort erst hatte ihn um die ganze Fassung gebracht. Er herrschte mich an:

„Was soll das?“

Jetzt hatte ich schon meine wachsende Gehässigkeit zu überwinden. Warum schickte er die zwei Tröpfe dort nicht weg? Nochmals:

„Vater!“

Auf einmal war der General ganz kalt und ruhig. Die Gerte zitterte nicht mehr.

„Im allerhöchsten Dienst gibt es nur Dienstes-, keine Verwandtschaftsgrade.“

Allerhöchster Dienst! Allerhöchster Dienst! Dieses Wort kroch mit tausend Würmern durch meine Seele. Ach, ich verstand ihn! Jetzt hatte er sich wieder in seine Rolle gefunden. Jetzt wieder war er der starre Römer und Spartaner, den zeitlebens zu spielen so bequem war. Haß fraß sich in mir weiter und weiter. Dennoch zum drittenmal, doch sehr leise, sehr leise:

„Vater!“

Nun aber hatte er wieder Oberwasser. Der Schreck von vorhin war aus seinem Gesichte gewichen, das seine alte Maske annahm. Gemessen und von der Ferne des Polarsterns schnarrte er mit den unklaren Vokalen der militärischen Sprechart:

„Leutnant Duschek! Ich befehle Ihnen im Namen des allerhöchsten Dienstes, diese Ausdrucksweise zu unterlassen!“

Zertreten, besiegt, wie immer! Es schlug über mir zusammen. Speichel war Gift, jede Haarwurzel Wunde. Ich sah in eine von gelben Kreisen durchtanzte Finsternis.

Mit aller Kraft schrie ich:

„Ich scheiße auf deinen allerhöchsten Dienst!“

Der General taumelte zurück. Die beiden Majore stützten ihn. Er fand keinen Atem, stieß einen unsagbaren Laut aus. Plötzlich stürzt er sich auf mich. Ich sehe nicht mehr das Gesicht eines kaltsinnig beherrschten Truppenführers, ich sehe das schmerzverzerrte Gesicht eines geschlagenen Vaters, ich sehe mehr noch, jetzt....

In diesem Augenblick traf mich breit über die Backe, dicht unterm Auge, der Hieb seiner Reitpeitsche!

Das erste war, daß ich sinnlos vor Schmerz die Hände vors Gesicht hob. Nach und nach, wie sich das Blut in die zerrissenen und gequetschten Gewebe wieder ergoß, verwandelte sich der unerträglich beißende Schmerz in ein etwas erträglicheres Brennen und Glühen. Besinnung kam und mit ihr grenzenlos die Wut.

Der General hatte die Gerte fallen lassen. Er keuchte und bohrte beide Fäuste gegen das Herz. Es schien ihn ein Krampf gepackt zu haben.

Ich sah das, wurde ganz kalt, schützte meine Wange mit dem Taschentuch und verließ, von keinem gehindert, Zimmer und Haus.

Auf der Straße straff ausschreitend, wie bei der Parade:

„Wenn nur niemand das Schandmal auf meinem Gesicht sieht! Übrigens ist das gleichgültig! Aber jetzt, zum erstenmal im Leben, bin ich Offizier! Offizier! Ja, Offizier! Ich muß Genugtuung haben. Ich werde mich mit ihm schlagen, mag auch die Welt drüber verrückt werden! Mein Gesicht brennt! Meine Wange brennt! Ist, was ich vorhabe, der richtige Weg? Ich weiß es nicht! Nur kalte und klare Entschlossenheit!“

Stumpfsinnig verfolgten mich diese letzten Worte ununterbrochen: Kalte und klare Entschlossenheit. Der Schmerz peinigte. Kein Gedanke!

Ich stand auf der Landstraße, die längs des Stromes führt. Weit draußen, fast in der Nähe jenes Hauses. Ich mußte besinnungslos eine Stunde lang und mehr gewandert sein. Wie kam ich hierher?

„Kalte und klare Entschlossenheit“ befahl ich mir selbst. Wo hatte ich diese Phrase nur gelernt? Ah! Ich sah einen schon wackligen Major auf dem Katheder hin- und hergehen. Mit einem Stock zeigt er auf die Tafel, auf der Vierecke, Rechtecke, Wellenlinien gemalt sind. Er skandiert scharf: Kalte und klare Entschlossenheit, I—ni—ti—a—tive!

Ich kehrte zur Stadt zurück und ging, ohne Angst, verhaftet zu werden, in mein Hotel.

„Ob jemand nach mir gefragt habe?“

„Nein, die ganzen Tage hat niemand nach dem Herrn Leutnant gefragt und auch kein Brief ist angekommen.“

„Aber Herr Leutnant,“ rief der Portier ganz entsetzt, „Herr Leutnant haben den Säbel vergessen, können leicht einen Anstand haben.“

„Ich weiß. Schon gut!“

Ich preßte das Taschentuch an die Wange.

„Hören Sie einmal, Portier! Können Sie mir sofort einen Zivilanzug verschaffen? Aber in einer halben Stunde spätestens muß er hier sein!“

Das ließe sich machen. Ich solle nur auf mein Zimmer gehen und mich gedulden!

Warum ich Zivil anziehen wollte, wußte ich nicht bestimmt, jedenfalls fühlte ich, das wäre der erste Entschluß meiner „Initiative“!

Ich schaute in den Spiegel. Meine Backe war geschwollen. Blutunterlaufen in allen Farben zog unterm Auge der lange Hieb der Reitgerte. Im Tobsuchtsanfall warf ich den Alaunstein gegen den Spiegel, der ein großes Loch davontrug, von dem nach allen Seiten hundert Radien ausgingen.

Endlich brachte der Portier den geliehenen Anzug. Er paßte ganz gut. Für einen Augenblick vergaß ich alles und drehte mich um mich selbst. Ich gefiel mir. Nur mit dem Hemdkragen hatte es seine Not. Alle waren zu niedrig und zu weit für meinen langen Hals. Ich band deshalb einen Shawl um und ging auf die Straße, um ein Modewarengeschäft zu suchen. Dort wollte ich mir den richtigen Kragen kaufen.

Nur ruhig! Das Notwendige wird sich schon finden!

Ich trat in einen Laden.

„Haben Sie sehr hohe Stehkragen?“

Die Verkäuferin breitete eine Menge Kragen vor mir aus.

„Hier wäre die Marke „Kainz“, Stehumlegekragen. Sehr schick.“

„Nein, der ist zu niedrig.“

„Hier die Marke „Dandy“, Stehkragen mit englischen Ecken; wird sehr viel verlangt.“

„Der Kragen, den ich brauche, muß noch höher sein.“

„Noch höher? Bitte! Da hätten wir diese Marke! „Globetrotter.“ Sehr fein und elegant. Nur für Kavaliere.“

Auch der paßte nicht.

Plötzlich sah ich an der Wand des Ladens ein Reklameplakat: Ein alter, lachender Herr hält zwischen zwei koketten Fingern einen großen Knopf, auf den er einladend mit der Hand deutet. Sein Hals steckt in einem riesigen Kragen, der ihm bis über die Ohren reicht und vorne weit ausgeschnitten ist.

Ich zeigte auf das Plakat:

„Sehen Sie, so einen Kragen möchte ich haben!“

Das Fräulein lachte:

„Solche Kragen haben die Herren vor hundert Jahren getragen. Das sind doch sogenannte Vatermörder!“

Von diesem Augenblick an kam eine gewisse dumpfe Besonnenheit über mich, als wüßte ich, was zu tun wäre.

Ehe ich mit irgend einem Kragen, den ich gekauft hatte, den Laden verließ, verlangte ich noch einen Trauerflor und ließ mir den gleich um den Arm heften.

Warum ich das tat? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß mir unendlich wehe und heimatlos ums Herz war.

Ich kehrte ins Hotel zurück und vollendete meinen Anzug. Dann erkundigte ich mich nach Herrn Seebär.

Es hieß, er wäre zwei Tage ausgeblieben, heute morgen aber für einen Augenblick im Hotel aufgetaucht und sogleich zur Arbeit gegangen.

Jetzt erst fiel mir Sinaïda ein. Vielleicht ist sie gar nicht tot. Beschitzer hat ihren Namen ausgestrichen. Dafür gibt es manchen Grund. Sie lebt gewiß. Und er, vielleicht ist er nichts als ein alter Träumer, der die Welt nicht kennt. Und doch! Welche mächtige Organisation hat dieser Träumer hinter sich, da es ihm gelungen ist, jenen Zettel in mein Brot backen zu lassen. Also muß er in Verbindung mit der ärarischen Bäckerei stehen, muß einen Mann haben, der dieses eine Brot von der Pyramide wegstiehlt, zum Garnisonspital bringt und dort dem Wärter übergibt, der auch mit im Spiele sein muß.

Aber die Zarenreise? War sie Wahrheit, war sie Phantasterei verhungerter Gehirne?

Lebt Sinaïda? Ist sie denn überhaupt zu Boden gesunken? Nein! Das habe ich nicht gesehen. Sie lebt!

Aber wie ferne war mir dies alles. Habe ich sie denn jemals im Leben gesehen? War ich jemals mit Russen, Spielern, Opiumrauchern beisammen gewesen? Wer weiß? Ich habe schon ganz andere Dinge geträumt.

Russen, Spieler, Opiumraucher – das hatte ich doch schon einmal geträumt! Aber ganz gewiß. Und der Schlitzäugige! Auch von ihm hatte ich geträumt. Sicherlich! Wann? Gleichviel!

Sinaïda lebt, oder – hat überhaupt niemals gelebt. Wie wenig aber bedeutet das für mich, hatte ich doch eine Aufgabe, eine wichtige, endgültige Aufgabe ganz andrer Art, denn meine Wange brannte, brannte!

Ich trat in ein Restaurant, um mich zu stärken. Kaum aber hatte ich ein Paar Löffel Suppe zu mir genommen, mußte ich hinaus und mich übergeben!

So also ging es nicht. Gott war streng und forderte das Gelübde der Enthaltsamkeit von mir, bis ich’s vollbracht haben würde.

Ich trieb mich wieder in den Straßen umher. Noch war die Zeit nicht gekommen. Wenn ein höherer Offizier mir begegnete, fuhr ich mit meiner Hand empor, um zu salutieren und nestelte dann verlegen an der Krämpe meines steifen Hutes.

Endlich, endlich! Von irgend einem Turm schlug es fünf Uhr.

Was das für ein vornehmes Viertel war, in dem mein Vater wohnte! Und ich? Pfui Teufel! Ich habe mir in meinem ganzen Leben kaum zweimal Bücher und Noten kaufen dürfen. (Herrgott! Ich bin der Leihbibliothek noch Geld schuldig!) Und mit dem Sattessen ist es auch nicht weit her. Selbst als Kind, als Kadettenschüler, Sonntags vom häuslichen Tisch stand ich hungrig auf. Wie gerne hätte ich ein Stückchen Fleisch noch auf den Teller gelegt, oder gar einen Kolatschen, eine Buchtel! Vielleicht auch würde es mir die Mutter nicht verwehrt haben. Aber ich war so bescheiden, so feige bescheiden!

Bitterkeit!

Ach, was hatte das alles zu bedeuten? War doch der Tag gekommen.

– Einst wird kommen der Tag —

Ist das nicht der schönste Vers aus dem ganzen Homer? Dreizehn Jahre bin ich alt gewesen, als ich über diesen einzigen Vers Tränen unverständlicher Wonne vergoß.

Ich mußte stehen bleiben:

„Leb wohl, alle Schönheit dieser Welt!“

Eine halbe Stunde ging ich vor dem Haus, das eins der schönsten des ganzen Gesandtschaftsviertels war, auf und ab. Dann trat ich in die Portierloge.

„Ist die Generalin zu Hause?“

Der Mann in Livree hochherrschaftlich, backenbärtig, legte langsam die Brille auf die Zeitung, wurde vornehm:

„Ihre Exzellenz sind heute morgen abgereist!“

„Und mein Vater ist auch nicht zu Hause?“

Der alte Lakai machte zuerst ein dummes Gesicht, dann erhob er sich schnell, knickig, lächelte untertänigst, stammelte:

„Euer Gnaden bitte gnädigst zu verzeihen! Kompliment! Gehorsamster Diener! Habe nicht gleich erkannt. Seine Exzellenz sind ausgefahren, kommen immer erst gegen Abend zurück. Bitte schön, bitte sehr…!“

 

Ich stieg die breite Treppe hinauf.

Der Bursche des Generals öffnete mir.

„Ich werde hier auf meinen Vater warten. Führen Sie mich weiter!“

Der Bursche, starr erstaunten Gesichts, ließ mich in einem großen Zimmer allein.

In der Mitte des sehr weiten Raumes stand ein Billardtisch mit einem Schutzüberwurf von grüner Leinwand, am Fenster aber ein Mignonflügel.

Neben dem Klavier in einem Schragen häuften sich Klavierauszüge von Operetten und Notenheftchen mit den Schlagern dieses Jahrs. Meine Stiefmutter! Ich fühlte eine Grimasse auf meinem Gesicht.

Das Nebenzimmer, dessen Tür offen stand, war ein kleiner Rauchsalon. Von hier führte ein offener, von Portieren flankierter Eingang in das Schlafzimmer meines Vaters, das schon für die Nacht in Ordnung gebracht war. Ich sah das aufgeschlagene Bett. So deutlich war dieser Raum vom Billardzimmer sichtbar.

Ich wartete lange, dann rief ich den Offiziersburschen:

„Hören Sie, ich kann nicht mehr länger bleiben. Richten Sie ihm aus, daß ich hier gewesen bin und morgen wiederkomme!“

Ich ging in den Vorsaal. Der Diener folgte mir.

„Wie bringe ich den nur fort?“

Es fiel mir ein, meine Schuhbänder fester zu schnüren. Während dessen rief ich über die Schulter:

„Sie können an Ihre Beschäftigung gehen.“

Er verschwand.

Sogleich schlich ich mich auf den Zehen in das Billardzimmer zurück, wo ich mich nach einem Versteck umsah. Ich tastete die Wand entlang, um eine Tapetentüre, einen Wandschrank zu entdecken, dabei stieß ich, ich weiß nicht wie, mit der hoch ausgestreckten Hand gegen eine Etagere – der Nagel löste sich – und mit ungeheurem Gepolter fiel das Gestelle und alles, was darauf stand, zu Boden.

Hochauf horchte ich. Eine Sekunde, zwei Sekunden, eine Minute, zwei Minuten, fünf Minuten .... es rührte sich nichts. Niemand hatte den Lärm gehört. Ich begriff sofort, daß Dienerzimmer und Küche sehr weit entfernt, vielleicht in einem anderen Stockwerk sich befinden mußten.

Ich ging daran, die Etagere zur Seite zu schaffen und die Gegenstände aufzuklauben.

Billardkugeln! Zwei hatten sich unter die Möbel verrollt, die dritte, rote, hielt ich mit einem merkwürdigen Grauen in der Hand.

Warum?

Heute weiß ich es.

Sonst lagen noch gerahmte und ungerahmte Photographien auf der Erde, lauter unbekannte Menschen in Parade, Frack, Balltoilette, herausfordernde Gesichter, verächtlich auf mich gerichtet.

Da aber war noch eine Photographie.

Ein Kadett, nicht älter als dreizehn Jahre, die rechte Hand auf ein Geländer stützend, wie auf Befehl, das verängstigte Gesicht schief hinaufgedreht.

Mystischer Schreck!

Lebte der noch immer, wollte er denn nie und nimmer tot, begraben, vorbei sein? Dieser Kinderleichnam, warum schied er nicht aus meinem Blut? Mein Gott! Ich zerriß das Bild. Mein Herz brach fast dabei.

Er, der Vater, hatte es nicht unterlassen, diese Siegestrophäe in seinem Zimmer aufzustellen.

Noch etwas! Jesus! Das war ja eine der Hanteln, mit denen ich damals in den Ferien Turnübungen machen mußte. Wie schwer sie ist! Ich erinnerte mich an hundert Stunden und drückte das kalte Metall an meine Brust, diesen Zeugen von Angst und Unglück, das mich niemals verlassen hatte. Nach so vielen Jahren mußte ich sie hier finden! Das war kein Zufall.

„So lange war sie verborgen geblieben. Jetzt aber, in dieser Stunde, kommt diese alte Hantel mir entgegen, sucht mich gleichsam, lockt mich heran, mir jenen Gedanken einzugeben – einzugeben – nein zu sagen, zuzurufen, den ich sogleich verstehe.“

Ich stutzte einen Augenblick.

Sollte ich sie mißverstehen? Dieses Stück Eisen, bittet es etwa für meinen Vater, der es jahrzehntelang mit sich schleppt, der es nicht zum Gerümpel, nicht auf den Kehrichthaufen wirft, nicht dorthin, von wo es zum Schmelzofen wandern und um seine Form kommen muß.

Ist diese Hantel meiner Kindheit dem Vater für den Schutz dankbar?

Warum denn hat er sie aufbewahrt und ihr nach so vielen Übersiedlungen hier in diesem Staatszimmer einen Raum gegönnt? Warum?

War es ganz gewöhnliche Unachtsamkeit?

Ah, nein! Seinem Blick entgeht keine Blindheit auf einem Messingknopf.

War es Empfindsamkeit, verborgenes Erinnerungsgefühl, das dem kleinen Knaben galt, der einmal sein Sohn gewesen war?

Ich hielt den Eisenkopf der Hantel ans Ohr.

Keine Antwort! Sie blieb stumm.

Für mich Antwort genug. Ich verstand sie.

Es mußte geschehn.

Ich prüfte die Festigkeit der beiden Köpfe, ob sie gut auf dem Stiel säßen. Das Ding war wie aus einem Guß – da steckte ich es in meine Tasche.

Indessen war es schon recht dunkel geworden. Draußen sprang das Licht der Laternen auf. Die Fenster malten gelbe Lichtquadrate auf Möbel und Fußboden.

Ich entschloß mich, unters Billard zu kriechen; so war ich am besten verborgen.

In die Leinwand des Überzugs schnitt ich mit dem Taschenmesser ein Loch, ähnlich der Klappe im Theatervorhang – so, nun konnte ich genau beobachten, was hier und in den anstoßenden Zimmern vorging.

Ich weiß nicht warum, plötzlich erfaßte mich eine wütende Lust, mich zu verraten, unerhört Klavier zu spielen, göttlich zu phantasieren, durch die ungeheuren Akkorde alles Häßliche zu vernichten. Nur mit Mühe hielt ich mich fest. Auf meiner Stirne stand der Schweiß in großen, kalten Tropfen, so viel Kraft brauchte ich, dieses Gelüste zu überwinden.

Jetzt erst merkte ich, daß gleichmäßigen Schrittes eine große Uhr im Zimmer tickte.

Ich klammerte meine Finger um die Hantel.

Es schlug acht Uhr....

Es schlug halb neun, es schlug neun. Draußen schallte die Brandung der Stadt schwächer.

Was wollte ich eigentlich hier?

Ich wußte es nicht.

Ich wußte nichts.

Da – ganz ferne hörte ich einen Schlüssel knirschen. Ich drückte den Kopf in meine Hände.

„So war es gewesen – damals! Sechs Jahre alt und noch jünger. Der Schlüssel knirschte genau so. Ich vernahm es bis tief in meinen Traum. Dann tappten Schritte, kamen näher, immer näher (o, ich verging vor Furcht), ich spürte hinter den geschlossenen Augenlidern eine sanfte Helligkeit, und jetzt beugte sich jemand über mich – damals!“

Nun aber!

Meine Wange brannte wie Feuer.

„Wie Feuer!“ Laut stieß ich diese Worte hervor, als hoffte ich noch immer, mich zu verraten.

Im Vorsaal Schritte und Stimmen.

Es waren zwei, die sprachen. Einer befahl und einer wiederholte die Befehle.

Die Türe ging auf.

Mein Vater trat ein.

Der Bursche folgte.

„Also, er war hier gewesen?“

„Befehlen?“

„Ich frage: Mein Sohn war hier gewesen?“

„Jawohl, Exzellenz!“

„Wie hat er ausgesehen?“

„No – so – Exzellenz, ich bitt’ ghorsamst, ich weiß nicht.“

„Schauen Sie sich die Leute nächstens besser an!“

„Jawohl, Exzellenz!“

„Haben Sie mir die Pastillen vorbereitet?“

„Sie stehen auf dem Nachttisch, Exzellenz!“

„Und die Wärmflasche?“

„Die werde ich gleich bringen, Exzellenz!“

„Wann war er hier?“

„Befehlen?“

„Wann der Karl, – wann mein Sohn hier war, frag’ ich.“

„So um halb sechs, und ist um viertel sieben wieder fortgegangen.“

„Hat er keine Nachricht hinterlassen?“

„Jawohl, Exzellenz! Der Herr hat gesagt, daß er morgen wiederkommen will.“

„Herr! Herr? Welcher Herr? Der Herr Leutnant!“

„Exzellenz! Ich meld’ ghorsamst, der Herr Leutnant waren in Zivil.“

„Was? In Zivil? Während einer Untersuchung, in Zivil? Unerhört!“

Sporenklirrend ging der General auf und ab. Die Worte: „Pastillen, Wärmflasche“ hatten mich fast verstört. Aber das „Unerhört“, von widerwärtigem Sporenhochmut begleitet, brachte mich in Wut.

Jetzt kam der Bursche mit der Wärmflasche.

Der General hustete.

„Hat der Herr Leutnant nicht – so – krank ausgesehen?“

„Jawohl, Exzellenz! Bissel blessiert.“

„Wo hat der Herr Leutnant denn gewartet?“

„Hier im Zimmer!“

„So?“

Der General machte eine Pause, rasselte heftig, dann sagte er als Abschluß mehrfach angestellter Erwägungen:

„Morgen sagen Sie dem Herrn Leutnant, daß ich dienstlich hier nicht empfange, daß ich hier überhaupt nicht empfange! Verstanden?“

„Zu Befehl, Exzellenz!“

Über den letzten Satz geriet ich außer Rand und Band. Er hatte mich geschlagen, gepeitscht und spielte die Allerhöchste Dienstkomödie weiter.

Fester faßte ich die Hantel. Ein Wort war jetzt in mir: „Es ist besiegelt.“

Die Haut auf meinem Gesicht spannte sich vor Brand und Erregung. Ich fühlte, daß jetzt das zerstörte Gewebe meiner Wunde durch die Spannung stellenweise aufbrach und das Blut langsam, warm über die Wange lief.