Czytaj książkę: «Zwingli»
INHALT
Vorwort
Zwinglis Tod
Der Säntis-Galöri
Wildhaus
Zürichs geringe Wirtschaftskraft
Schmerzhafter Aderlass
Ausbildung
Bern
Wien
Universität Basel
Neuer und alter Weg
Europäische Perspektiven
Pfarrei in Glarus
Der Patriot
Marignano
Die Wende 1516
Erasmus von Rotterdam
Abschied von Glarus
Einsiedeln
Grossmünster in Zürich
Begegnung mit Luthers Schriften
Die Pest 1519
Das Pestlied
Beginn in Zürich
Allgemeines Drunter und Drüber
Der moralische Zerfall
Wurstessen
Kampf mit dem Mönchswesen
Die erste Disputation
Der Prediger
Zustimmung und Feindschaft
Umgestaltung des Kults
Die zweite Disputation
Die kleine Disputation
«Zwingli wybet»
Pfingsten 1524
Aufhebung der Klöster
Abschaffung der Messe
Die Prophezei
Der Ittingersturm
Die reformierte Theologie
Das Ehe- und Sittengericht
Ausbau und Frucht der Prophezei
Oppositionen
Die Badener Disputation
Die Täufer
Die Räte
Zwinglis Persönlichkeit
Die Bauern
Gaismair und Zwingli
Über Zürich erhebe ich meine Stimme
Zwinglis Stellung zur Kunst
Vom Sinn der Arbeit
Wirtschaft, Geld und Reichtum
Zwingli und die Freudenhäuser
Vier «Kampfplätze» für Zwingli
Durchbruch in Bern
Bildersturm in Basel
Trennung von Erasmus
Vor dem Waffengang
Landgraf Philipp von Hessen
Marburger Gespräche
Was unterscheidet Zwingli von Luther?
Die Synode
Uneinig mit Bern
Ringen um Bündnisse
Verlorene Schlacht in Kappel
Langer Frieden
Das Zwingli-Porträt
Das Denkmal
Zeittafel
Literatur
VORWORT
Dreissig Jahre habe ich meinen Wunsch mit mir herumgetragen, eine Zwingli-Biografie zu schreiben. Mein Arbeitszimmer hatte eine Archivecke mit mehreren Ordnern und 64 Schubladen, fein säuberlich nach Themen beschriftet. Im Sommer 2014 begann ich die Zwingli-Biografie zu schreiben, machte mich systematisch an die Materialien. Eine Schublade nach der anderen wurde verlebendigt.
Über Zwingli zu schreiben, entspringt meinem Anliegen, das seit 30 Jahren in der breiteren Öffentlichkeit immer wieder heraufbeschworene sogenannte Zwinglianismus-Syndrom zu korrigieren. Ich beabsichtige mit dem vorliegenden Buch, die Ungerechtigkeiten, mit der diese grosse geschichtliche Figur in der breiteren Öffentlichkeit abgetan wurde, als eine im damaligen Zeitgeist verankerte Modeerscheinung zu entlarven.
Ursprung meiner Geschichte mit dem Reformator Zwingli war das Zwingli-Porträt von Hans Asper und das Zwingli-Denkmal von Heinrich Natter. Gegen beide hatte sich mein Geist, meine Fantasie und meine Ästhetik immer und von Anfang an gewehrt. Was haben diese Herrschaften mit dem Reformator angestellt? Da beide – Porträt sowie Denkmal – meine Beschäftigung mit Zwingli stets befördert haben, konnte ich auch 30 Jahre auf meine Stunde warten.
An Zwingli interessiert mich vor allem das politische Individuum: der Humanist, seine bäuerliche Herkunft, seine Bildung, seine gewaltige Leistung, seine Philosophie, seine soziale Theologie, seine Bedeutung in der Zeit, seine Visionen, seine grundsätzliche Fortschrittlichkeit. Das religiöse Argumentarium bleibt mir eher fremd.
Bei Zwingli sind, wie bei keinem anderen Religionsführer, Politik und Religion, Humanismus und Christentum eng verbunden. Darin liegt meine Faszination für diesen Mann, der meine Stadt in etwa zwölf Jahren umgepflügt und verändert hat, der einen Geist geschaffen hat, der weit über seine eigene Zeit hinausreicht und der unser Leben bis heute prägt.
Ich lege das Schwergewicht des Buches auf seine Reformpolitik. Ich erzähle die äusseren Vorgänge und gebe einen Einblick in seine Sozialpolitik. Ich will die geschichtlichen Prozesse so plastisch wie möglich, so nachvollziehbar und so präzise wie es geht, schildern.
Über Zwingli gibt es fast ausschliesslich Bücher von Theologen und meist religiös ausgerichteten Historikern. Es sind jeweils mit ungezählten Fussnoten und grossen Textfeldern in Latein und in alter deutscher Sprache besetzte Bücher. Die vierbändige Biografie von Oskar Farner zum Beispiel (1943, 1946, 1954 und 1960 erschienen) ist über weite Strecken mühsam zu lesen, aber fruchtbar, wenn man sich darauf einlässt. Ich schreibe keine wissenschaftliche Publikation, vielmehr ein modernes Lesebuch, für alle verständlich. Zwingli und die Reformation verdienen, von der Allgemeinheit neu wahrgenommen zu werden.
Meiner Meinung nach ist Zwingli einer der bedeutendsten Schweizer unserer Geschichte. Ein überragender Kopf und ein grosser Theologe. Ein grosser Praktiker und ein ebenso grosser Theoretiker. Ein Kenner der griechischen und lateinischen, klassischen Literatur. Er war der erste gründliche Bibelkenner, während Geistliche der damaligen Zeit das Alte und das Neue Testament teilweise kaum kannten. Es ist lohnend, einen überragenden Menschen in seinem Wirken darzustellen, in seinem Reifeprozess im 16. Jahrhundert, im damaligen Gesellschaftsgefüge einer mit Hochspannung geladenen Zeit, die Verflechtung von subjektivem Wollen und objektivem Wirken klar verständlich zu machen.
Seit 30 Jahren ist kein Buch mehr erschienen, das Ulrich Zwinglis Leben in den Mittelpunkt stellt. Ich bin der Überzeugung, dass es dringend an der Zeit ist, Zwingli aus dem Kontext von Kulturfeindlichkeit und asketischer Rigorosität zu befreien.
ZWINGLIS TOD
Sein Tod war sinnlos. Er ist in der Schlacht gefallen, in einer der blödsinnigsten Schlachten aller blödsinnigen Schlachten. Aber wir wissen nicht, ob er gekämpft hat; es sind alles nur Vermutungen. Es ist nicht anzunehmen, dass er mit der Waffe in der Hand gekämpft hat. Doch er ist auf dem Schlachtfeld zu Tode gekommen, das ist unbestritten. Ihn heute deswegen als Kriegsgurgel zu diffamieren, wie das oft getan wird, ist demagogisch, und ihn im Denkmal als finsteren Mann mit Schwert darzustellen, wie das in Zürich im 19. Jahrhundert durch einen katholischen Tiroler Bildhauer geschah, abgesegnet und prämiert von den reformierten Stellen der Zürcher Kirche und ihres Staates, wird weder der Geschichte noch Zwingli als Menschen und seinen Leistungen sowie seiner Bedeutung gerecht. Er ist als teilnehmender Feldprediger in der Schlacht gefallen. Der Gipfel dieses Unsinns, nämlich gesund und stark, geistig leistungsfähig im Alter von 47 Jahren auf dem Schlachtfeld, und zwar nach dem Kampf, abgestochen oder erschlagen zu werden, wurde dadurch erreicht, dass er selbst wohl einiges dazu beigetragen hat, dass es überhaupt zu diesem überflüssigen Kampf mit Schwertern und Hellebarden gekommen ist. Dass er aufgerufen hat zum unausweichlichen Waffengang gegen die feindlichen und feindseligen und schlachtbereiten Katholiken der Innerschweiz. Das war wohl seine Untat schlechthin, das hat ihn sein bewundernswürdiges, fruchtbares Leben gekostet. Und es ist einer der Gründe für seinen unberechtigt fragwürdigen Ruf in der oberflächlichen populären Wahrnehmung.
Altgläubige Schlachtteilnehmer haben den Säntis-Galöri, wie er in der Innerschweiz seit Jahren genannt wurde, gefunden.
Sie haben ihn erkannt, sie werden sich mit triumphalem Geschrei auf ihn gestürzt haben: Er war damals der bekannteste Mann im Land, und in dem altgläubigen Teil der verhassteste. Er lag wahrscheinlich bereits verwundet auf der Erde, stöhnte und röchelte, vielleicht lag er sogar schon tot unter einem Baum, wir wissen es nicht. Sie schlugen, aufgehetzt vom Hass, auf seinen Schädel ein. Die Schlachtopfer lagen kreuz und quer und nach ihrer konfessionellen Zugehörigkeit gemischt auf dem Feld herum. Er war als evangelischer Prediger irgendwie gekennzeichnet. Mit Geheul haben sie ihn gevierteilt, verbrannten wahrscheinlich seinen Leib und verstreuten seine Asche in einem Wäldchen in Kappel. Vielleicht haben sie ihn auch einfach verscharrt, wie gesagt, es ist nicht belegt, was genau geschah. Aber es war am 11. Oktober 1531 und es war die zweite Schlacht bei Kappel.
Zwingli wurde als Toter noch einmal hingerichtet. Und seither wurde er noch ungezählte Male hingerichtet. Das Ende des Landesverräters und Ketzers wurde unheimlich laut gefeiert. Die Eidgenossenschaft war zu der Zeit in einem ungeahnten Mass gespalten, in städtische und ländliche Gebiete. Die zwei Lager standen einander in einer Art bisher nie gekannter Todfeindschaft gegenüber, dass es rückblickend sogar fast wie ein kleines Wunder wirkt, dass das Land, genauer das Bündnisgeflecht, damals an diesem Gegensatz und am Hass nicht auseinandergebrochen ist. Die Reformation hat in der Schweiz, wie in Europa, einen ungeheuren geistigen Aufbruch initiiert, aber gleichzeitig mit der religiösen Spaltung ganz neuartige explosive Gegensätze und Feindschaften hervorgebracht. In allen Ländern Europas gingen die Konfessionen in den kommenden Jahrzehnten aufeinander los, die Starken verfolgten die Schwachen, die Schwachen ergriffen die Flucht, um ihr nacktes Leben zu retten.
Zwinglis frühes Ende wurde von den Gegnern als Beweis für die Falschheit seiner Lehre genommen, als hätte Gott Regie geführt. Doch seine Lehre ist noch heute gültig. Verbreitet und geglaubt wurde die Behauptung mit Schadenfreude, Gott selbst habe ihn gerächt. Selbst Martin Luther triumphierte, da die beiden Reformatoren sich in einigen theologischen Anschauungen diametral und grundsätzlich gegenüberstanden, vor allem was den Abendmahlsstreit anbelangt. Zwinglis Lehre war in allen Teilen radikaler als diejenige Luthers. Darum: Zwinglis Fall sei Gottes Urteil, posaunte Luther.
Was ist an Dummheiten darüber geredet und geschrieben worden, vor allem über Zwinglis Tod. Fünfhundert Jahre wurde dieses die Geschichte entstellende Gerede durch die Zeiten gejagt. Es sind viele Geschichten erfunden worden.
Bleiben wir vorerst kurz beim Ende, welches später zusammen mit dem Kriegsverlauf noch genauer beschrieben werden soll. Darüber gab es langes und breites Spekulieren und Behaupten. Als sie sich auf ihn stürzten, müssen sie ihm zyklopenhaft, wie von den Bergen heruntergestürzt, mit Felsbrocken und gewaltigen Waffen in ihren Armen und Händen erschienen sein, da er bereits dem Ende entgegendämmerte. Sie werden ihm in die Augen geschaut haben, er schaute müde, schmerzverzerrt zurück, einer stiess ihm mit einer riesenhaften Gabel ins eine Auge, während ihm der andere mit einer Hellebarde auf den Kopf schlug und seinen Schädel zertrümmerte. Es ist nicht belegt, ob er Helm trug oder baren Hauptes war. Im Landesmuseum wird ein gespaltener Helm museal aufbewahrt und gezeigt. Aber es ist nicht gesichert, ob der Säntis-Galöri noch lebte oder bereits tot war und ob er überhaupt einen Helm getragen hat. Ein Mann, der wie Zwingli im Fadenkreuz der Feindschaften gestanden hat, der löste zu allen Zeiten ungeahnte widersprüchliche Geschichten aus.
Zwei Jahre zuvor, als die Schlacht vor Beginn gestoppt worden war, wie die Chronisten nachträglich schrieben, und die Parteien sich mit ihrem Kriegsgerät auf dem Feld operettenhaft in die Wiese hockten und die Milchsuppe der Innerschweizer, darin das Brot der Zürcher, ausgelöffelt hatten, war selbst das nicht so lustig, wie es von Genremalern über die Jahrhunderte dargestellt worden war. Historienmalerei nannte man das. Mit der Historie war diese Malerei geistig kaum in Berührung gekommen. Ihr Naturalismus ist lächerlich, ohne geschichtsphilosophischen Anspruch. Die Wahrscheinlichkeit des gepinselten Geschehens war astronomisch weit weg von den tatsächlichen Ereignissen. Die Künstler versuchten eine Art antiquarische Genauigkeit, sie malten museale Schlitz-Wämschen, Blech-Rüstungen, Helmchen, bunte Federbüsche auf den Köpfen, sie zeichneten grosse Bärte und auffallende Schnurrbärte und verwegene Blicke. Sie inszenierten ein folkloristisches Milch-Suppen-Picknick von fröhlich herausgeputzten, hübsch kostümierten Kriegsknechten, die zu den Löffeln greifen. Auf diesen Bildern sieht alles so adrett und unschuldig aus wie auf den Bühnen der Tellspiele in den innerschweizerischen Ortschaften. Der kriegerische Feldzug ist hier nicht spürbar, obwohl wir doch mitten in der Zeit der Söldnerei lebten und ungezählte Innerschweizer jahrelang Reisläuferei betrieben. Bedrohung, Hass zwischen den Konfessionen, verbreiteter Schrecken oder Angst, nichts von all dem lässt sich auf den Bildern ahnen. Hier befindet man sich auf einem Ausflug einiger theatralischer Waffenbrüder, die sich im Feld romantisch gestimmt bei der Vesper treffen. Damals gab es noch keinen Cervelat und keine Feuerstellen für die Schweizer Familie, sonst hätten die Mannen Würste gebraten.
DER SÄNTISGALÖRI
Dieser Säntis-Galöri, wie er von katholischen Innerschweizern genannt wurde, mit echtem Namen Ulrich Zwingli, war im Schatten des Säntis aufgewachsen. Auf der linken Schulter des imposanten Bergs, der damals von keinem Menschen jemals bestiegen worden war, den heute aber Millionen befliegen, ohne an den Säntis-Galöri zu denken, ja nicht einmal der lustige Übername ist ihnen bekannt. Doch das Kind gedieh ebenda in einem warmen Familiennest, in der Luft der Leidenschaft für die Freiheit, wie Zwingli es nannte, mit mehreren Brüdern und auch Schwestern, es waren also acht Söhne und drei Töchter, von den Mädchen sind nicht einmal die Namen bekannt. Fünf der Zwingli-Brüder wurden Bauern und blieben Bauern im Tal. Es wurde gerodet, um Weideland zu schaffen. In der Talsohle wurde Sumpfgebiet einer Urbanisierung unterzogen. Davon künden noch die Ortsnamen Moos, Riethalde und Lisighaus. Es war vor Ulrichs Zeit eine weltabgeschiedene Gegend gewesen.
Erst der Strassenbau hat das Tal über die Passhöhe mit der Rheintaler Seite verbunden. Nun konnten die Bergbauern mit ihren Produkten hinunter ins Tal ziehen und Handel treiben, denn bis weit ins 15. Jahrhundert hinein waren die Bauern hier Selbstversorger gewesen.
Drei der Zwingli-Brüder ergriffen ein akademisches Studium. Jakob studierte nach seinem Mönchsgelübde in Wien bei dem später berühmten St. Galler Humanisten Joachim von Watt, genannt Vadian, wie auch später Ulrich Zwingli. Vadian wurde dann einer der engsten Freunde des späteren Reformators. Jakob starb früh, schon 1517 in Wien, an der Pest. Auch der Jüngste, Andreas, begann seine Studien, fiel ebenfalls noch als Jüngling 1520 in Zürich der Pest zum Opfer, nachdem er an Ulrichs Griechisch-Kränzchen teilgenommen und seinem Bruder zu grossen Hoffnungen Anlass gegeben hatte. Der Verlust seiner zwei begabten Brüder muss für Ulrich Zwingli, der 1519 ebenfalls an der Pest erkrankte, sie aber überwand, schlimm gewesen sein.
Der Vater war angesehener Bauer und Ammann, also ein geachteter Mann der Talschaft und der Kommunalpolitik, eine Führungsfigur und ein bescheiden wohlhabender Bauer, für diese Berglandschaft eigentlich ein Grossbauer. Er war auch an den nicht zu unterschätzenden Einnahmen des Passverkehrs beteiligt. Mutter Margareta, geborene Bruggmann, liess kaum etwas über sich zurück, ebenso wenig wie ihre Töchter, was im historischen Kontext nicht verwunderlich ist. Zwei der Töchter gingen ins Kloster, was für die Zeit nicht untypisch war, dann aber wurden sie später von ihrem Bruder Ulrich ermuntert, schliesslich evangelisch zu heiraten.
Heinrich Zwingli, Ammann zum Wilden Huss, dem toggenburgischen Wildhaus, Vorsteher des Thurtales, Grossvater des späteren Reformators Ulrich Zwingli, prozessierte 1477 im Veltlin wegen einer bereits bezahlten Weinlieferung, wie einem alten Schriftstück im Staatsarchiv Mailand zu entnehmen ist. Es sei nun schon etwa das zehnte Jahr, dass er von einem Veltliner Weinhändler eine grosse Menge Wein gekauft habe, für 250 Rheingulden. Diesen Wein habe er voll und ganz bezahlt und ausser zurückgelassenen elf Fudern damals heimgeschafft. Nun wollte er die elf zurückgelassenen Fuder abholen. Doch der Verkäufer verweigerte ihm die Herausgabe seines Weins, weil Heinrich Zwingli nicht zum verabredeten Zeitpunkt erschienen sei, damit der Weinhändler die Fässer leeren konnte, wie dieser behauptete. Heinrich Zwingli hat sofort Einspruch erhoben, es sei überhaupt kein Termin vereinbart worden damals. Doch das Gericht im Veltlin hat für den ansässigen Händler entschieden. Ihm sei kein Tröpflein Wein herausgegeben worden. Die Reiter, die er für den Transport von Getreide nach dem Veltlin und für jenen des Weins zurück ins Toggenburg angeheuert habe, habe er mit dem Getreide entlöhnen müssen, und so habe er gewaltige Verluste von über 200 Rheintaler erlitten. So klagte er in der Beschwerde an die Herzoginwitwe Bona von Savoyen in Mailand, unter deren Oberhoheit das Veltlin stand. Die Herzogin entschied für Grossvater Zwingli und sprach ihm volle Genugtuung zu.
Solche Export-Import-Geschäfte verlangten eine gewisse Kühnheit, denn sie waren nicht ohne Risiko. Die oberitalienischen Behörden und Gerichte hatten sich mit vielen Beschwerden und Klagen herumzuschlagen. Beweise waren oft schwer beizubringen. So waren der Willkür Tür und Tor geöffnet. Die eidgenössischen Kaufleute brachten Käse, Ziger, Schlachtvieh und Pferde auf die oberitalienischen Märkte; sie verwendeten den Erlös mit Vorliebe zum Kauf von Tuch, Reis, Kastanien und Wein, auch Früchten. Für die 250 Rheinischen Gulden bekam Heinrich Zwingli gut 350 Hektoliter Wein, das reichte für das ganze Thurtal. Er hatte also eine Art Monopolstellung im Tal. Er musste ein besonders unternehmungslustiger, geschäftstüchtiger Mann gewesen sein, denn er war nicht in erster Linie Kaufmann, sondern Grossbauer, natürlich gross im Massstab des schweizerischen Bergtals. Tatsächlich waren die Zwinglis begüterte Bauern, die auch einen gewissen Ehrgeiz entwickelten. Schon ein Sohn Heinrichs hatte Theologie studiert, eben Ulrichs Onkel in Weesen, und der besass weit mehr als normalerweise ein Landpriester hatte.
Ulrich Zwingli nannte sich im Laufe seines Lebens Huldrich. Das war eine humanistisch-volksethymologische Spielerei, die ihm gefiel. Der Name Zwingli leitete sich ab von Twing, was umfriedetes Bauerngut bedeutete. Luther nannte Zwingli fast immer Zwingel, da er die Heilige Schrift in seinem Sinne zwinge.
WILDHAUS
Seitwärts vom Berg Säntis, hoch oben, fast auf der Passhöhe, wo in uralten Zeiten mal ein «wildes Haus» gestanden haben soll, eine gewaltige quadratische Ritterburg über den einfachen Siedlungen, dort befindet sich der Ort Wildhaus. Hier hausten die Vögte, danach nicht bestimmte Edle und Grafen und zeitweilig Gesandte des Klosters von Einsiedeln und des Stifts von St. Gallen. Alles andere als Wilde also. Es gibt gar Theorien, die Burg sei im Hochmittelalter ein produktives Zentrum für die Pflege von Dichtung gewesen.
Am Neujahrstag 1484 kam in diesem Wildhaus Ueli auf die Welt. Und am 6. Januar, dem Dreikönigs- oder Epiphanias-Tag, am Tag der Erscheinung des Herrn, wurde er getauft, sechs Tage nach der Geburt deshalb, weil die Taufe in der Kirche in Gams unten im Rheintal durchgeführt wurde. Im Winter war der Weg dorthin ziemlich beschwerlich. Dieser Gang musste vorbereitet werden.
Wildhaus, auf 1100 Meter über Meer gelegen, war noch kaum ein Dorf, die Talschaft mit verstreuten Einzelhöfen besiedelt. Im 14. Jahrhundert wurde durch Rodungen Weideland gewonnen und im 15. Jahrhundert bauten die Väter die Strasse vom Rheintal über den Pass hinüber ins Toggenburg. Das war die entscheidende grosse Leistung, damit überwand das Tal seine Abgeschlossenheit und band sich auf den zwei Seiten ans Geschäftsleben an.
Jetzt fuhren und wanderten die Alpbauern auf die Märkte ins Rheintal und an die untere Thur und boten ihre Produkte an und brachten Obst und Früchte mit nach Hause. Das Tal florierte, natürlich in einem bescheidenen Masse. So blieben auch die Bewohner bescheiden. Unserem Zwingli war die genügsame Lebensweise in Fleisch und Blut übergegangen. Man hatte es hartnäckig sogar mit Ackerbau versucht, aber ausser Gerste wuchs hier kein Getreide. Es scheint aber jedenfalls gesichert, dass die Zwinglis nie Mangel hatten, alles Nötige war da, mochten die Lebensverhältnisse auch schlicht sein, die Kästen und Truhen waren meistens voll.
Uelis Weg innnerhalb dieser Bergbauernfamilie ist ein Unikum. Die drei Jüngsten gingen den Bildungsweg. Die fünf Älteren blieben Bauern. Ueli wurde schon als sechsjähriger Knabe an einen Onkel in die Schule nach Weesen am Walensee zur offensichtlich frühen systematischen Ausbildung gegeben. Bedenken wir, dass wir uns mitten in der Realität des alten Glaubens befinden, dass das kirchliche Oberhaupt der Toggenburger Landschaft der Bischof von Konstanz war, dass der kleine Ueli wahrscheinlich noch Messdiener war, mindestens in Weesen, vielleicht dort sogar in der Messe unter der Leitung seines Onkels Bartholomäus, der ihm zeigte, wer der Herr im Hause ist.
Man hatte etwas vor mit Ueli, er wird besonders aufgeweckt gewesen sein. Der Onkel Bartholomäus Zwingli war in Weesen Pfarrer und Dekan. Wie er da gelebt hat, wissen wir nicht. Mit zehn Jahren war der Junge jedenfalls so sattelfest im Lesen und Schreiben, dass er über die Weesener Schule hinausgewachsen war, sodass Onkel Barthli ihn an den aus Weesen stammenden Lehrer Gregorius Bünzli in Basel gab. Man profitierte auch zu der Zeit von Beziehungen und schöpfte sie aus.
Ulrich war also in der Familie der Auserkorene. Zwar gingen auch die zwei jüngeren Brüder den Weg des akademischen Studiums, denn man muss bedenken, dass nicht für alle jungen Männer Platz war im Bauernstand. Doch man entschied sich in Ulrichs Fall sehr früh und begann ihn bereits sechsjährig auf diesen Weg der Bildung zu schicken. Das sieht nach Planung für den Jungen aus, auch nach Familienehrgeiz. Und offenbar hatte der Toggenburger Bauernsohn Begabung und Spass am Lernen und wurde den familiären Ausrichtungen und Plänen ganz natürlich gerecht. Wie ein musikalisch Begabter im Biotop der Musikersippe früh die Grundlagen des musikalischen Handwerks erlernt und seine Begabung ganz natürlich im Familienverband gefördert wird, so lernte der kleine Ulrich als Kind den selbstverständlichen Umgang mit dem geistigen Rüstzeug von seinem Onkel, wenn auch nicht direkt in der Familie selbst, aber es führte dazu, dass er kaum über 20-jährig bereits ein frühreifer intellektueller Kopf war.