Franz Kafka: Sämtliche Werke

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Er war schon fast im eigentlichen Schlafe, da hörte er einen lauten Schrei, erhob sich und sah die Brunelda aufrecht auf dem Kanapee sitzen, die Arme weit ausbreiten und Delamarche, der vor ihr kniete, umschlingen. Karl, dem der Anblick peinlich war, lehnte sich wieder zurück und versenkte sich in die Vorhänge zur Fortsetzung des Schlafes. Daß er hier auch nicht zwei Tage aushalten würde, schien ihm klar zu sein, desto nötiger aber war es sich zuerst gründlich auszuschlafen, um sich dann bei völligem Verstande schnell und richtig entschließen zu können.

Aber Brunelda hatte schon Karls vor Müdigkeit groß aufgerissene Augen, die sie schon einmal erschreckt hatten, bemerkt und rief: „Delamarche, ich halte es vor Hitze nicht aus, ich brenne, ich muß mich ausziehn, ich muß baden, schick die zwei aus dem Zimmer, wohin Du willst, auf den Gang, auf den Balkon, nur daß ich sie nicht mehr sehe. Man ist in seiner eigenen Wohnung und immerfort gestört. Wenn ich mit Dir allein wäre, Delamarche. Ach Gott, sie sind noch immer da! Wie dieser unverschämte Robinson sich da in Gegenwart einer Dame in seiner Unterkleidung streckt. Und wie dieser fremde Junge, der mich vor einem Augenblick ganz wild angeschaut hat, sich wieder gelegt hat um mich zu täuschen. Nur weg mit ihnen, Delamarche, sie sind mir eine Last, sie liegen mir auf der Brust, wenn ich jetzt umkomme, ist es ihretwegen.“

„Sofort sind sie draußen, zieh Dich nur schon aus“, sagte Delamarche, gieng zu Robinson hin und schüttelte ihn mit dem Fuß, den er ihm auf die Brust setzte. Gleichzeitig rief er Karl zu: „Roßmann, aufstehn! Ihr müßt beide auf den Balkon! Und wehe Euch wenn Ihr früher hereinkommt, ehe man Euch ruft! Und jetzt flink, Robinson“ – dabei schüttelte er Robinson stärker – „und Du Roßmann, gib Acht, daß ich nicht auch über Dich komme“ – dabei klatschte er laut zweimal in die Hände. „Wie lang das dauert!“ rief Brunelda auf dem Kanapee, sie hatte beim Sitzen die Beine weit auseinandergestellt, um ihrem übermäßig dicken Körper mehr Raum zu verschaffen, nur mit größter Anstrengung, unter vielem Schnaufen und häufigem Ausruhn, konnte sie sich soweit bücken um ihre Strümpfe am obersten Ende zu fassen und ein wenig herunterzuziehn, gänzlich ausziehn konnte sie sie nicht, das mußte Delamarche besorgen auf den sie nun ungeduldig wartete.

Ganz stumpf vor Müdigkeit war Karl von dem Haufen heruntergekrochen und gieng langsam zur Balkontüre, ein Stück Vorhangstoffes hatte sich ihm um den Fuß gewickelt und er schleppte es gleichgültig mit. In seiner Zerstreutheit sagte er sogar, als er an Brunelda vorübergieng: „Ich wünsche gute Nacht“ und wanderte dann an Delamarche vorbei, der den Vorhang der Balkontüre ein wenig beiseite zog auf den Balkon hinaus. Gleich hinter Karl kam Robinson wohl nicht minder schläfrig, denn er summte vor sich hin: „Immerfort maltraitiert man einen! Wenn Brunelda nicht mitkommt, gehe ich nicht auf den Balkon.“ Aber trotz dieser Versicherung gieng er ohne jeden Widerstand heraus, wo er sich, da Karl schon in den Lehnstuhl gesunken war, sofort auf den Steinboden legte.

Als Karl erwachte war es schon Abend, die Sterne standen schon am Himmel, hinter den hohen Häusern der gegenüberliegenden Straßenseite stieg der Schein des Mondes empor. Erst nach einigem Umherschauen in der unbekannten Gegend, einigem Aufatmen in der kühlen erfrischenden Luft wurde sich Karl dessen bewußt wo er war. Wie unvorsichtig war er gewesen, alle Ratschläge der Oberköchin, alle Warnungen Thereses, alle eigenen Befürchtungen hatte er vernachlässigt, saß hier ruhig auf dem Balkon des Delamarche und hatte hier gar den halben Tag verschlafen, als sei nicht hier hinter dem Vorhang Delamarche, sein großer Feind. Auf dem Boden wand sich der faule Robinson und zog Karl am Fuße, er schien ihn auch auf diese Weise geweckt zu haben, denn er sagte: „Du hast einen Schlaf Roßmann! Das ist die sorglose Jugend. Wie lange willst Du denn noch schlafen. Ich hätte Dich ja noch schlafen lassen, aber erstens ist es mir da auf dem Boden zu langweilig und zweitens habe ich einen großen Hunger. Ich bitte Dich steh ein wenig auf, ich habe da unten im Sessel drin etwas zum Essen aufgehoben, ich möchte es gern herausziehn. Du bekommst dann auch etwas.“ Und Karl, der aufstand, sah nun zu, wie Robinson, ohne aufzustehn, sich auf den Bauch herüberwälzte und mit ausgestreckten Händen unter dem Sessel eine versilberte Schale hervorzog, wie sie etwa zum Aufbewahren von Visitkarten dient. Auf dieser Schale lag aber eine halbe ganz schwarze Wurst, einige dünne Cigaretten, eine geöffnete aber noch gut gefüllte und von Öl überfließende Sardinenbüchse und eine Menge meist zerdrückter und zu einem Ballen gewordener Bonbons. Dann erschien noch ein großes Stück Brot und eine Art Parfümflasche, die aber etwas anderes als Parfum zu enthalten schien, denn Robinson zeigte mit besonderer Genugtuung auf sie und schnalzte zu Karl hinauf. „Siehst Du Roßmann“, sagte Robinson, während er Sardine nach Sardine herunterschlang und hie und da die Hände vom Öl an einem Wolltuch reinigte, das offenbar Brunelda auf dem Balkon vergessen hatte. „Siehst Du Roßmann, so muß man sich sein Essen aufheben, wenn man nicht verhungern will. Du, ich bin ganz bei Seite geschoben. Und wenn man immerfort als Hund behandelt wird denkt man schließlich man ists wirklich. Gut, daß Du da bist, Roßmann, ich kann wenigstens mit jemandem reden. Im Haus spricht ja niemand mit mir. Wir sind verhaßt. Und alles wegen der Brunelda. Sie ist ja natürlich ein prächtiges Weib. Du –“ und er winkte Karl zu sich herab um ihm zuzuflüstern – „ich habe sie einmal nackt gesehn. Oh!“ – und in der Erinnerung an diese Freude fieng er an, Karls Beine zu drücken und zu schlagen, bis Karl ausrief: „Robinson Du bist ja verrückt“, seine Hände packte und zurückstieß.

„Du bist eben noch ein Kind, Roßmann“, sagte Robinson, zog einen Dolch, den er an einer Halsschnur trug, unter dem Hemd hervor, nahm die Dolchkappe ab und zerschnitt die harte Wurst. „Du mußt noch viel zulernen. Bist aber bei uns an der richtigen Quelle. Setz Dich doch. Willst Du nicht auch etwas essen. Nun vielleicht bekommst Du Appetit, wenn Du mir zuschaust. Trinken willst Du auch nicht? Du willst aber rein gar nichts. Und gesprächig bist Du gerade auch nicht besonders. Aber es ist ganz gleichgültig, mit wem man auf dem Balkon ist, wenn nur überhaupt jemand da ist. Ich bin nämlich sehr oft auf dem Balkon. Das macht der Brunelda solchen Spaß. Es muß ihr nur etwas einfallen, einmal ist ihr kalt, einmal heiß, einmal will sie schlafen, einmal will sie sich kämmen, einmal will sie das Mieder öffnen, einmal will sie es anziehn und da werde ich immer auf den Balkon geschickt. Manchmal tut sie wirklich das was sie sagt, aber meistens liegt sie nur so wie früher auf dem Kanapee und rührt sich nicht. Früher habe ich öfters den Vorhang so ein wenig weggezogen und durchgeschaut, aber seitdem einmal Delamarche bei einer solchen Gelegenheit – ich weiß genau daß er es nicht wollte, sondern es nur auf Bruneldas Bitte tat – mir mit der Peitsche einige Male ins Gesicht geschlagen hat – siehst Du den Striemen? – wage ich nicht mehr durchzuschauen. Und so liege ich dann hier auf dem Balkon und habe kein Vergnügen außer dem Essen. Vorgestern als ich da abend so allein gelegen bin, damals war ich noch in meinen eleganten Kleidern die ich leider in Deinem Hotel verloren habe – diese Hunde! reißen einem die teuern Kleider vom Leib! – als ich also da so allein gelegen bin und durch das Geländer heruntergeschaut habe, war mir alles so traurig und ich habe zu heulen angefangen. Da ist zufällig ohne daß ich es gleich bemerkt habe, die Brunelda zu mir herausgekommen in dem roten Kleid – das paßt ihr doch von allen am besten –, hat mir ein wenig zugeschaut und hat endlich gesagt: ‚Robinsonerl, warum weinst Du?‘ Dann hat sie ihr Kleid gehoben und mir mit dem Saum die Augen abgewischt. Wer weiß, was sie noch getan hätte, wenn da nicht Delamarche nach ihr gerufen hätte und sie nicht sofort wieder ins Zimmer hätte hineingehn müssen. Natürlich habe ich gedacht, jetzt sei die Reihe an mir und habe durch den Vorhang gefragt ob ich schon ins Zimmer darf. Und was meinst Du, hat die Brunelda gesagt? ‚Nein!‘ hat sie gesagt und ‚was fällt Dir ein?‘ hat sie gesagt.“

„Warum bleibst Du denn hier, wenn man Dich so behandelt?“ fragte Karl.

„Verzeih, Roßmann, Du fragst nicht sehr gescheit“, antwortete Robinson. „Du wirst schon auch noch hier bleiben und wenn man Dich noch ärger behandelt. Übrigens behandelt man mich gar nicht so arg.“

„Nein“, sagte Karl, „ich gehe bestimmt weg und womöglich noch heute abend. Ich bleibe nicht bei Euch.“

„Wie willst Du denn z. B. das anstellen, heute abend wegzugehn?“ fragte Robinson, der das Weiche aus dem Brot herausgeschnitten hatte und sorgfältig in dem Öl der Sardinenbüchse tränkte. „Wie willst Du weggehn, wenn Du nicht einmal ins Zimmer hineingehn darfst.“

„Warum dürfen wir denn nicht hineingehn?“

„Nun solange es nicht geläutet hat dürfen wir nicht hineingehn“, sagte Robinson, der mit möglichst weit geöffnetem Mund das fette Brot verspeiste, während er mit einer Hand das vom Brot herabtropfende Öl auffieng, um von Zeit zu Zeit das noch übrige Brot in diese als Reservoir dienende hohle Hand zu tauchen. „Es ist hier alles strenger geworden. Zuerst war da nur ein dünner Vorhang, man hat zwar nicht durchgesehn, aber am Abend hat man doch die Schatten erkannt. Das war der Brunelda unangenehm und da habe ich einen ihrer Teatermäntel zu einem Vorhang umarbeiten und statt des alten Vorhanges hier aufhängen müssen. Jetzt sieht man gar nichts mehr. Dann habe ich früher immer fragen dürfen, ob ich schon hineingehn darf und man hat mir je nach den Umständen geantwortet ‚ja‘ oder ‚nein‘, aber dann habe ich das wahrscheinlich zu sehr ausgenützt und zu oft gefragt, Brunelda konnte das nicht ertragen – sie ist trotz ihrer Dicke sehr schwach veranlagt, Kopfschmerzen hat sie oft und Gicht in den Beinen fast immer – und so wurde bestimmt, daß ich nicht mehr fragen darf, sondern daß, wenn ich hineingehn kann, auf die Tischglocke gedrückt wird. Das gibt ein solches Läuten, daß es mich selbst aus dem Schlaf weckt – ich habe einmal eine Katze zu meiner Unterhaltung hier gehabt, die ist vor Schrecken über dieses Läuten weggelaufen und nicht mehr zurückgekommen. Also geläutet hat es heute noch nicht – wenn es nämlich läutet dann darf ich nicht nur, sondern muß hineingehn – und wenn es einmal so lange nicht läutet, dann kann es noch sehr lange dauern.“

 

„Ja“, sagte Karl, „aber was für Dich gilt, muß doch noch nicht für mich gelten. Überhaupt gilt so etwas nur für den, der es sich gefallen läßt.“

„Aber“, rief Robinson, „warum sollte denn das nicht auch für Dich gelten? Selbstverständlich gilt es auch für Dich. Warte hier nur ruhig mit mir, bis es läutet. Dann kannst Du ja versuchen, ob Du wegkommst.“

„Warum gehst Du denn eigentlich nicht fort von hier? Nur deshalb weil Delamarche Dein Freund ist oder besser war? Ist denn das ein Leben? Wäre es da nicht in Butterford besser, wohin Ihr zuerst wolltet? Oder gar in Kalifornien wo Du Freunde hast.“

„Ja“, sagte Robinson, „das konnte niemand voraussehn.“ Und ehe er weitererzählte, sagte er noch: „auf Dein Wohl, lieber Roßmann“ und nahm einen langen Zug aus der Parfumflasche. „Wir waren ja damals wie Du uns so gemein hast sitzen lassen, sehr schlecht daran. Arbeit konnten wir an den ersten Tagen keine bekommen, Delamarche übrigens wollte keine Arbeit, er hätte sie schon bekommen, sondern schickte nur immer mich auf Suche und ich habe kein Glück. Er hat sich nur so herumgetrieben, aber es war schon fast Abend, da hatte er nur ein Damenportemonnaie mitgebracht, es war zwar sehr schön, aus Perlen, jetzt hat er es der Brunelda geschenkt, aber es war fast nichts darin. Dann sagte er wir sollten in die Wohnungen betteln gehn, bei dieser Gelegenheit kann man natürlich manches Brauchbare finden, wir sind also betteln gegangen und ich habe, damit es besser aussieht, vor den Wohnungstüren gesungen. Und wie schon Delamarche immer Glück hat, sind wir nur vor der zweiten Wohnung gestanden, einer sehr reichen Wohnung im Parterre, und haben an der Tür der Köchin und dem Diener etwas vorgesungen, da kommt die Dame, der diese Wohnung gehört, eben Brunelda die Treppe hinauf. Sie war vielleicht zu stark geschnürt und konnte die paar Stufen gar nicht heraufkommen. Aber wie schön sie ausgesehn hat, Roßmann! Sie hat ein ganz weißes Kleid und einen roten Sonnenschirm gehabt. Zum Ablecken war sie. Zum Austrinken war sie. Ach Gott, ach Gott war sie schön. So ein Frauenzimmer! Nein sag mir nur wie kann es so ein Frauenzimmer geben? Natürlich ist das Mädchen und der Diener gleich ihr entgegengelaufen und haben sie fast hinaufgetragen. Wir sind rechts und links von der Tür gestanden und haben salutiert, das macht man hier so. Sie ist ein wenig stehn geblieben, weil sie noch immer nicht genug Atem hatte und nun weiß ich nicht, wie das eigentlich geschehen ist, ich war durch das Hungern nicht ganz bei Verstand und sie war eben in der Nähe noch schöner und riesig breit und infolge eines besondern Mieders, ich kann es Dir dann im Kasten zeigen, überall so fest – kurz, ich habe sie ein bißchen hinten angerührt, aber ganz leicht weißt Du, nur so angerührt. Natürlich kann man das nicht dulden, daß ein Bettler eine reiche Dame anrührt. Es war ja fast keine Berührung, aber schließlich war es eben doch eine Berührung. Wer weiß, wie schlimm das ausgefallen wäre, wenn mir nicht Delamarche sofort eine Ohrfeige gegeben hätte und zwar eine solche Ohrfeige, daß ich sofort meine beiden Hände für die Wange brauchte.“

„Was Ihr getrieben habt“, sagte Karl, von der Geschichte ganz gefangen genommen und setzte sich auf den Boden. „Das war also Brunelda?“

„Nun ja“, sagte Robinson, „das war Brunelda.“

„Sagtest Du nicht einmal, daß sie eine Sängerin ist?“ fragte Karl.

„Freilich ist sie eine Sängerin und eine große Sängerin“, antwortete Robinson, der eine große Bonbonmasse auf der Zunge wälzte und hie und da ein Stück, das aus dem Mund gedrängt wurde mit den Fingern wieder zurückdrückte. „Aber das wußten wir natürlich damals noch nicht, wir sahen nur daß es eine reiche und sehr feine Dame war. Sie tat, als wäre nichts geschehn und vielleicht hatte sie auch nichts gespürt, denn ich hatte sie tatsächlich nur mit den Fingerspitzen angetippt. Aber immerfort hat sie den Delamarche angesehn, der ihr wieder – wie er das schon trifft – gerade in die Augen zurückgeschaut hat. Darauf hat sie zu ihm gesagt: ‚Komm mal auf ein Weilchen herein‘ und hat mit dem Sonnenschirm in die Wohnung gezeigt, wohin Delamarche ihr vorangehn sollte. Dann sind sie beide hineingegangen und die Dienerschaft hat hinter ihnen die Türe zugemacht. Mich haben sie draußen vergessen und da habe ich gedacht es wird nicht gar so lange dauern und habe mich auf die Treppe gesetzt, um Delamarche zu erwarten. Aber statt des Delamarche ist der Diener herausgekommen und hat mir eine ganze Schüssel Suppe herausgebracht, ‚eine Aufmerksamkeit des Delamarche!‘ sagte ich mir. Der Diener blieb noch während ich aß ein Weilchen bei mir stehn und erzählte mir Einiges über Brunelda und da habe ich gesehn, was für eine Bedeutung der Besuch bei Brunelda für uns haben konnte. Denn Brunelda war eine geschiedene Frau, hatte ein großes Vermögen und war vollständig selbstständig. Ihr früherer Mann ein Cacaofabrikant liebte sie zwar noch immer, aber sie wollte von ihm nicht das geringste hören. Er kam sehr oft in die Wohnung, immer sehr elegant wie zu einer Hochzeit angezogen – das ist Wort für Wort wahr, ich kenne ihn selbst – aber der Diener wagte trotz der größten Bestechung nicht Brunelda zu fragen, ob sie ihn empfangen wollte, denn er hatte einigemal schon gefragt, und immer hatte ihm Brunelda das was sie gerade bei der Hand hatte ins Gesicht geworfen. Einmal sogar ihre große gefüllte Wärmeflasche und mit der hatte sie ihm einen Vorderzahn ausgeschlagen. Ja, Roßmann da schaust Du!“

„Woher kennst Du den Mann?“ fragte Karl.

„Er kommt manchmal auch herauf“, sagte Robinson.

„Herauf?“ Karl schlug vor Staunen leicht mit der Hand auf den Boden.

„Du kannst ruhig staunen“, fuhr Robinson fort, „selbst ich habe gestaunt, wie mir das der Diener damals erzählt hat. Denk nur, wenn Brunelda nicht zuhause war, hat sich der Mann von dem Diener in ihre Zimmer führen lassen und immer eine Kleinigkeit als Andenken mitgenommen und immer etwas sehr Teueres und Feines für Brunelda zurückgelassen und dem Diener streng verboten zu sagen von wem es ist. Aber einmal als er etwas – wie der Diener sagte und ich glaub es – geradezu Unbezahlbares aus Porzellan mitgebracht hatte, muß Brunelda es irgendwie erkannt haben, hat es sofort auf den Boden geworfen, ist darauf herumgetreten, hat es angespuckt und noch einiges andere damit gemacht, so daß es der Diener vor Ekel kaum heraustragen konnte.“

„Was hat ihr denn der Mann getan?“ fragte Karl.

„Das weiß ich eigentlich nicht“, sagte Robinson. „Ich glaube aber, nichts besonderes, wenigstens weiß er es selbst nicht. Ich habe ja schon manchmal mit ihm darüber gesprochen. Er erwartet mich täglich dort an der Straßenecke, wenn ich komme, so muß ich ihm Neuigkeiten erzählen, kann ich nicht kommen, wartet er eine halbe Stunde und geht dann wieder weg. Es war für mich ein guter Nebenverdienst, denn er bezahlt die Nachrichten sehr vornehm, aber seit Delamarche davon erfahren hat, muß ich ihm alles abliefern und so geh ich seltener hin.“

„Aber was will der Mann haben?“ fragte Karl, „was will er denn nur haben? Er hört doch, sie will ihn nicht.“

„Ja“, seufzte Robinson, zündete sich eine Cigarette an und blies unter großen Armschwenkungen den Rauch in die Höhe. Dann schien er sich anders zu entschließen und sagte: „Was kümmert das mich? Ich weiß nur, er möchte viel Geld dafür geben, wenn er so hier auf dem Balkon liegen dürfte, wie wir.“

Karl stand auf, lehnte sich ans Geländer und sah auf die Straße hinunter. Der Mond war schon sichtbar, in die Tiefe der Gasse drang sein Licht aber noch nicht. Die am Tag so leere Gasse war besonders vor den Haustoren gedrängt voll Menschen, alle waren in langsamer schwerfälliger Bewegung, die Hemdärmel der Männer, die hellen Kleider der Frauen hoben sich schwach vom Dunkel ab, alle waren ohne Kopfbedeckung. Die vielen Balkone ringsherum waren nun insgesamt besetzt, dort saßen beim Licht einer Glühlampe die Familien je nach der Größe des Balkons um einen kleinen Tisch herum oder bloß auf Sesseln in einer Reihe oder sie steckten wenigstens die Köpfe aus dem Zimmer hervor. Die Männer saßen breitbeinig da, die Füße zwischen den Geländerstangen hinausgestreckt und lasen Zeitungen, die fast bis auf den Boden reichten, oder spielten Karten, scheinbar stumm aber unter starken Schlägen auf die Tische, die Frauen hatten den Schooß voll Näharbeit und erübrigten nur hie und da einen kurzen Blick für ihre Umgebung oder für die Straße, eine blonde schwache Frau auf dem benachbarten Balkon gähnte immerfort, verdrehte dabei die Augen und hob immer vor den Mund ein Wäschestück, das sie gerade flickte, selbst auf den kleinsten Balkonen verstanden es die Kinder einander zu jagen, was den Eltern sehr lästig fiel. Im Innern vieler Zimmer waren Grammophone aufgestellt und bliesen Gesang oder Orchestralmusik hervor, man kümmerte sich nicht besonders um diese Musik, nur hie und da gab der Familienvater einen Wink und irgendjemand eilte ins Zimmer hinein, um eine neue Platte einzulegen. An manchen Fenstern sah man vollständig bewegungslose Liebespaare, an einem Fenster Karl gegenüber stand ein solches Paar aufrecht, der junge Mann hatte seinen Arm um das Mädchen gelegt und drückte mit der Hand ihre Brust.

„Kennst Du jemanden von den Leuten hier nebenan?“ fragte Karl Robinson, der nun auch aufgestanden war und weil es ihn fröstelte außer der Bettdecke auch noch die Decke Bruneldas um sich gewickelt hielt.

„Fast niemanden. Das ist ja eben das Schlimme an meiner Stellung“, sagte Robinson und zog Karl näher zu sich, um ihm ins Ohr flüstern zu können, „sonst hätte ich mich augenblicklich nicht gerade zu beklagen. Die Brunelda hat ja wegen des Delamarche alles was sie hatte verkauft und ist mit allen ihren Reichtümern hierher in diese Vorstadtwohnung gezogen, damit sie sich ihm ganz widmen kann und damit sie niemand stört, übrigens war das auch der Wunsch des Delamarche.“

„Und die Dienerschaft hat sie entlassen?“ fragte Karl.

„Ganz richtig“, sagte Robinson. „Wo sollte man auch die Dienerschaft hier unterbringen? Diese Diener sind ja sehr anspruchsvolle Herren. Einmal hat Delamarche bei der Brunelda einen solchen Diener einfach mit Ohrfeigen aus dem Zimmer getrieben, da ist eine nach der andern geflogen, bis der Mann draußen war. Natürlich haben die andern Diener sich mit ihm vereinigt und vor der Tür Lärm gemacht, da ist Delamarche herausgekommen (ich war damals nicht Diener, sondern Hausfreund, aber doch war ich mit den Dienern beisammen) und hat gefragt: ‚Was wollt ihr?‘ Der älteste Diener, ein gewisser Isidor, hat daraufhin gesagt: ‚Sie haben mit uns nichts zu reden, unsere Herrin ist die gnädige Frau.‘ Wie Du wahrscheinlich merkst haben sie Brunelda sehr verehrt. Aber Brunelda ist ohne sich um sie zu kümmern, zu Delamarche gelaufen, sie war damals doch noch nicht so schwer wie jetzt, hat ihn vor allen umarmt, geküßt und ‚liebster Delamarche‘ genannt. ‚Und schick doch schon diese Affen weg‘, hat sie endlich gesagt. Affen – das sollten die Diener sein, stell Dir die Gesichter vor, die sie da machten. Dann hat die Brunelda die Hand des Delamarche zu ihrer Geldtasche hingezogen die sie am Gürtel trug, Delamarche hat hineingegriffen und also angefangen die Diener auszuzahlen, die Brunelda hat sich nur dadurch an der Auszahlung beteiligt, daß sie mit der offenen Geldtasche im Gürtel dabei gestanden ist. Delamarche mußte oft hineingreifen, denn er verteilte das Geld, ohne zu zählen und ohne die Forderungen zu prüfen. Schließlich sagte er: Da Ihr also mit mir nicht reden wollt, sage ich Euch nur im Namen Bruneldas ‚Packt Euch, aber sofort.‘ So sind sie entlassen worden, es gab dann noch einige Processe, Delamarche mußte sogar einmal zum Gericht, aber davon weiß ich nichts genaueres. Nur gleich nach dem Abschied der Diener hat Delamarche zur Brunelda gesagt: ‚Jetzt hast Du also keine Dienerschaft?‘ Sie hat gesagt: ‚Aber da ist ja Robinson.‘ Daraufhin hat Delamarche gesagt und hat mir dabei einen Schlag auf die Achsel gegeben: ‚Also gut, Du wirst unser Diener sein.‘ Und Brunelda hat mir dann auf die Wange geklopft, wenn sich die Gelegenheit findet, Roßmann, laß Dir auch einmal von ihr auf die Wangen klopfen, Du wirst staunen, wie schön das ist.“

 

„Du bist also der Diener des Delamarche geworden?“ sagte Karl zusammenfassend.

Robinson hörte das Bedauern aus der Frage heraus und antwortete: „Ich bin Diener, aber das bemerken nur wenige Leute. Du siehst, Du selbst wußtest es nicht, trotzdem Du doch schon ein Weilchen bei uns bist. Du hast ja gesehn, wie ich in der Nacht bei Euch im Hotel angezogen war. Das Feinste vom Feinen hatte ich an, gehn Diener so angezogen? Nur ist eben die Sache die, daß ich nicht oft weggehn darf, ich muß immer bei der Hand sein, in der Wirtschaft ist eben immer etwas zu tun. Eine Person ist eben zu wenig für die viele Arbeit. Wie Du vielleicht bemerkt hast, haben wir sehr viele Sachen im Zimmer herumstehn, was wir eben bei dem großen Auszug nicht verkaufen konnten, haben wir mitgenommen. Natürlich hätte man es wegschenken können, aber Brunelda schenkt nichts weg. Denk Dir nur, welche Arbeit es gegeben hat, diese Sachen die Treppe heraufzutragen.“

„Robinson, Du hast das alles heraufgetragen?“ rief Karl.

„Wer denn sonst?“ sagte Robinson. „Es war noch ein Hilfsarbeiter da, ein faules Luder, ich habe die meiste Arbeit allein machen müssen. Brunelda ist unten beim Wagen gestanden, Delamarche hat oben angeordnet, wohin die Sachen zu legen sind, und ich bin immerfort hin und hergelaufen. Es hat zwei Tage gedauert, sehr lange, nicht wahr? aber Du weißt ja gar nicht wie viel Sachen hier im Zimmer sind, alle Kästen sind voll und hinter den Kästen ist alles vollgestopft bis zur Decke hinauf. Wenn man ein paar Leute für den Transport aufgenommen hätte, wäre ja alles bald fertig gewesen, aber Brunelda wollte es niemandem außer mir anvertrauen. Das war ja sehr schön, aber ich habe damals meine Gesundheit für mein ganzes Leben verdorben und was habe ich denn sonst gehabt, als meine Gesundheit. Wenn ich mich nur ein wenig anstrenge sticht es mich hier und hier und hier. Glaubst Du, diese Jungen im Hotel, diese Grasfrösche – was sind sie denn sonst? – hätten mich jemals besiegen können, wenn ich gesund wäre. Aber was mir auch fehlen sollte, dem Delamarche und der Brunelda sage ich kein Wort, ich werde arbeiten, solange es gehn wird und bis es nicht mehr gehn wird, werde ich mich hinlegen und sterben und dann erst, zu spät, werden sie sehn, daß ich krank gewesen bin und trotzdem immerfort und immerfort weitergearbeitet und mich in ihren Diensten zu Tode gearbeitet habe. Ach Roßmann“, sagte er schließlich und trocknete die Augen an Karls Hemdärmel. Nach einem Weilchen sagte er: „Ist Dir denn nicht kalt, Du stehst da so im Hemd.“

„Geh Robinson“, sagte Karl, „immerfort weinst Du. Ich glaube nicht, daß Du so krank bist. Du siehst ganz gesund aus, aber weil Du immerfort da auf dem Balkon liegst, hast Du Dir so verschiedenes ausgedacht. Du hast vielleicht manchmal einen Stich in der Brust, das habe ich auch, das hat jeder. Wenn alle Menschen wegen jeder Kleinigkeit so weinen wollten, wie Du, müßten da die Leute auf allen Balkonen weinen.“

„Ich weiß es besser“, sagte Robinson und wischte nun die Augen mit dem Zipfel seiner Decke. „Der Student der nebenan bei der Vermieterin wohnt die auch für uns kochte, hat mir letzthin als ich das Eßgeschirr zurückbrachte gesagt: ‚Hören Sie einmal Robinson, sind Sie nicht krank?‘ Mir ist verboten mit den Leuten zu reden und so habe ich nur das Geschirr hingelegt und wollte weggehn. Da ist er zu mir gegangen und hat gesagt: ‚Hören Sie Mann, treiben Sie die Sache nicht zum Äußersten, Sie sind krank.‘ ‚Ja also ich bitte, was soll ich denn machen‘, habe ich gefragt. ‚Das ist Ihre Sache‘, hat er gesagt und hat sich umgedreht. Die andern dort bei Tisch haben gelacht, wir haben ja hier überall Feinde und so bin ich lieber weggegangen.“

„Also Leuten, die Dich zum Narren halten, glaubst Du, und Leuten, die es mit Dir gut meinen, glaubst Du nicht.“

„Aber ich muß doch wissen, wie mir ist“, fuhr Robinson auf, kehrte aber gleich wieder zum Weinen zurück.

„Du weißt eben nicht, was Dir fehlt, Du solltest irgend eine ordentliche Arbeit für Dich suchen, statt hier den Diener des Delamarche zu machen. Denn soweit ich nach Deinen Erzählungen und nach dem, was ich selbst gesehen habe, urteilen kann, ist das hier kein Dienst, sondern eine Sklaverei. Das kann kein Mensch ertragen, das glaube ich Dir. Du aber denkst, weil Du der Freund des Delamarche bist, darfst Du ihn nicht verlassen. Das ist falsch, wenn er nicht einsieht, was für ein elendes Leben Du führst, so hast Du ihm gegenüber nicht die geringsten Verpflichtungen mehr.“

„Du glaubst also wirklich, Roßmann, daß ich mich wieder erholen werde, wenn ich das Dienen hier aufgebe.“

„Gewiß“, sagte Karl.

„Gewiß?“ fragte nochmals Robinson.

„Ganz gewiß“, sagte Karl lächelnd.

„Dann könnte ich ja gleich anfangen, mich zu erholen“, sagte Robinson und sah Karl an.

„Wieso denn?“ fragte dieser.

„Nun weil Du doch meine Arbeit hier übernehmen sollst“, antwortete Robinson.

„Wer hat Dir denn das gesagt?“ fragte Karl.

„Das ist doch ein alter Plan. Davon wird ja schon seit einigen Tagen gesprochen. Es hat damit angefangen, daß Brunelda mich ausgezankt hat, weil ich die Wohnung nicht genug sauber halte. Natürlich habe ich versprochen, daß ich alles gleich in Ordnung bringen werde. Nun ist das aber sehr schwer. Ich kann z. B. in meinem Zustand nicht überall hinkriechen, um den Staub wegzuwischen, man kann sich schon in der Mitte des Zimmers nicht rühren, wie erst dort zwischen den Möbeln und den Vorräten. Und wenn man alles genau reinigen will, muß man doch auch die Möbel von ihrem Platz wegschieben und das soll ich allein machen? Außerdem müßte das alles ganz leise geschehn, weil doch Brunelda, die ja das Zimmer kaum verläßt nicht gestört werden darf. Ich habe also zwar versprochen, daß ich alles rein machen werde, aber rein gemacht habe ich es tatsächlich nicht. Als Brunelda das bemerkt hat, hat sie zu Delamarche gesagt, daß das nicht so weiter geht und daß man noch eine Hilfskraft wird aufnehmen müssen. ‚Ich will nicht, Delamarche‘, hat sie gesagt, ‚daß Du mir einmal Vorwürfe machst, ich hätte die Wirtschaft nicht gut geführt. Selbst kann ich mich nicht anstrengen, das siehst Du doch ein und Robinson genügt nicht, am Anfang war er so frisch und hat sich überall umgesehn, aber jetzt ist er immerfort müde und sitzt meist in einem Winkel. Aber ein Zimmer mit soviel Gegenständen wie das unsrige, hält sich nicht selbst in Ordnung.‘ Daraufhin hat Delamarche nachgedacht, was sich da tun ließe, denn eine beliebige Person kann man natürlich nicht in einen solchen Haushalt aufnehmen, auch zur Probe nicht, denn man paßt uns ja von allen Seiten auf. Weil ich aber Dein guter Freund bin und von Renell gehört habe, wie Du Dich im Hotel plagen mußt, habe ich Dich in Vorschlag gebracht. Delamarche war gleich einverstanden, trotzdem Du damals gegen ihn Dich so keck benommen hast, und ich habe mich natürlich sehr gefreut, daß ich Dir so nützlich sein konnte. Für Dich ist nämlich diese Stellung wie geschaffen, Du bist jung, stark und geschickt, während ich nichts mehr wert bin. Nur will ich Dir sagen, daß Du noch keineswegs aufgenommen bist, wenn Du Brunelda nicht gefällst, können wir Dich nicht brauchen. Also strenge Dich nur an, daß Du ihr angenehm bist, für das übrige werde ich schon sorgen.“

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