Za darmo

Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig: Eine Novelle

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Er nahm von keinem der regungslos Versteinerten Notiz, schritt auch an mir vorbei, ohne den Allzunichtiges nicht beachtenden Blick von meiner Gestalt abzuwenden. Ich stand ebenso wie die anderen, herausgedrückter Brust und zurückgeworfener Schultern da.

Der General hatte die graue Kappe des hohen Militärs abgenommen. Sein Haar war weiß, sein kurzgestutzter Schnurrbart schwarz gefärbt. Ich erwischte ein Stück des Gesprächs:

„Das fällt nicht in mein Ressort. Der Akt muß an die Statthalterei weiter geleitet werden....“

Die Stimme kannte ich nur zu gut. Aber dieses Gesicht?

Es war seinen Weg gegangen.

Ich lehnte mich – meine Stirne war kalt und feucht – müde an die Wand.

Wie ist das möglich?

Dieser Fremde dort hatte durch einen warmen Tropfen seines Leibes mich erzeugt. Ich also war ein Tropfen, ein Teil seiner Natur. Ich war er selbst, – ich – dieser fremde General, der an mir vorbeigeht, an mir, den er als einen Tropfen einst verspritzt hatte!

„O schauerliches Geheimnis! —“

Der Rittmeister kam und führte mich in das Wartezimmer des Kommandanten:

„Exzellenz sind noch beschäftigt, einige Herren sind bei ihm. Du mußt noch warten, bis das Referat vorbei ist.“

Ich ließ mich auf einen Sessel, der gepolsterten Türe gegenüber, nieder. Noch einige Menschen warteten: ein eisgrauer Major, ein Staatsbeamter und eine ältere Dame.

Unvermittelt fiel mir eine Szene ein, deren Zeuge ich auf einem Bahnhof während meiner Reise gewesen war. Ein junger Mann, der mit gerötetem Gesicht ungeduldig, seine beiden Koffer in der Hand, am Fenster des Waggongangs gestanden war, bekam in dem Augenblick, da der Zug hielt, Tränen in die Augen, sprang wie rasend das Trittbrett hinab und fiel einem alten Herrn in die Arme, der in nicht geringerer Bewegung ihn immer wieder ansah und immer wieder streichelte, ansah und streichelte. Das spielte sich zu windiger Nachtzeit ab – im wirren Schein der Lichter einer kleinen Station.

Ich allein war verstoßen!

Gut! Ich wollte von niemandem etwas. Ich brauchte niemanden. Aber auch hiersitzen und warten wollte ich nicht, ewig ängstlich, ewig Sklave einer bindenden und lösenden Macht, ewig vor der Türe jener Bataillonskanzlei, wo ich meine Schulaufgaben vorweisen mußte.

Die Polstertüre öffnete sich. Der General begleitete einen sehr vornehmen Zivilisten zum Ausgang. Der uralte Major stand zitternd stramm.

Ohne die Anwesenden und mich auch nur eines Blickes zu würdigen, kehrte mein Vater wieder in sein Arbeitszimmer zurück.

Ich wartete und wartete.

Erbitterung, die Sehnsucht, nach so langer Zeit wieder gut zu wirken, Unsicherheit eines Angeklagten, kurz hundert widersprechende Gefühle peinigten mich und machten mich krank.

Endlich waren alle anderen abgefertigt. Der Rittmeister winkte mir.

„Bitte!“

Ich trat in den großen, plüschig aufgedonnerten Arbeitsraum.

Mein Vater saß am Schreibtisch und schrieb.

Bebend verharrte ich sehr fernab in Habtachtstellung.

Der Vater beachtete mich nicht und schrieb.

Ich räusperte mich nicht.

Mein Vater reichte dem Adjutanten ein unterfertigtes Dienststück.

Der Rittmeister entfernte sich, der General sah eine halbe Minute zum Fenster hinaus, – dann erhob er sich und trat mir – o, schon ein wenig steifbeinig – entgegen.

Im Abstand der vorgeschriebenen Ehrfurcht blieb er stehn. Sein Gesicht war nicht mehr blaß, grünlichgelb von dem verbissenen Ehrgeiz des Vierzigjährigen wie früher, sondern zeigte schon die lila roten Wangen eines Herrn, der in den Gesellschaften zu Hause ist, wo nur die besten Weine serviert werden. Starr und ohne Interesse sah er mich an. Ich fuhr in der üblichen vorschriftsmäßigen Weise zusammen und schrie:

„Exzellenz, ich melde mich gehorsamst zur Stelle.“

„Danke… bitte kommod zu stehen!“

Dann reichte er mir drei Fingerspitzen seiner Hand und meinte:

„Da bist du also!“

Er trat zum Schreibtisch und wühlte ein Staatstelegramm hervor:

„In deiner Angelegenheit hat sich zu deinem Glück herausgestellt, daß du der Schuldige nicht bist! Jetzt eben ist das Telegramm des Kommandanten eingetroffen.

Wie dem auch sei, ein Offizier von Ehre vermeidet es, seinen Namen in eine Sache zu mischen, die unreinlich ist. Da gibt es fast nicht mehr Schuld und Unschuld. Ich habe alles getan, meinen Namen in dieser Geschichte vor einer ehrenrätlichen Untersuchung zu schützen.“

„Ich habe für die Spielschuld eines Kameraden gebürgt.“

„Dummheit! Deine alten Laster habe ich nur zu gut erkannt. Renitenz, Indolenz und Schlaffheit.“

„Ich habe geglaubt,…“

„Ein Soldat hat nicht zu glauben!“

Ich wollte etwas erwidern. Der General verwarf es mit einer Handbewegung. Wut und Ohnmacht würgten mich.

Er trat dicht an mich heran und musterte mich erregt.

„Du siehst nicht vorteilhaft aus,“ sagte er. „Man könnte dich für einen richtigen Doktor, für einen Reserveoffizier oder Sanitäter halten, für so einen, – der über Thermometer oder Brunzflaschen gebietet. —

Sieh’ dir die jungen Leute hier an, wie sie schneidig sind und lern’ etwas von ihnen!“

„Ich habe nicht die Mittel, mich gut auszurüsten!“

„Ich habe die Mittel auch nicht gehabt und wie habe ich ausgesehen!“

Der Vater warf seine Zigarette weg und blies den Rauch durch die Nase.

„Vergiß nicht, daß du nicht für dich allein stehst, sondern auch für meinen Namen, den du trägst, verantwortlich bist. Ich habe meine Pflichten dir gegenüber erfüllt. Jetzt kommt die Reihe an dich, mir gegenüber deine Pflicht zu erfüllen.“ —

„Deine Pflicht hast du nicht erfüllt!“ O, ich wollte es ihm ins Gesicht schreien. Feig aber blieb mir das Wort im Halse stecken.

Der General ging auf und ab.

„Ich tue das Menschenmöglichste für dich… Deine Konduit ist schlecht. Sie gibt dir keine Aussichten, im Frontdienst etwas zu erreichen. – Deine Vorgesetzten aber halten dich für intelligent. Ich richte mich danach und habe dich für die Kriegsschule anmelden lassen.

Du kannst morgen schon im Kurs erscheinen. Glücklich schätzen sollst du dich!“

Erschöpft und gerührt von einem solchen Aufwand an Fürsorge ließ er sich nieder. Er fragte: „Wo wohnst du?“ Doch ehe ich noch Antwort geben konnte, schnitt er ab: „Das ist ja gleichgültig.“

Meine Nerven ließen nach wie die Saiten einer Geige.

„Du siehst, ein General auf meinem Posten ist äußerst in Anspruch genommen. Ich hoffe dich aber am Abend bei mir zu begrüßen. Du kannst mit uns soupieren. Bei dieser Gelegenheit (hier wurde er unsicher, welchen Ausdruck er wählen solle) wirst du – deine – meine Gattin kennenlernen. Wir haben uns lange nicht gesehen. Warum bist du eigentlich nie auf Urlaub gekommen? Nun, ist schon gut! Also! Servus dieweil bis zum Abend. Danke!“ Er hob das Telephon ab, sah zur Seite und ich war entlassen.

Ich ging, Schritt für Schritt, bewußtlos, quer über die Straße. Plötzlich erfaßte mich ein Irrsinnsanfall.

„Ich würge ihn!

Ich würge ihn!

Ich würge ihn!“

Ich drosselte mit meinen Händen wollüstig einen kalten Hals. Es war eine Laterne. Ein Gigerl lachte, ein Arbeiter sah mir kopfschüttelnd nach.

„Der Herr Leutnant!“ mochte er denken.

„Freimachen! Freimachen!“ flüsterte ich immer wieder vor mich hin.

Was hatte ich mit diesem fremden Greis zu schaffen, der seine Pflicht erfüllt hat. Was habe ich mit dem Militär zu schaffen! Ich habe nichts gelernt. O! Dennoch! Lieber verhungern!

Herunter mit diesen grünen Fetzen! Herunter mit diesen bunten Aufschlägen und silbernen Sternen!

Tschindara! Eine Regimentsmusik zog vorbei. An der Spitze tänzelte das Pferd eines dicken Hauptmanns.

Stramm salutierte ich.

Ich ging weiter. Sehnsucht erfaßte mich nach dem Vater meiner Kindheit, nach dem Plagegeist meiner Knabenjahre.

Ich sah das gelbe, schneidige Gesicht mit dem aufgezwirbelten Schnurrbart. Aber er war doch nahe gewesen, so nahe! Und ich hatte es gefürchtet, aber so, wie man Gott fürchtet.

Werde ich je loskommen? Ist das Wahnsinn?

Ich beschloß am Abend zu Hause zu bleiben. Es ist ja gleichgültig, wo ich wohne.

Ich gedachte meiner Mutter.

Sie hatte mir manchmal die Haare gewaschen.

Am Abend, pünktlich, erschien ich dennoch in der Wohnung des Generals. Es war das Haus eines reichen Mannes, fast ein Palais. Vornehme Kandelaber brannten auf der läuferbelegten Treppe. Eine Ordonnanz, die großen Bauernhände in Zwirnhandschuhen, geleitete mich in ein Zimmer, wo ich eine halbe Stunde warten mußte.

Der General erschien in einer rotseidenen pelzverbrämten und reichverschnürten Haus-Litewka, seine wohlangepreßten weißen Haare dufteten, auf seinen Fingern waren Ringe lebendig, doch sein Blick und sein Gehaben schien nicht weichlicher geworden zu sein, nur zurechtgeglättet und gehauter.

Einen Augenblick wich meine Abscheu der Wehmut. Noch immer war die böse Kindheit ein großes Tor, durch das ich allabendlich heimkehrte.

„Bitte! Wir gehen zu meiner Frau,“ sagte der Vater, der in strenger Erfüllung seiner Karriere jetzt auch schon den leicht-ungarischen Akzent angenommen hatte, wie er zugleich das aristokratische Reiterblut und den überlegenen strategischen Kopf kennzeichnet.

In einem der Zimmer kniete eine lange, eckige Person vor dem Marienbild. Sie erhob sich rasch und zeigte platte Formen und in aufgebauter Frisur hochblond gefärbtes Haar.

„Dies hier ist Karl, Fürstin“, stellte mich der General meiner neuen Mutter vor. Ein süßliches Lächeln, Goldzähne bleckten mich an und ein Hals zeigte, trotz Perlenschnur und Diamantkreuz, seine gelben Falten.

Mit Pomp trat die Frau auf mich zu und erwiderte meinen sehr gemessenen Handkuß mit einem verwandtschaftlichen Kreuz, das sie mir flüchtig über die Stirne schlug.

 

„Gott segne Sie, Karl Johann,“ begann sie, indem sie versuchte, die Begrüßung zu einer Szene aufzubauschen, „es war nicht recht von Ihnen, daß Sie uns erst jetzt die Gelegenheit geben, einander kennenzulernen.“

Sie wartete auf ein Wort von mir. Ich schwieg kalt und verstockt. Die Krähenfüße in den Augenwinkeln der Generalin verschärften sich. Ihre Falten wurden noch falscher als vorhin. Sie schlug einen neuen Kurs ein.

„Ihr habt mich überrascht!“ sagte sie voll Geheimnis, „ich habe mir nämlich eben von der Muttergottes was Schönes ausgebeten!“

„Was denn, Natalie?“ fragte der General, der seiner Frau gegenüber einen kleinlauten Eindruck machte.

„Aber du weißt doch, Charlie, der gestrige Kurssturz.....“

Sie wandte sich zu mir.

„Es handelt sich um die Aktien der Zeitung – die christliche Welt. – Das Unternehmen ist in Gefahr und es wäre für unsere Kreise geradezu ein Unglück, wenn diese Zeitung einginge!“

Ich verneigte mich stumm.

Der Vater zeigte seine langen Zähne. Immer jagte mir sein Lachen Angst ein:

„Die Politik ist nichts für Soldaten, dagegen um so mehr für die Frauen.“

Später einmal erzählte mir jemand, daß die gewesene Fürstin einen Teil ihres Vermögens in Aktien der klerikalen Papierfabrik angelegt hatte.

Wir gingen zu Tische. Es gab ein mageres Essen, das allerdings von einem backenbärtigen Diener aufgetragen wurde.

Das also war mein Vaterhaus!

Ich saß fremd und betreten da, wie eine bezahlte Kreatur, ein Sekretär oder Sprachenlehrer, bestenfalls wie ein dürftiger Verwandter. – Das war mein Vaterhaus!

Ich legte von den Speisen kaum zwei Bissen auf meinen Teller, und die Frau meines Vaters schien darüber nicht unerfreut zu sein.

Später kam ein jüngerer sehr geleckter Abbé und rieb ewig rot gefrorene Hände.

Mein Vater war sehr aufmerksam gegen ihn und holte eigenhändig eine besondere Flasche hervor.

Die Generalin im Ton einer konversierenden Hoheit sprach von Musik.

„Ich habe gehört, daß Sie so musikalisch sind, Karl!“

„Jawohl,“ meinte der Vater recht jovial, „er hat mich einmal, als kleiner Bub, über eine Oper belehrt.“

– Freischütz – wußte ich sogleich und erkannte: „Keine Erniedrigung, keine Niederlage verschwindet aus einem Herzen. Wir alle sind verlorene Vorposten; von allen Seiten beschossen zittern wir hinter baufälligen Deckungen. Auch er! Er hat meinen kleinen Triumph nicht vergessen.“

„Ich adoriere die Musik,“ gestand die Generalin, „Mozart, Haydn und vor allem Liszt! Vor allem Liszt! Das war ein Mann! Mein Gott! Und dabei so fromm! Meine Mama war sehr intim mit ihm und der Wittgenstein.“

Der Geistliche schickte sich an, schmalmäulig eine Predigt über Politik zu halten.

„Die Zeiten wären schlecht,“ klagte er, „ein böses Ende drohe, wenn nicht in letzter Sekunde noch eine gepanzerte Faust dazwischen führe. Das Übel der Welt aber sei die Freimaurerei, die in ihrer neuen Form Sozialismus heißt. Beide Weltanschauungen seien aber nichts anderes, als wohlausgeklügelte, tiefdurchdachte Taktiken der Juden, die allesamt nur von zwei Beweggründen beherrscht würden: Die Weltmacht, die sie im Geheimen schon besäßen, öffentlich an sich zu reißen und Christus wieder zu kreuzigen!

Mit dem letzteren aber ist es so bestellt! Die Juden sind die ewigen Feinde des Heilands. Ihr Volkstum ist mehr als eine physische und geistige Gleichartigkeit, es ist ein Geheimbund der Rache an dem Erlöser. Den irdischen Leib Christi haben sie zur Zeit des Kaisers Augustus getötet und in unseren Tagen bieten sie ihren Heerbann, die unmündigen und verführten Arbeiterscharen auf, den himmlischen Leib Christi, die Kirche zu vernichten.“

Mich ärgerten die Worte, Blicke, Gesten dieses Spitznäsigen.

Ich fragte, warum denn, wenn schon der Jude der Antichrist wäre, die Kirche seines Kults, seiner Mythologie und Geschichte nicht entraten könne, und ob denn diese Kirche nicht von Juden geschaffen worden sei und allein von ihnen, mit Ausnahme der hellenischen Einflüsse, ihre Form empfangen habe!? Ich für meinen Teil hätte unter Juden immer die herrlichsten Menschen gefunden.

Meine Worte wirkten wie eine Kriegserklärung. Der Pfaffe verdrehte die Augen, die Generalin bekam einen asthmatischen Hustenanfall und mein Vater, den besonders die Worte „Mythologie“ und „hellenisch“ ärgerten, schrie mich an: „Ein Offizier hat mit keinem Juden zu verkehren!“

Ich war gründlich abgefallen.

Das Wort „Abtreten“, von fernher schnarrte es durch meine Seele.

Man schwieg.

Endlich fragte mich die Generalin, meine Stiefmutter, kalt:

„Können Sie Bridge spielen?“

„Nein!“

Ich empfahl mich, während die drei sich zum Spieltisch setzten und keine Miene machten, mir mehr als ein förmliches Abschiedswort zu geben, oder für ein andermal mich in mein Vaterhaus zu bitten.

Auf dem Heimweg erfüllte mich ein starkes glückliches Gefühl: „Mit diesem Menschen bin ich fertig. Vater ist er nicht mehr! Nicht mehr der Gegenstand dieser beleidigten, herabgewürdigten Knabenliebe. Zitternde Ehrfurcht und zart gekränkte Sehnsucht – vorbei für immer! Wer ist der Mann? Ein gleichgültiger Vorgesetzter, dessen baldiger Tod mich nur vergnügen sollte!“

O, wie gut kalt war mir zumute. Nicht mehr wie heute mittag werde ich ihn im Sinnbild einer Straßenlaterne erwürgen. Jetzt bin ich frei, und jetzt werde ich mich auch frei machen von diesem Sklavenkleid. Geduld! Nur einige Monate noch!

Ich schlief sehr gut.

Am nächsten Tag schon meldete ich mich in der Kriegsschule, deren jüngster Zögling ich war, denn bloß dem Einfluß meines Vaters hatte ich es zuzuschreiben, daß ich bei meiner noch zu niedrigen Charge Aufnahme gefunden hatte.

So verging einige Zeit, in der ich mich sehr versteckt und unauffällig hielt, am Kursus auf den Plätzen der wenig Strebsamen teilnahm, und den Vater weder in seinem Amt noch auch in seinem Hause aufsuchte.

Einsam, dumpf und verbissen in dieser großen Stadt.

Doch halfen mir die Millionen, mich selbst leichter zu tragen. In der Metropole nimmt jeder an moralischem Gewicht ab. Das verlorene Atom in den schwankenden Ballungen des Körpers kann ruhig schlafen. Straße dröhnt, Wirtshaus plärrt, der Nichtige ruht auf einem Meeresgrund. Er ist nicht einmal Tropfen mehr, der sich nach Auflösung sehnt. Es liegt ja nichts daran.

Wozu noch Ehrgeiz? Wozu noch Vergnügung, da doch Quintessenz aller Vergnügung das Bewußtsein ist, stark und vorteilhaft zu wirken!

Alles ist ja so gleichgültig! O Gott, warum nur?

Manchmal schritt eine Frau mit strahlend bewußten Beinen dahin. Ein Krampf ging durch mein Wesen.

Mir aber gelang nur eines – Schlaf! Ich war ein Meister des Schlafs bei Tag und Nacht.

So waren drei Monate vergangen.

Es geschah aber, daß ich in eine seltsame Gesellschaft geriet.

Ich bewohnte in meinem kleinen Hotel das Zimmer Nr. 8. Das Zimmer Nr. 9 neben mir hatte ein älterer, taubstummer Mann inne, der Herr Seebär hieß und Bücherrevisor war.

Ich hatte es mir angewöhnt, spät am Abend von weiten Spaziergängen nach Hause zu kommen, und da begegnete mir fast allmitternächtlich Herr Seebär, der von seiner Arbeit heimkehrte, auf der Treppe. Er trug zu jeder Jahreszeit einen langen schwarzen Kaiserrock von so fleckig und brüchigem Aussehen, als wäre er schon geraume Zeit als Kleidungsstück einer honorablen Leiche im Grabe gelegen und dann wieder durch einen Altkleider-Tandler in den Handel gebracht worden. Um seinen Zylinder, der von mancher Attacke unzähliger Sylvesternächte zerbeult und räudig erschien, war ein breiter Trauerflor angebracht.

Das Gesicht Seebärs zeigte eine Farbe, grauer als Asche, sein Schritt hatte die zögernde Erschöpfung der Herzkranken.

Es war öfters dazu gekommen, daß ich dem Taubstummen durch kleine Dienste und Handreichungen hatte behilflich sein können. Nun, wenn wir uns nachts auf der Treppe trafen, reichten wir einander die Hände, und es hatte sich die Gewohnheit ausgebildet, daß Seebär in mein Zimmer trat, Platz nahm und wir uns eine halbe Stunde noch schweigend gegenübersaßen.

Manchmal holte ich einen Likör heraus, und wir tranken als einzige Unterhaltung einander ernsthaft zu.

Eines Nachts zog Seebär einen Schreibblock aus der Tasche und schrieb auf einen Zettel, den er mir reichte, mit kalligraphisch kontorgeübten Zügen diese Worte:

„Ich sehe, daß es Ihnen nicht sehr gut geht.“ Ich schrieb nur ein Wort zurück:

„Ja!“

Er: „Wollen Sie glücklicher werden?“

Ich: „Ja!“

Er: „So erwarten Sie mich morgen schon um elf Uhr nachts.“

Ich: „Einverstanden!“

Tatsächlich! Wir saßen die nächste Nacht um elf Uhr in einer schrecklichen Droschke.

Eine Stunde lang rumpelte das plumpe Gefährt mit uns dahin. Wir verließen die zahlreichen Lichter, gelangten unter die seltenen Lichter der Vorstädte, hatten auch die bald hinter uns, fuhren an Weinbergen entlang, gerieten wieder in eine Vorstadt, knarrten durch eine Pappelallee und landeten endlich mitten in einem großen Häuserkomplex, der bergab an dem Hang (das alte Dominikanerstift krönt die Höhe), zum großen Strom sich niedersenkt.

Wir traten durch die niedrige Türe in den Steinflur eines uralten Wirtshauses. Ein Mensch mit einer scharf abgeblendeten Diebeslaterne, von dem wir nicht mehr als einen Schatten sehen konnten, trat uns entgegen, erkannte Seebär und führte uns in einen Hof. Er löschte das Licht, milchig gleißte der Mond, des Führers Schatten wurde Mensch, und ich sah einen kleinen, dicken Chinesen mit Mandarinmütze und in Filzschuhen, der mir breit zunickte:

„Welcome, we all expect you!“

Jetzt traten wir in ein geräumiges Gewölbe. An den Wänden liefen Bänke. Zwei große ungehobelte Tische erfüllten die Mitte des Raumes. Eine spärliche Petroleumlampe hing irgendwo. Welch’ ein Bild war das!

Mit langen Schritten (träume ich?) langsam und tiefsinnig gingen Gestalten auf und ab. Es waren alte und junge Männer in russischen Kitteln, bärtig und bartlos, mit von Entbehrung eingeschwundenen Gesichtern, von Augen überleuchtet, die denen der Engel glichen.

Manche trugen wandelnd Bücher in der Hand, worin sie studierten, eine Gruppe stand vor einer Wandtafel, die über und über mit chemischen Formeln beschrieben war.

Bei unserem Erscheinen traten die Leute zusammen, verständigten sich mit russischen Worten, und einer von ihnen, ein Alter, ging langsam auf mich zu.

Er war ein herrlicher jüdischer Priesterkopf, weißhaarig, weißbärtig, mit großen, vorgewälzt hellen Augen, einer der erhabenen lichten Häupter, wie sie von Anbeginn die Geschichte der Menschen begleitet haben.

Er sah mich sehr lange an, – dann, als spräche er eine priesterliche Formel:

„Gib deine Waffe weg! Mitgeborener, Mitsterblicher!“

Ich warf den Säbel in eine Ecke.

Der Alte ergriff meine Hand.

„Willst du Bruder sein?“

„Ich will es!“ hörte ich mich ausrufen, während die anderen zu uns traten. Diese reinen, fanatischen Gesichter ergriffen mein Herz mit ehrfürchtiger Freude.

„Ich will es!“

„Wir wissen,“ fuhr der weißbärtige Jude fort, „daß du kein Spitzel und Kundschafter bist, wir kennen deine Herkunft und den Haß gegen diese Herkunft, wir kennen die Beschäftigung deiner Tage, wir kennen deine Spaziergänge, deine Lektüre, den Grund deiner Versetzung in diese Stadt, wir sind über jede Regung deiner Seele unterrichtet.

Wisse! Der Ratschluß, der dich zum Mitarbeiter an unserem Werk ausersehen hat, ist von keiner geringen Gewalt. Du sollst der Apostel unseres Kampfes unter den Soldaten sein!“

„Welches ist euer Kampf?“

„Unser Krieg gilt der patriarchalischen Weltordnung,“ sagte der Alte.

„Was ist das, patriarchalische Weltordnung?“

„Die Herrschaft des Vaters in jedem Sinn.“

Ein Blitz durchzuckte mich! Meine wahren Kameraden, ich hatte sie gefunden. Sie, die mein Leiden besser, geistiger verstanden, als ich selbst. Gelb und hohläugig zog mein Knabengesicht an mir vorbei, das mir anders, als anderen Männern, immer vorstellbar war. Ich sah die kleine Kadettenuniform, wie sie des Nachts über dem Stuhl hing. Gelb und hohläugig zog noch ein anderes Knabengesicht an mir vorbei. Wo hatte ich es nur gesehen? Wo nur....?

Ich fragte:

„Was versteht ihr unter – Herrschaft des Vaters?“

„Alles!“ führte der Alte aus. „Die Religion: denn Gott ist der Vater der Menschen. Der Staat: denn König oder Präsident ist der Vater der Bürger. Das Gericht: denn Richter und Aufseher sind die Väter von Jenen, welche die menschliche Gesellschaft Verbrecher zu nennen beliebt. Die Armee: denn der Offizier ist der Vater der Soldaten. Die Industrie: denn der Unternehmer ist der Vater der Arbeiter!

 

Alle diese Väter sind aber nicht Spender und Träger von Liebe und Weisheit, sondern schwach und süchtig, wie der gemeine Mensch eben geboren ist, vergiftete Ausgeburten der Autorität, die in dem Augenblick von der Welt Besitz ergriff, als die erste gerechterweise auf die gebärende Mutter gestellte paradiesisch-unseßhafte Gesellschaft durch die Familie und Sippe verdrängt worden war.“

„Wodurch aber wollt ihr die Herrschaft von Vater und Familie ablösen?“

„Durch das Regiment der Selbsterkenntnis und Liebe,“ rief der Greis. „Du mußt mich recht verstehen! Die Machtsucht, der Trieb, über andere zu herrschen, sich in ihrer Demütigung zu spiegeln und vor ihnen groß zu sein, ist ebensowenig dem gesamten Menschengeschlecht eingeboren wie dem Einzelnen. Das Kind in seinen ersten Jahren lebt im ruhigen Austausch mit der Umwelt. Erst wenn es die Unterdrückung durch den Hochmut der Erwachsenen, die Erniedrigung durch den egoistischen Eigenwillen der Eltern erfährt, erleidet seine Seele den unverbesserlichen Schaden, der jenes krankhafte Fieber erzeugt, das Machtwille, Ehrgeiz, Siegsucht und Menschenhaß heißt.

Und wie im Individuum, so in der ganzen Menschheit. Der selige Urzustand, die aurea aetas der Alten, das Paradies der Religionen, war die ursprüngliche gesund-nomadische Form des menschlichen Beieinanderlebens gewesen.

Da erhob sich der erste Vater über seine schwachen Söhne und spannte sie vor die neue Pflugschar, die ein hoher, wenn auch doppelsinnig-versucherischer Genius konstruiert hatte. Und siehe! Nicht mehr waren die Knospen und Sprößlinge des Menschengeschlechtes Kinder, nicht mehr Kinder der freien Mutter, die verehrt und heilig gehalten, den Samen wählte, der sie befruchten sollte. Die Kinder der Mutter waren zu Söhnen des Vaters geworden, des Vaters, der nicht in neun Monaten der mystischen Prüfung ein neues Leben mehr lieben lernte, als sich selbst, sondern in einem kurzen Kitzel den bald vergessenen Lebenssaft verspritzt hatte.

Die patria potestas, die Autorität, ist eine Unnatur, das verderbliche Prinzip an sich. Sie ist der Ursprung aller Morde, Kriege, Untaten, Verbrechen, Haßlaster und Verdammnisse, gleichwie das Sohntum der Ursprung aller hemmenden Sklaveninstinkte ist, das scheußliche Aas, das in den Grundstein aller historischen Staatenbildung eingemauert wurde.

Wir aber leben, um zu reinigen!“

„Durch welche Waffen wollt ihr die Autorität vernichten und den Zustand der Selbsterkenntnis und Liebe heraufführen?“

Chaim Leib Beschitzer, so hieß der alte Mensch, hob seine Arme drohend empor, seine hellen Augen, rotgerändert, glänzten vor Haß. Er rief:

„Durch Blut und Schrecken!“

„Bravo!“

Ich stampfte auf, fast besinnungslos vor Wut und Lust, alle klirrenden, krähenden Hähne von Vätern anzuspringen. Der Greis deutete auf die Tafel. – Formeln von Ekrasit, Lyddit, Ammonal, von allerhand Dynamitmischungen waren zu erkennen.

Seine tiefe Stimme sprach jetzt etwas leiser: „Wir haben überall unsere Vorposten und Vedetten. Es ist kein Unternehmen und Beruf mehr, wo unsere Missionäre nicht tätig sind. Schon in den Volksschulen wiegeln wir die Kinder gegen die Lehrer auf. Dich aber haben wir ausersehen, unter denen zu kämpfen, die alle Armeen der Welt in Brand gegen die Machthaber setzen. Du hast als Offizier in Galizien heimlich Sabotage getrieben. Wir wissen, daß du keinen Umgang mit Gleichgestellten gepflogen hast, auch die Güte, die du deiner Mannschaft entgegenbrachtest, ist uns bekannt.

Dies alles aber war noch Geschehenlassen und Dulden!

Willst du endlich wagen und tun?“

„Ich will!“

„So tritt in unseren Kreis,“ rief er mit der ernstesten Miene, „und versprich uns in die Hand (da wir den Schwur verwerfen) im Namen deiner Liebe zum Guten, zur Wahrheit und Zukunft des Menschengeschlechts versprich uns, niemals Verrat zu üben, niemandem unsere Namen, unsere Schlupfwinkel, Pläne, Geheimnisse, Reden kundzugeben. Ebenso werden auch wir deinen Namen, deinen Stand, deine Reden, Pläne und Geheimnisse bis zum letzten Blutstropfen wahren. Wer von uns beiden und allen anders handelt, verfällt dem Tode, den über ihn das geheime Tribunal beschließt!“

Beschitzer schwieg.

Alle Männer gaben mir, starren Blicks, die Hand.

Ich hatte Kameraden. Das erstemal im Leben fühlte ich den Stolz der Solidarität.

Es gab Brüder, die mich in ungeheure Ideen einweihen würden, deren Kampf mein Kampf war, den ich nun endlich beginnen wollte.

Der Alte hob mit angeekelten Fingern meinen Säbel auf:

„Da nimm! Morgen erwarten wir dich wieder in unserer Mitte. Schon in den nächsten Tagen werden die Aufträge des Zentralkomitees einlangen.“

Er winkte Herrn Seebär. Wir beide verließen dieses Zimmer und traten in ein anderes, das hellerleuchtet heiser lärmte. Betäubt stand ich in der Türe. Was waren das für Gesichter, für Gestalten, die verzerrt um den grünen Spieltisch drängten, auf dem Roulette und Gold rollte!

Wo hatte ich diese Gesichter schon gesehen?

Der Chinese, höflich, mit unbewegtem Grinsen, hielt die Bank. Ein Neger im weißen Flanellanzug zählte lippenwälzend Geld, das vor ihm lag, ein Herr in gewiß geliehenem Frack saß starr da und schielte auf seine Hände, die wie ein Haufe blutbesudelter Leichen vor ihm lagen. Ein Matrose, der seine Seefahrts-Löhnung verspielt zu haben schien, kroch unter den Tisch, wie um ein weggerolltes Goldstück zu suchen, fuhr kerzengerade empor und kroch wieder unter den Tisch. Diese Bewegung wiederholte sich hundertmal. Einen pfiffigen Kerl sah ich mit lues-zerfressener Nase, der gleichmäßig spielte. Ein gieriger, schlechtrasierter Mensch in Meßnersoutane, der eben vom Glockenläuten gekommen zu sein schien, hatte seine Barschaft beträchtlich vermehrt. Ein paar andere Gespenster noch spitzten blaß nach der rollenden Scheibe, während sie ihre Farbe und Nummer riefen.

Ein Mann aber in fremdartiger Uniform beherrschte riesig den Raum. Breitbeinig und furchtbar stand er da. Er konnte ebenso napoleonischer Gardist, wie Kinoausrufer, Opernsergeant oder italienischer Gendarm sein. Er hatte den ganzen Einsatz verloren. Tabaksgeifer rann von seinem Munde, dessen Lippen eine lang schon ausgegangene Zigarette zerpreßten.

Langsam ballten sich seine knolligen Hände zu Fäusten und fuchtelten unter der Nase des Chinesen, der höflich achselzuckend vom Croupieren nicht aufsah, und den verschnürten Lackel, dessen offener Mund jetzt ein gelbes Pferdegebiß sehen ließ, gleichmütig tröstete.

Seebär zog mich bei der Hand aus diesem Raum fort. Jetzt standen wir in einem dritten Zimmer. Es war achteckig und verriet ein hohes Turmgemach.

In der Mitte stand ein dreifußartiges Gefäß, auf dem ein Feuer mit kleinen Kohlen glühte. In die acht Wände dieses Gewölbes waren tiefe Nischen eingelassen und in diesen Nischen knapp übereinander sah ich je vier Ruhebetten, auf denen Menschen starr wie in der Totenkammer lagen.

Manchmal bewegte sich einer.

Blicklos, aus Sternenwelt her, stierten ruhig mich verglaste Augen an.

Um das Feuer schlichen Gestalten, die kleine Kohlenstücke holten, die sie auf ihre duftenden Pfeifen mit den flachen Köpfen legten.

Alle diese Männer waren alt, zu Schatten gemergelt, alle trugen sie feierlich schwarze Schlußröcke, deren Stoff abgeschabt und schon wie Zunder war.

Sie alle unterschieden sich durch nichts von meinem Führer Seebär. Waren auch sie taubstumm? – Lautlos umwandelten sie das Feuer, holten sich ihre Kohlen und verschwanden, jahrtausendalte Assyrer, in den Felsengräbern der Nischen.

Von Zeit zu Zeit kam der Chinese, sah nach dem Rechten, belebte das Feuer, räumte die Pfeifen weg, die denen entfallen waren, die schon durch die Wonne-Landschaften schwebten, oder schob eine der Bettladen vor, um nach dem Schlafstand eines Berauschten zu sehen, und dann glich er dem Bäcker, der prüfend ein Brot aus dem Ofen zieht und es wieder zurückstößt.

Hier nun erfuhr auch ich die Segnungen des Opiums, jenes göttlichen Mohnes, dessen Landschaften süßer als die mildeste Kindheit betäuben, dessen Barkarolen die seraphische Musik übertreffen, und dessen Verzückungen mehr begeistern, als die Liebe und der Ruhm.

Allnächtlich nun besuchte ich das alte Haus, das steilab in den schwarz sich wälzenden Strom gebaut war. Allnächtlich saß ich unter den Russen, die das unkörperliche Leben von Katakombenheiligen führten. Wir diskutierten über bedeutsame Stellen aus den Werken Proudhons, der großen Utopisten, über Probleme aus den Werken Stirners, Bakunins und der neueren, wie Kropotkin, Przybyszewski und J. H. Makay. Ich studierte mit ihnen chemische und pyrotechnische Enzyklopädien – und manche Nacht verging, während wir komplizierte Modelle neuer Bomben und Höllenmaschinen erdachten.