Franz Kafka: Sämtliche Werke

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Ein Roman der Jugend

[veröffentlicht am 16.1.1910 in Bohemia, Prag]

Felix Sternheim: Die Geschichte des jungen Oswald. Hyperionverlag Hans von Weber, München 1910.

Ob es will, oder nicht, es ist ein Buch um junge Leute glücklich zu machen.

Vielleicht muß der Leser, während er diesen Roman in Briefform zu lesen beginnt, aus Not ein wenig einfältig werden, denn ein Leser kann nicht gedeihen, beugt man seinen Kopf sogleich mit dem ersten Ruck über den unveränderlichen Strom eines Gefühls. Und vielleicht ist diese Einfalt des Lesers die Ursache, daß ihm die Schwächen des Autors hier im Anfang geradezu morgendlich klar erscheinen: Eine beschränkte Terminologie von Werthers Schatten umkreist, schmerzlich den Ohren mit immer „süß“ und immer „hold“. Ein beständig wiederkehrendes Entzücken, dessen Fülle niemals aufgegeben wird, das aber, oft nur noch gerade an den Worten hängend, tot durch die Seiten geht.

Wird dann aber der Leser vertrauter, bekommt er einen geschützten Platz, dessen Boden schon gemeinsam mit dem Boden der Geschichte zittert, dann ist die Einsicht nicht mehr schwierig, daß die Briefform des Romans den Autor fast mehr braucht, als er sie. Die Briefform gestattet, einen raschen Wechsel aus einem dauernden Zustand herauszuschildern, ohne daß der rasche Wechsel um seine Raschheit kommt; sie gestattet, einen dauernden Zustand durch einen Aufschrei bekannt zu machen und die Dauer bleibt daneben bestehn. Sie erlaubt ohne Schaden die Entwicklung aufzuhalten, denn während der Mann, dessen berechtigte Hitze uns erregt, seine Briefe schreibt, schonen ihn alle Mächte, die Vorhänge sind herabgelassen und bei Ruhigsein des ganzen Körpers schiebt er gleichmäßig seine Hand über das Briefpapier. Es wird des Nachts im Halbschlaf geschrieben; je größer die Augen hiebei sind, desto früher fallen sie zu. Es werden zwei Briefe hinter einander an verschiedene Adressaten geschrieben und der zweite mit einem Kopf, der nur an den ersten denkt. Es werden Briefe abends, in der Nacht und am Morgen geschrieben, und das Gesicht am Morgen schaut über das schon unkenntliche Nachtgesicht hinweg, dem Gesicht vom Abend noch mit Verständnis in die Augen. Die Worte „Liebstes, liebstes Gretchen!“ kommen verdeckt zwischen zwei großen Sätzen hervor, stoßen durch die Überraschung beide zurück und bekommen alle Freiheit.

Und wir verlassen alles, den Ruhm, die Dichtkunst, die Musik und verlieren uns, wie wir sind, in jenes sommerliche Land, wo die Felder und Wiesen „ähnlich wie im Holländischen, von schmalen, dunklen Wasserarmen durchzogen sind“, wo im Kreise erwachsener Mädchen, kleiner Kinder und einer klugen Frau Oswald in das Gretchen beim Tiktak kleiner gesprochener Sätze sich verliebt. Dieses Gretchen lebt in der tiefsten Stelle des Romans; von allen Seiten, immer wieder, stürzen wir ihm zu. Selbst Oswald verlieren wir hie und da aus den Augen, sie nicht, selbst durch das lauteste Lachen ihrer kleinen Gesellschaft sehn wir sie wie durch ein Gebüsch. Jedoch kaum sehn wir sie, ihre einfache Gestalt, schon sind wir ihr so nahe, daß wir sie nicht mehr sehen können, kaum fühlen wir sie nahe, sind wir ihr schon entrissen und sehn sie klein in der Ferne. „Sie lehnte ihr Köpfchen an das Birkengeländer, so daß der Mond zur Hälfte ihr Gesicht beschien.“

Die Bewunderung für diesen Sommer im Herzen – wer wagte zu sagen oder besser wer wagte die leichte Beweisführung, daß sich von da ab das Buch zugleich mit dem Helden, mit der Liebe, der Treue, zugleich mit allen guten Dingen geradewegs totschlägt, während bloß die Dichtkunst des Helden siegt, eine Angelegenheit, die nur infolge ihrer Gleichgültigkeit nicht fraglich ist? So geschieht es, daß der Leser, je mehr es gegen Ende geht, desto stärker zu jenem anfänglichen Sommer sich zurückwünscht und schließlich, statt dem Helden auf den Selbstmordfelsen zu folgen, glücklich zu jenem Sommer zurückkehrt und für immer sich dort festhalten möchte.

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Eine entschlafene Zeitschrift

[veröffentlicht am 19.3.1911 in Bohemia, Prag]

Die Zeitschrift „Hyperion“ hat ihre Arbeit halb gezwungen, halb freiwillig beendet und ihre zwölf wie Steinplatten großen, weißen Hefte sollen jetzt abgeschlossen sein. Unmittelbar erinnern an sie nur noch die Hyperionalmanache 1910 und 1911, um die sich das Publikum wie um die unterhaltenden Reliquien eines unbequemen Toten reißt. Der wesentliche Herausgeber war Franz Blei, dieser bewundernswerte Mann, den die Mannigfaltigkeit seiner Talente in die dichteste Literatur hineintreibt, wo er sich aber nicht befreien und halten kann, sondern mit verwandelter Energie zu Zeitschriftengründungen entläuft. Der Verleger war Hans von Weber, dessen Verlag zuerst vom „Hyperion“ ganz überdeckt war, heute aber, ohne sich in einer Seitengasse der Literatur zu verstecken, ohne aber auch mit allgemeinen Programmen zu strahlen, einer der zielbewußtesten großen deutschen Verlage geworden ist.

Die Absicht der Gründer des „Hyperion“ war, mit ihm in jene Lücke des literarischen Zeitschriftenwesens zu treten, die zuerst der „Pan“ erkannt, nach ihm die „Insel“ auszufüllen versucht hatte, und die seitdem scheinbar offenstand. Hier fängt schon der Irrtum des „Hyperion“ an. Freilich hat kaum je eine literarische Zeitschrift edler geirrt. Der „Pan“ brachte zu seiner Zeit über Deutschland die Wohltat eines Schreckens, indem er die wesentlichen zeitgemäßen, aber noch unerkannten Kräfte einigte und durch einander stärkte. Die „Insel“ erschmeichelte sich dort, wo ihr jene äußerste Notwendigkeit fehlte, eine andere, wenn auch niedrigere. Der „Hyperion“ hatte keine. Er sollte denen, die an den Grenzen der Literatur wohnen, eine große lebendige Repräsentation geben; aber sie gebührte jenen nicht, und sie wollten sie im Grunde auch nicht haben. Diejenigen, die ihre Natur von der Gemeinschaft fernhält, können nicht ohne Verlust regelmäßig in einer Zeitschrift auftreten, wo sie sich zwischen den andern Arbeiten in eine Art bühnenmäßigen Lichts gestellt fühlen müssen und fremder aussehn, als sie sind; sie brauchen auch keine Verteidigung, denn das Unverständnis kann sie nicht treffen, und die Liebe findet sie überall. Sie brauchen auch keine Kräftigung, denn, wenn sie wahrhaftig bleiben wollen, können sie nur von sich selbst zehren, so daß man ihnen nicht helfen kann, ohne ihnen vorher zu schaden. Wenn also die Möglichkeiten anderer Zeitschriften, zu repräsentieren, zu zeigen, zu verteidigen, zu kräftigen, sich dem „Hyperion“ versagten, konnten überdies peinliche Nachteile nicht vermieden werden: Eine solche Literaturversammlung, wie sie im „Hyperion“ beisammen war, zieht mit Macht und ohne die Fähigkeit sich zu wehren, Lügenhaftes an; dagegen gab es dort, wo die beste allgemeine Literatur und Kunst in den „Hyperion“ eintrat, keineswegs immer einen vollkommenen Zusammenklang und jedenfalls keinen besondern anderswo nicht zu erreichenden Gewinn. Alle diese Bedenken aber konnten in den zwei Jahren den Genuß des „Hyperion“ nicht stören, denn schon der Reiz des Versuches machte alles vergessen; dem „Hyperion“ selbst allerdings gingen diese Bedenken wohl an den Leib. Sein Andenken aber wird schon deshalb nicht verschwinden können, weil in den nächsten Generationen sich sicher keiner finden wird, der den Willen, die Kraft, den Opfermut und die begeisterte Verblendung hätte, ein ähnliches Unternehmen wieder anzufangen; und deshalb beginnt der unvergessene „Hyperion“ jeder Feindschaft schon zu entrücken und wird in zehn oder zwanzig Jahren einfach ein bibliographischer Schatz sein.

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Erstes Kapitel des Buches „Richard und Samuel“

von Max Brod und Franz Kafka

[veröffentlicht 1912 in Herderblätter, Prag]

Unter dem Titel „Richard und Samuel – Eine kleine Reise durch mitteleuropäische Gegenden“, wird ein Bändchen die parallelen Reisetagebücher zweier Freunde verschiedenartigen Charakters enthalten.

Samuel ist ein weltläufiger junger Mann, der mit vielem Ernst sich Kenntnisse im großen Stil und ein richtiges Urteil über alle Gegenstände des Lebens und der Kunst zu bilden bestrebt ist, ohne doch jemals nüchtern oder gar pedantisch zu werden. Richard hat keinen bestimmten Interessekreis, läßt sich von rätselhaften Gefühlen, noch mehr von seiner Schwäche treiben, zeigt aber in seinem engen und zufälligen Kreise so viel Intensität und naive Selbstständigkeit, daß er nie zu schrullenhafter Komik ausartet. Dem Berufe nach ist Samuel Sekretär eines Kunstvereines, Richard Bankbeamter. Richard hat Vermögen, arbeitet nur, weil er sich nicht für fähig hält, freie Tage zu ertragen; Samuel muß von seiner (überdies erfolgreichen und sehr geschätzten) Arbeit leben.

Die beiden, obwohl Schulkollegen, sind während dieser beschriebenen Reise zum erstenmal andauernd mit einander allein. Sie schätzen einander, obwohl sie einander unbegreiflich erscheinen. Anziehung und Abstoßung wird vielartig gefühlt. Es wird beschrieben, wie sich dieses Verhältnis zunächst zu überhitzter Intimität anstachelt, dann nach manchen Zwischenfällen auf dem gefährlichen Boden von Mailand und Paris in männliches Verständnis gegenseitig beruhigt und ganz befestigt. Die Reise schließt damit, daß die beiden Freunde ihre Fähigkeiten zu einem neuen eigenartigen Kunstunternehmen vereinigen.

Die vielen Nüancen, deren Freundschaftsbeziehungen zwischen Männern fähig sind, darzustellen und zugleich die bereisten Länder durch eine widerspruchsvolle Doppelbeleuchtung in einer Frische und Bedeutung sehn zu lassen, wie sie oft mit Unrecht nur exotischen Gegenden zugeschrieben werden: ist der Sinn dieses Buches.

Die erste lange Eisenbahnfahrt (Prag-Zürich)

Samuel: Abfahrt 26. VIII. 1911 Mittag 1 Uhr 2 Min.

 

Richard: Beim Anblick Samuels, der in seinen bekannten winzigen Taschenkalender etwas Kurzes einträgt, habe ich wieder die alte schöne Idee, jeder von uns solle ein Tagebuch über diese Reise führen. Ich sage es ihm. Er lehnt zuerst ab, dann stimmt er zu, er begründet beides, ich verstehe es beidemal nur oberflächlich, aber das macht nichts, wenn wir nur Tagebücher führen werden. – Jetzt lacht er schon wieder über mein Notizbuch, welches allerdings, in Glanzleinen schwarz eingebunden, neu, sehr groß, quadratisch, eher einem Schulheft ähnelt. Ich sehe voraus, daß es schwer und jedenfalls lästig sein wird, dieses Heft während der ganzen Reise in der Tasche zu tragen. Übrigens kann ich mir auch in Zürich mit ihm zugleich ein praktisches kaufen. Er hat auch eine Füllfeder. Ich werde mir sie hie und da ausborgen.

Samuel: In einer Station unserem Fenster gegenüber ein Waggon mit Bäuerinnen. Im Schoße einer, die lacht, schläft eine. Aufwachend winkt sie uns, unanständig in ihrem Halbschlaf: „Komm“. Als verspotte sie uns, weil wir nicht hinüberkönnen. Im Nebenkoupee eine dunkle, heroische, ganz unbeweglich. Den Kopf tief zurückgelehnt schaut sie entlang der Scheibe hinaus. Delphische Sibylle.

Richard: Aber was mir nicht gefällt, ist sein anknüpferischer, fälschlich Vertrautheit vorgebender, fast liebedienerischer Gruß an die Bäuerinnen. Nun setzt sich gar der Zug in Bewegung und Samuel bleibt mit seinem zu groß angefangenen Lächeln und Mützeschwenken allein. – Übertreibe ich nicht? – Samuel liest mir seine erste Bemerkung vor, sie macht auf mich einen großen Eindruck. Ich hätte auf die Bäuerinnen mehr Acht geben sollen. – Der Kondukteur fragt, übrigens sehr undeutlich, als hätte er es mit lauter Leuten zu tun, die diese Strecke schon oft gefahren sind, ob jemand für Pilsen Kaffee bestellen wolle. Bestellt man, so klebt er einen schmalen grünen Zettel für jede Portion ans Koupeefenster, so wie in Misdroy ehemals, so lange es keine Landungsbrücke gab, der ferne Dampfer durch Wimpel die Zahl der Boote, die zum Ausbooten benötigt wurden, anzeigte. Samuel kennt Misdroy gar nicht. Schade, daß ich nicht mit ihm dort war. Es war damals sehr schön. Diesmal wird es auch wunderbar schön werden. Die Fahrt ist zu schnell, es vergeht zu rasch; die Begierde nach weiten Reisen, die ich jetzt habe! – Welch ein altertümlicher Vergleich ist der obige, da seit fünf Jahren der Landungssteg in Misdroy steht. – Der Kaffee in Pilsen auf dem Perron. Man muß ihn mit Zettel nicht nehmen und bekommt ihn auch ohne.

Samuel: Vom Perron aus sehn wir ein fremdes Mädchen aus unserem Koupee herausschauen, die spätere Dora Lippert. Hübsch, dicknasig, kleiner Halsausschnitt in weißer Spitzenbluse. Erste gemeinschaftliche Tatsache bei der Weiterfahrt: ihr großer Hut in seiner Papierhülle schwebt aus dem Gepäcknetz leicht auf meinen Kopf herab. – Wir erfahren, daß sie die Tochter eines nach Innsbruck versetzten Offiziers ist und zu ihren Eltern fährt, die sie schon so lange nicht gesehn hat. Sie arbeitet in einem technischen Bureau in Pilsen, den ganzen Tag, hat sehr viel zu tun, aber es macht ihr Freude, sie ist sehr zufrieden mit ihrem Leben. Im Bureau heißt sie: unser Nesthäkchen, unsere kleine Schwalbe. Sie ist dort unter lauter Männern, die jüngste. O es ist lustig im Bureau! Man verwechselt die Hüte in der Garderobe, nagelt die Zehnuhrkipfel an oder klebt einem den Federstiel mit Gummiarabicum an die Schreibmappe. Wir selbst haben Gelegenheit an einem solchen „tadellosen“ Witz mitzuwirken. Sie schreibt nämlich eine Karte an ihre Bureaukollegen, in der es heißt: „Das Vorausgesagte ist leider eingetroffen. Ich bin in einen falschen Zug eingestiegen und befinde mich jetzt in Zürich. Herzliche Grüße.“ Wir sollen diese Karte in Zürich aufgeben. Sie erwartet aber von uns als „Ehrenmännern“, daß wir nichts dazuschreiben. Im Bureau wird man natürlich Sorge haben, telegraphieren und Gott weiß, was noch. – Sie ist Wagnerianerin, fehlt bei keiner Wagnervorstellung, „diese Kurz neulich als Isolde“, auch den Briefwechsel Wagners mit der Wesendonck liest sie eben, sie nimmt ihn sogar nach Innsbruck mit, ein Herr, natürlich jener, der ihr die Klavierauszüge vorspielt, hat ihr das Buch geborgt. Sie selbst hat leider wenig Talent zum Klavierspiel, wir wissen es aber schon, seitdem sie uns einige Leitmotive vorgesummt hat. – Sie sammelt Chokoladenpapier, aus dem sie eine große Staniolkugel macht, die sie auch mit hat. Diese Kugel ist für eine Freundin bestimmt, weiterer Zweck unbekannt. Sie sammelt aber auch Cigarrenbinden, diese ganz bestimmt für ein Tablett. – Der erste bayerische Kondukteur bringt sie darauf, ihre sehr widerspruchsvollen und dunklen Ansichten einer Offizierstochter über das österreichische Militär und Militär überhaupt kurz und mit großer Entschiedenheit zu äußern. Sie hält nämlich nicht nur das österreichische Militär für schlapp, sondern auch das deutsche und jedes Militär überhaupt. Aber läuft sie nicht im Bureau zum Fenster, wenn Militärmusik vorüberkommt? Eben nicht, denn das ist kein Militär. Ja, ihre jüngere Schwester, die ist anders. Die tanzt fleißig im Innsbrucker Offizierskasino. Also Uniformen imponieren ihr gar nicht und Offiziere sind für sie Luft. Offenbar ist daran zum Teil jener Herr schuld, der ihr die Klavierauszüge borgt, zum Teil aber unser Hin- und Herspazieren auf dem Perron des Further Bahnhofs, denn sie fühlt sich nach der Fahrt im Gehn so frisch und streicht mit den Handflächen ihre Hüften. Richard verteidigt das Militär, aber ganz im Ernst. – Ihre Lieblingsausdrücke: tadellos – mit Null Komma fünf Beschleunigung – herausfeuern – prompt – schlapp.

Richard: Dora L. hat runde Wangen mit viel blondem Flaum; sie sind aber so blutleer, daß man sehr lange die Hände in sie drücken müßte, ehe sich eine Röthung zeigte. Das Mieder ist schlecht, über seinem Rande auf der Brust zerknittert sich die Bluse; davon muß man absehn.

Froh bin ich, daß ich ihr gegenüber und nicht neben ihr sitze, ich kann nämlich mit einem, der neben mir sitzt, nicht reden. Samuel z. B. setzt sich wieder mit Vorliebe neben mich; er sitzt auch gern neben Dora. Ich dagegen fühle mich ausgehorcht, wenn sich jemand neben mich setzt. Schließlich hat man ja wirklich gegen einen solchen Menschen von vornherein kein Auge in Bereitschaft, man muß sie erst zu ihm hinüberdrehen. Allerdings bin ich infolge meines Gegenübersitzens von der Unterhaltung Doras und Samuels, besonders wenn der Zug fährt, zeitweilig ausgeschlossen; alle Vorteile kann man nicht haben. Dafür sah ich sie aber schon, wenn auch nur Augenblicke lang, stumm neben einandersitzen; natürlich ohne meine Schuld.

Ich bewundere sie; sie ist so musikalisch. Samuel allerdings scheint ironisch zu lächeln, als sie ihm etwas leise vorsingt. Vielleicht war es nicht ganz korrekt, aber immerhin, verdient es nicht Bewunderung, daß sich ein in einer großen Stadt alleinstehendes Mädchen so herzlich für Musik interessiert? Sie hat sogar in ihr Zimmer, das doch nur gemietet ist, ein gemietetes Klavier schaffen lassen. Man muß sich nur vorstellen: eine so umständliche Angelegenheit wie ein Klaviertransport (Fortepiano!), die selbst ganzen Familien Schwierigkeiten macht und das schwache Mädchen! Wie viel Selbständigkeit und Entschiedenheit gehört dazu!

Ich frage sie nach ihrem Haushalt. Sie wohnt mit zwei Freundinnen, abends kauft eine von ihnen das Nachtmahl in einem Delikatessengeschäft, sie unterhalten sich sehr gut und lachen viel. Daß das alles bei Petroleumbeleuchtung geschieht, kommt mir, als ich es höre, merkwürdig vor, aber ich will es ihr nicht sagen. Offenbar liegt ihr auch an dieser schlechten Beleuchtung nichts, denn bei ihrer Energie könnte sie von ihrer Wirtin gewiß auch eine bessere erzwingen, wenn es ihr einmal einfiele.

Da sie im Laufe des Gespräches alles vorzeigen muß, was sie in ihrem Täschchen hat, sehn wir auch eine Medizinflasche mit irgend etwas Abscheulichem Gelbem drin. Jetzt erst erfahren wir, daß sie nicht ganz gesund ist, sogar lange krank gelegen ist. Und nachher war sie noch sehr schwach. Damals hat ihr der Chef selbst geraten (so anständig ist man gegen sie), nur halbe Tage ins Bureau zu kommen. Jetzt geht es ihr besser, sie muß aber dieses Eisenpräparat nehmen. Ich rate ihr, es lieber zum Fenster hinauszuschütten. Sie stimmt zwar leicht zu (denn das Zeug schmeckt elend), ist aber nicht zum Ernst zu bringen, trotzdem ich, näher zu ihr vorgebeugt als jemals, meine gerade darin so klaren Ansichten über eine naturgemäße Behandlung des menschlichen Organismus darlegen will, und zwar in der aufrichtigen Absicht, ihr zu helfen oder zumindest dieses unberatene Mädchen vor Schaden zu bewahren, und mich so wenigstens für einen Augenblick lang als glücklichen Zufall dieses Mädchens fühle. – Als sie nicht aufhört zu lachen, breche ich ab. Geschadet hat mir auch, daß Samuel während meiner ganzen Rede mit dem Kopf gewackelt hat. Ich kenne ihn ja. Er glaubt an die Ärzte und hält die Naturheilmethode für lächerlich. Ich verstehe das sehr gut: er hat nie einen Arzt gebraucht und daher nie ernstliche selbständige Gedanken über diese Sache gehabt, kann beispielsweise dieses ekelhafte Präparat gar nicht auf sich beziehn. – Wäre ich mit dem Fräulein allein gewesen, so hätte ich sie schon überzeugt. Denn: wenn ich in dieser Sache nicht Recht habe, habe ich es in keiner!

Die Ursache ihrer Blutarmut ist mir ja von allem Anfang an klar gewesen. Das Bureau. Man kann ja wie alles auch das Bureauleben als etwas Scherzhaftes empfinden (und dieses Mädchen empfindet es ehrlich so, ist ja vollständig getäuscht), aber im Wesen, in den unglücklichen Folgen!? – Ich weiß ja, woran ich z. B. bin. Und jetzt soll gar ein Mädchen im Bureau sitzen, der Frauenrock ist gar nicht dazu gemacht, wie muß er sich überall spannen, um dauernd, stundenlang auf einem harten Holzsessel sich hin- und herzuschieben. Und so werden diese runden Popos gedrückt, und zugleich die Brust an der Schreibtischkante. – Übertrieben? – Ein Mädchen im Bureau ist mir doch jedesmal ein trauriger Anblick.

Samuel ist schon ziemlich intim mit ihr geworden. Er hat sie sogar, was ich eigentlich nie gedacht hätte dazu gebracht, mit uns in den Speisewagen zu gehn. In diesen Waggon zwischen fremde Passagiere treten wir schon mit einer geradezu unglaublichen Zusammengehörigkeit ein, alle drei. Das muß man sich merken, daß man zur Verstärkung der Freundschaft eine neue Umgebung aufsuchen soll. Ich sitze jetzt sogar neben ihr, wir trinken Wein, unsere Arme berühren einander, unsere gemeinsame Ferienfreude macht wirklich eine Familie aus uns.

Dieser Samuel hat sie trotz ihres lebhaften und durch den Regenguß unterstützten Sträubens überredet, den halbstündigen Aufenthalt in München zu einer Autofahrt zu benützen. Während er ein Auto holt, sagt sie zu mir in der Bahnhofsarkade, und sie nimmt mich dabei beim Arm: „Bitte, verhindern Sie diese Fahrt. Ich darf nicht mit. Es ist ganz ausgeschlossen. Ich sage es Ihnen, weil ich zu Ihnen Vertrauen habe. Mit Ihrem Freund kann man ja nicht reden. Er ist so verrückt!“ – Wir steigen ein, mir ist das Ganze peinlich, es erinnert mich auch genau an das Kinematographenstück „Die weiße Sklavin“, in dem die unschuldige Heldin gleich am Bahnhofsausgang im Dunkel von fremden Männern in ein Automobil gedrängt und weggeführt wird. Samuel dagegen ist guter Laune. Da der große Schirm des Autos uns die Aussicht nimmt, sehn wir eigentlich von allen Gebäuden nur den ersten Stock zur Not. Es ist Nacht. Perspektiven einer Kellerwohnung. Samuel dagegen leitet daraus phantastische Vorstellungen über die Höhe der Schlösser und Kirchen ab. Da Dora in ihrem dunklen Rücksitz noch immer schweigt und ich schon fast einen Ausbruch fürchte, wird er endlich doch stützig und fragt sie, für mein Gefühl etwas zu konventionell: „Nun, Sie sind doch nicht bös auf mich, Fräulein? Habe ich Ihnen etwas getan u. s. f.?“ Sie erwiedert: „Da ich einmal hier bin, will ich Ihnen das Vergnügen nicht stören. Sie hätten mich aber nicht zwingen sollen. Wenn ich ‚Nein‘ sage, so sage ich es nicht ohne Grund. Ich darf eben nicht fahren.“ „Warum?“ fragt er. „Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sie müssen doch selbst einsehn, daß es sich für ein Mädchen nicht schickt, Nachts mit Herren herumzufahren. Außerdem ist noch etwas dabei. Nehmen Sie nur an, ich wäre schon gebunden...“ Wir erraten, jeder für uns, mit stillem Respekt, daß diese Sache irgendwie mit dem Wagner-Herren zusammenhängt. Nun, ich habe mir keine Vorwürfe zu machen, versuche sie aber trotzdem aufzuheitern. Auch Samuel, der sie bisher ein wenig von oben herab behandelt hat, scheint zu bereuen und will nur mehr von der Fahrt sprechen. Der Chauffeur, von uns aufgefordert, ruft die Namen der unsichtbaren Sehenswürdigkeiten aus. Die Pneumatics rauschen auf dem nassen Asphalt wie der Apparat im Kinematographen. Wieder diese „weiße Sklavin“. Diese leeren langen gewaschenen schwarzen Gassen. Das Deutlichste sind die unverhängten großen Fenster des Restaurants „Vier Jahreszeiten“, dessen Name uns als des elegantesten irgendwie bekannt war. Verbeugung eines livrierten Kellners vor einer Tischgesellschaft. Bei einem Denkmal, das wir in einem glücklichen Einfall für das berühmte Wagnerdenkmal erklären, zeigt sie Teilnahme. Nur beim Freiheitsmonument mit seinen im Regen klatschenden Fontänen ist längerer Aufenthalt gegönnt. Brücke über die nur geahnte Isar. Schöne herrschaftliche Villen längs des Englischen Gartens. Ludwigsstraße, Theatinerkirche, Feldherrnhalle, Pschorrbräu. Ich weiß nicht, wieso das kommt: ich erkenne nichts wieder, obwohl ich doch schon mehrmals in München war. Sendlinger Tor. Bahnhof, den rechtzeitig zu erreichen ich (besonders Doras wegen) Sorge hatte. So sind wir wie eine daraufhin ausgerechnete Feder in genau zwanzig Minuten durch die Stadt geschnurrt, nach dem Taxameter.

 

Wir bringen unsere Dora, als wären wir ihre Münchner Verwandten, in einem direkten Koupee nach Innsbruck unter, wo eine schwarzgekleidete Dame, die mehr zu fürchten ist als wir, ihr für die Nacht ihren Schutz anbietet. Da sehe ich erst, daß man uns zweien mit Beruhigung ein Mädchen anvertrauen kann.

Samuel: Die Sache mit Dora ist gründlich mißlungen. Je weiter es gieng, desto schlimmer. Ich hatte die Absicht, die Reise zu unterbrechen und in München zu übernachten. Bis zum Nachtmahl, etwa Station Regensburg, war ich überzeugt, daß es gehn würde. Ich versuchte mich mit Richard durch ein paar Worte auf einem Zettel zu verständigen. Er scheint ihn gar nicht gelesen zu haben, nur darauf bedacht, ihn zu verstecken. Schließlich liegt ja nichts daran, ich hatte gar keine Lust auf das fade Frauenzimmer. Nur Richard machte so ein Wesen aus ihr, mit seinen umständlichen Ansprachen und Gefälligkeiten. Dadurch wurde sie auch in ihrer dummen Ziererei bekräftigt, die schließlich im Automobil ganz unerträglich wurde. Beim Abschied wurde sie folgerecht ein sentimentales deutsches Gretchen, Richard, der ihr natürlich den Koffer trug, benahm sich, wie wenn sie ihn unverdient beglückt hätte, ich hatte nur ein peinliches Gefühl. Um es kurz zu formulieren: Frauen, die allein reisen oder sonst irgendwie als selbständig betrachtet sein wollen, dürfen dann nicht wieder in die übliche, vielleicht heute schon veraltete Koketterie verfallen, indem sie bald anziehn, bald abstoßen und in der dadurch erzeugten Verwirrung ihren Vorteil suchen. Denn das durchschaut man und läßt sich bald mit Vergnügen stärker abstoßen, als sie wahrscheinlich gewünscht haben. –

Nach dieser nicht ganz saubern Reisebekanntschaft war es ein besonderes Vergnügen, eine eigens für Hände- und Gesichtwaschen eingerichtete Anstalt auf dem Bahnhof zu finden. Man öffnet uns eine „Kabine“; allerdings könnte man sich schönere Waschgelegenheiten denken, auch haben wir nur gerade noch Zeit, mit unseren Kleidern bepackt uns in der Enge zwischen den zwei Waschbecken hin und her zu drehn, trotzdem sind wir einig, daß Kultur in dieser reichsdeutschen Einrichtung liegt. In Prag könnte man lange auf den Bahnhöfen herumsuchen, ehe man so etwas fände.

Wir steigen in das Koupee ein, in dem wir zu Richards Herzklopfen unser Gepäck gelassen hatten. Richard macht seine bekannten Schlafvorbereitungen, indem er sein Plaid als Kopfpolster unterlegt und den aufgehängten Havelock als Baldachin um sein Gesicht herabhängen läßt. Es gefällt mir, daß er, wenigstens wenn es sich um seinen Schlaf handelt, rücksichtslos ist, z. B. die Lampe verdunkelt, ohne zu fragen, trotzdem er weiß, daß ich in der Eisenbahn nicht schlafen kann. Er streckt sich auf seiner Bank aus, als ob er ein besonderes Recht vor den Mitreisenden hätte. Er schläft auch sofort friedlich ein. Und dabei hat der Mensch immerfort über Schlaflosigkeit zu klagen.

Im Koupee sitzen noch zwei junge Franzosen. (Genfer Gymnasiasten.) Der eine, schwarzhaarige, lacht immerfort, sogar darüber, daß ihn Richard kaum sitzen läßt (so streckt er sich aus), dann darüber, daß er einen Augenblick, in dem sich Richard erhebt und die Gesellschaft bittet nicht soviel zu rauchen, benützt um einen Teil von Richards Lagerplatz zu besetzen. Solche kleine Kämpfe werden unter Fremdsprachigen stumm und daher mit großer Leichtigkeit ausgefochten, ohne Entschuldigungen und ohne Vorwürfe. – Die Franzosen verkürzen sich die Nacht, indem sie eine Blechbüchse mit Kakes einander hin- und herreichen oder Zigaretten drehn oder jeden Augenblick auf den Gang hinausgehn, einander rufen, wieder hereinkommen. In Lindau (sie sagen „Lendó“) lachen sie herzlich und für diese Nachtzeit überraschend hell über den österreichischen Kondukteur. Kondukteure eines fremden Staates wirken unwiderstehlich komisch, so auch auf uns der bayrische in Furth mit seiner großen roten Tasche, die ihm tief unten um die Beine schlenkerte. – Langdauernde Aussicht auf den von den Zugslichtern beleuchteten und geglätteten Bodensee bis hinüber zu den fernen Lichtern der jenseitigen Ufer, finster und dunstig. Mir fällt ein altes Schulgedicht ein, „Der Reiter über den Bodensee“. Ich verbringe eine hübsche Zeit damit, es mir aus dem Gedächtnis wiederherzustellen. – Eindringen dreier Schweizer. Einer raucht. Einer, der dann auch nach dem Aussteigen der zwei andern zurückbleibt, ist zuerst unwesentlich, klärt sich aber gegen Morgen auf. Er hat den Streitigkeiten zwischen Richard und dem schwarzen Franzosen ein Ende gemacht, indem er gleichsam beiden Unrecht gab und sich für den ganzen Rest der Nacht steif zwischen sie setzte, den Bergstock zwischen den Beinen. Richard zeigt, daß er auch sitzend schlafen kann.

Die Schweiz überrascht durch die alleinstehenden, daher scheinbar besonders aufrechten selbstständigen Häuser in allen Städtchen, Dörfern längs der ganzen Eisenbahnstrecke. Keine Gassenbildung in St. Gallen. Vielleicht drückt sich darin der gut deutsche Partikularismus jedes Einzelnen aus, – von Terrainschwierigkeiten unterstützt. Jedes Haus mit seinen dunkelgrünen Fensterläden und viel grüner Farbe in Fachwerk und Geländer hat einen villenähnlichen Charakter. Trägt trotzdem eine Firma, nur eine, Familie und Geschäft scheinen nicht unterschieden. Diese Einrichtung, Geschäftsunternehmungen in Villen zu betreiben, erinnert mich stark an R. Walsers Roman „Der Gehilfe“.

Es ist Sonntag, fünf Uhr früh, 27. August. Alle Fenster noch geschlossen, alles schläft. Immer das Gefühl, daß wir, in diesen Zug gesperrt, die einzige schlechte Luft weit und breit atmen, während das Land draußen in natürlicher Weise, die man nur aus einem Nachtzug heraus, unter einer weiterbrennenden Lampe, richtig beobachten kann, sich entschleiert. Es ist zuerst von den dunklen Bergen als besonders schmales Tal zwischen ihnen und unserem Zug hergeschoben, dann durch den Morgendunst wie durch Oberlichtfenster weißlich aufgehellt, die Matten erscheinen allmählich frisch, wie nie zuvor berührt, saftig grün, was mich in diesem trockenen Jahr sehr in Erstaunen setzt, endlich erbleicht das Gras bei steigender Sonne in langsamer Verwandlung. – Bäume mit schweren großen Nadelästen, die längs des ganzen Stammes bis zum Fuße niederwallen.

Solche Formen sieht man häufig in Bildern Schweizer Maler und ich hielt sie bis heute für nichts als stylisiert.

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