Was können wir hoffen?

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Düstere Perspektiven

In den Katastrophen des Ersten Weltkriegs sind viele Zukunftsträume zerstoben. Als Beispiel für eine diametral andere Sicht der Zukunft sei an ein Gedicht des österreichischen Lyrikers Georg Trakl erinnert, der kaum jünger war als die Futuristen, aber – schon vor Beginn des Weltkrieges – mit ganz anderen Augen auf die Welt schaute. Trakl starb am 3. November 1914, im Alter von 27 Jahren. Sein Gedicht „An die Verstummten“ erschien am 1. Januar 1914.

„O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend,

An schwarzer Mauer verkrüppelt Bäume starren,

Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;

Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Macht verdrängt.

O, das versunkene Läuten der Abendglocken.

Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt.

Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirn des Besessenen,

Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht.

O, das gräßliche Lachen des Golds.

Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit,

Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.“16

Trauriger Abschied von einer untergehenden Welt („das versunkene Läuten der Abendglocken“) mischt sich mit Angstbildern, die an die finsteren Motive der alten Apokalypsen erinnern: Seuchen, Hungersnöte, Totgeburten, sterbende Bäume, eisige Schauer, die sich in Höhlen versteckenden Gerechten. Manche Bilder lassen an zeitgenössische Ursachen der hereinbrechenden Katastrophe denken: die Macht des Harten, Metallischen (Militärischen?), die Vergötzung des Wohlstands (das „Lachen des Golds“), manche wirken fast wie eine Voraus-Schau zerbombter Städte. Die „große Stadt“ hat nichts von der im vorigen Kapitel erwähnten Faszination des himmlischen Jerusalem. Und ob die letzte Zeile mit dem Motiv vom „erlösenden Haupt“ einen Hoffnungsschimmer aufleuchten lässt, scheint zweifelhaft. Eher wahrscheinlich ist, dass der leidende, stumm gewordene Teil der Menschheit, hilflos verblendet, das Heil in den „harten Metallen“ der Waffen sucht.

Konflikte

Die Zeit war voller gespannter Zukunftserwartungen. Hoffnung stand gegen Erschrecken und Angst. Die Dichtung brachte beides in religiösen Bildern zur Sprache. Nahm die zeitgenössische Theologie an dem Ringen nicht teil?

Sympathien für die Fortschrittsidee äußerten vor allem jene katholischen Theologen, die für eine Reform von Theologie und Kirche eintraten. Ein bedeutender Teil von ihnen wurde später mit der Benennung „Modernisten“ als Häretiker gemaßregelt und in eine Außenseiterrolle gedrängt. Dabei war es ihr besonderes Anliegen gewesen, in einer Zeit, die, voller Stolz auf den Fortschritt der Kultur, im Katholizismus eine der großen fortschrittshemmenden Mächte zu sehen gewohnt war, die Kirche davor zu bewahren, sich aus der kulturellen Entwicklung auszuklinken.

„Die neuzeitliche Kultur wird zweifellos fortschreiten und in ihrer Weise an der Lösung der religiösen, wissenschaftlichen, sittlichen, sozialen, politischen und internationalen Aufgaben fortarbeiten“, schrieb der Würzburger katholische Fundamentaltheologe Herman Schell (1850–1906). „Allein es wäre sehr bedenklich…, dass die vollkommene Lösung aller Kulturaufgaben vorwärts schreite, ohne dass die Führung dem kirchlichen Christentum selber zukäme.“17 Ein Jahr zuvor hatte er seine Schrift „Der Katholicismus als Princip des Fortschritts“ veröffentlicht.18

Aber die „Reformkatholiken“ drangen in der Kirche vorerst nicht durch. Zu stark standen den Inhabern des kirchlichen Lehramtes die Gegensätze zwischen den modernen Lehren und der christlichen Glaubenstradition vor Augen. Den Marxismus lehnte man wegen seiner atheistischen Voraussetzungen ab, den Evolutionismus wegen seiner vermeintlichen Konsequenzen: „Evolution“ und „Schöpfung“ schienen unvereinbar. Die gegenteiligen Positionen schaukelten sich offenbar gegenseitig hoch: Papst Pius IX. hatte die Meinung, „der römische Bischof kann und soll sich mit dem Fortschritt … und mit der modernen Kultur versöhnen und anfreunden“, 1861 und 1864 offiziell verworfen.19 Der Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel radikalisierte Charles Darwins Abstammungslehre zu einem monistischen System, das keinen Glauben an einen Gott, der alle Arten (lat. „species“) geschaffen habe,20 mehr zuließ:

„Auf der Fahne der progressiven Darwinisten stehen die Worte: Entwicklung und Fortschritt. Aus dem Lager der konservativen Gegner Darwins ertönt der Ruf: Schöpfung und Species. Täglich wächst die Kluft, die beide Parteien trennt, täglich werden neue Waffen für und wider herbeigeschleppt; täglich werden weitere Kreise von der gewaltigen Bewegung ergriffen.“21

Außerdem meinten die römischen Amtsträger, den „modernistischen“ katholischen Theologen auch deshalb wehren zu müssen, weil sie deren dynamische Sicht der Lehrentwicklung (auch der kirchlichen Dogmen) damals22 nicht mitvollziehen konnten. Unter Papst Pius X. wurde das von den „Modernisten“ getragene Gespräch über die geschichtliche Entwicklung und den Fortschritt durch das Dekret „Lamentabili“, die Enzyklika „Pascendi“ (beide 1907)23 und schließlich durch die Verpflichtung zum Antimodernisteneid (1910)24 für Jahrzehnte aus der kirchlichen Öffentlichkeit verdrängt.

Wetzer und Weltes Kirchenlexikon, das für die katholische Theologie des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts repräsentative große Nachschlagewerk, hat für das Stichwort „Fortschritt“ weder einen Artikel noch auch nur einen Verweis im Registerband. Das Stichwort „Fortschritt“ taucht aber im Zusammenhang mit dem „Liberalismus“ auf, und dieser wird als eine „geistige Strömung“ beschrieben, „die seit der großen französischen Revolution … die christlichabendländische Gesellschaft innerlich zersetzt und als der hauptsächliche Widerpart der katholischen Kirche erscheint.“25

Auf evangelischer Seite bekam das Gespräch breiteren Raum. Der besonders für die Entwicklung der evangelischen Soziallehre bekannte Theologe Friedrich Naumann (1860 bis 1919), ab 1910 Reichstagsabgeordneter für die Fortschrittliche Volkspartei, erklärte den Fortschritt für eine unaufhaltsame Tatsache: „Alle Seufzer der Christen haben den Fortschritt nicht hemmen können. Sie kommt, sie kommt, die neue Zeit.“26 Der Systematiker Adolf von Harnack (1851 bis 1930) war allerdings, obwohl aufgrund seiner dogmenhistorischen Forschungen als fortschrittlicher Theologe bekannt, in diesem Punkt zurückhaltender: „Wenn man älter geworden ist und tiefer ins Leben sieht, findet man sich, wenn man überhaupt eine innere Welt besitzt, durch den äußeren Gang der Dinge, durch den ‚Kulturfortschritt’, nicht gefördert. Man findet sich vielmehr an der alten Stelle und muss die Kräfte aufsuchen, die auch die Vorfahren aufgesucht haben.“27 Nach den katastrophalen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs setzte sich die „Dialektische Theologie“ scharf von den kultur- und fortschrittsoffenen Theologen der Vorkriegszeit ab. Deren Ideen wurden nun mit dem Etikett „Kulturprotestantismus“ abgewertet. Aber anders als im Katholizismus hatte es eine ungehinderte Diskussion mit der Möglichkeit zu Differenzierungen und zur Einbeziehung neuer Erfahrungen gegeben.

Anhaltende Faszination

In weiten Kreisen der Gesellschaft hatte die Fortschrittsidee indessen auch nach zwei Weltkriegen längst nicht ihre Faszinationskraft verloren. Dafür seien zwei Zeugnisse vorgestellt, die aus extrem gegensätzlicher Umgebung kommen.

Das erste könnte als Kurzformel marxistischen Geschichtsdenkens gelten. In der sogenannten „Mao-Bibel“, die 1967 in deutscher Übersetzung erschien und die viele deutsche Schüler und Schülerinnen, im Aufwind der Achtundsechziger Bewegung, tatsächlich wie eine Art Taschenbibel bei sich trugen, findet sich ein Satz, den Mao am 17. Oktober 1945, wie zum Auftakt der kommunistischen Eroberung Chinas, ausgesprochen hatte:

„Die Welt schreitet vorwärts, die Zukunft ist glänzend, und niemand kann diese allgemeine Tendenz der Geschichte ändern. Wir müssen die Fortschritte in der Welt und die lichten Zukunftsperspektiven ständig unter dem Volk propagieren, damit es Siegeszuversicht gewinnt.“28

Hier finden sich wieder die klassischen Momente des marxistischen Fortschrittsglaubens: die Überzeugung vom unaufhaltsamen Aufstieg der Geschichte, der Appell, diese Aufstiegsbewegung mitzutragen, die Gewissheit des Sieges. Sätze wie diese fanden in der Mao-Begeisterung der sechziger und siebziger Jahre großen Glauben.

Der Zukunftsoptimismus lebte aber nicht nur auf der „linken“ Seite der Gesellschaft. Wenige Jahre später gab der US-amerikanische Präsident Jimmy Carter dem Weltraumfahrzeug „Voyager“, das 1977 von Cap Canaveral aus in den Weltraum startete, eine Botschaft mit, die, scheinbar ganz sachlich unterrichtend, doch von solch kühner Phantasie zeugt, und das in solch emphatischer Tonlage, dass es sich lohnt, den Text ungekürzt hier wiederzugeben:

„Dieses Voyager-Raumfahrzeug wurde von den Vereinigten Staaten von Amerika gebaut. Wir sind ein Gemeinwesen von 240 Millionen Menschen unter mehr als vier Milliarden, die den Planeten Erde bewohnen. Wir Menschen sind noch in Nationalstaaten unterteilt, aber diese Staaten sind im Begriff, rasch zu einer einzigen Weltzivilisation zu werden. Wir senden diese Botschaft in den Kosmos. Sie wird wahrscheinlich eine Milliarde unserer Jahre überdauern in eine Zukunft hinein, in der unsere Zivilisation und die Oberfläche der Erde wohl tiefgreifende Veränderungen erfahren haben werden. Von den 200 Milliarden Sternen der Galaxis Milchstraße werden einzelne, vielleicht auch viele, bewohnte Planeten und raumfahrende Zivilisationen haben.

 

Falls eine solche Zivilisation die ‚Voyager’ auffangen und imstande sein sollte, diese Aufzeichnung zu verstehen, so lautet unsere Botschaft: Dies ist die Gabe einer kleinen, fernen Welt, Kunde von unseren Lauten, unserer Wissenschaft, unseren Bildern, unserer Musik, unserem Denken und Empfinden. Wir versuchen, unsere Gegenwart zu überdauern und unser Leben in die eure hineinzutragen. Wir hoffen, dass wir dereinst, wenn wir unsere Probleme gemeistert haben werden, uns einer Gemeinschaft der galaktischen Zivilisationen anschließen können. Diese Aufzeichnung drückt unsere Hoffnung, unsere Entschlossenheit und unseren guten Willen aus, in einem ungeheuren, überwältigenden Universum.“29

Welch weit in die Zukunft greifende Perspektiven: Eine Botschaft, die nach einer Milliarde von Jahren noch abgehört werden kann. Raumfahrende Zivilisationen zwischen den Sternen der Milchstraße. Von dort ein Blick zurück auf den Planeten Erde: „noch“ in Nationalstaaten unterteilt, aber bald eine einzige Weltzivilisation. Und auf dem Weg zur „Gemeinschaft der galaktischen Zivilisationen“! Und wieder ist die technische Entwicklung die Grundlage des Glaubens an einen umfassenden humanen und politischen Fortschritt.

Es ist für unsere Überlegungen nicht so wichtig, zu wissen, ob Jimmy Carter persönlich so gedacht hat, ob gar die ganze Botschaft nur für die amerikanische Presse bestimmt war, ob sie allenfalls die Weltöffentlichkeit auf unserem Planeten beeindrucken sollte – in jedem Fall setzt der Text ein Publikum voraus, das solchem Denken gern folgte. Und mindestens insofern ist er ein starkes Zeitzeugnis.

Teilhard de Chardin

Inzwischen war auch in breiten Kreisen katholischer Intellektueller das Fortschrittsdenken angekommen. Türöffner war der französische Jesuit Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955). Sein Forschungs- und Lehrgebiet war die Geologie und die Paläontologie: Ihn interessierte die Geschichte der Erde, insbesondere die Entstehung und Entwicklung des Lebendigen bis zum Auftreten des Menschen – und die Fortsetzung dieser Geschichte. Aus den Ergebnissen der vielen paläontologischen Detailforschungen (Teilhard war unter anderem an der Entdeckung des Peking-Menschen beteiligt) formte er eine Zusammenschau der gesamten Evolution unserer Erde. So entwarf er das Bild einer Welt, die sich von der Entstehung der Erde („Kosmogenese“) über das Werden des Lebendigen („Biogenese“) bis zum Auftauchen und zur weiteren Entwicklung des Menschen („Noogenese“) in unaufhaltsamer Entwicklung aufwärts befindet.

Mehr noch als die Vergangenheit interessierte ihn die Zukunft. „Was hält die Welt für uns bereit?“ Das wurde für ihn „die einzige Frage, die uns im Grunde genommen interessiert.“30 Eine Antwort suchte er, indem er, wie viele Forscher seiner Zeit, die Entwicklungslinien der Vergangenheit in die Zukunft verlängerte: Die Evolution würde weitergehen. Sein besonderer, für seine Zeitgenossen schier unglaublicher Anspruch war aber, dieses evolutive Welt- und Geschichtsbild mit dem christlichen Glauben an Gott als Schöpfer, Erlöser und Vollender der Welt zu verschmelzen: Gott erschafft eine Werde-Welt, in der Evolution dieser Welt setzt er sein Schöpfungshandeln fort, in seiner Menschwerdung (Inkarnation) stiftet Gott seine eigene Dynamik in die Geschichte dieser Welt ein, und als Zielpunkt der Weltgeschichte zieht er die Welt in die Vollendung hinein: Der Punkt „Omega“ der Evolution ist identisch mit dem endzeitlichen Kommen (der Parusie) Christi.31

Innerhalb der Menschheitsgeschichte erkannte Teilhard eine auffällige Wendung: Anfänglich, das heißt, in den hinter uns liegenden Hunderttausenden von Jahren, differenzierte sich die Menschheit in zahlreiche Gruppen und Rassen, die ohne Kontakt miteinander lebten oder, wo sie aufeinander stießen, sich kriegerisch auseinandersetzten; seit einigen Jahrhunderten aber tendiert die Menschheit auf eine wachsende Einigung hin. 1919 wurde der Völkerbund, die erste große internationale Organisation zur Erhaltung des Weltfriedens, gegründet. Teilhard sah diese Entwicklung als eine Auswirkung der Inkarnation: Gott hatte seine einende Kraft in die Menschheitsgeschichte hineingegeben. Hier werden die Zeit-Dimensionen spürbar, in denen ein Paläontologe denkt: „Nur“ knapp neunzehn Jahrhunderte nach Christus war „schon“ die friedenstiftende Kraft der Inkarnation in der Menschheit zu spüren. Vor allem wird deutlich, wie Teilhard Weltgeschichte und Heilsgeschichte miteinander verband.

Der Zweite Weltkrieg mit all seinen Schrecken bedeutete ihm eine Episode auf dem Weg zum Frieden. Anfang 1941, als Frankreich von deutschen Truppen besetzt war, sagte er in einer Rede in der Französischen Botschaft in Peking: „Was bedeutet dieser Superkrieg, der auf uns lastet, dieser Neuguss, dieser weltweite Wunsch nach einer neuen Ordnung, wenn nicht den Stoß, die Erschütterung, die Krise, an deren Ende sich eine synthetischere Organisation der menschlichen Welt abzeichnet? … In diesem Augenblicke selbst können wir es unter unseren Füßen beben fühlen. Das Schiff, das uns trägt, fährt immer noch.“32 Und zwei Jahre nach Kriegsende schrieb er: „In Zukunft [geht es] nicht mehr darum, sich einander auszuschalten, sondern sich zu vereinen. Was ehedem zum Krieg zwang, drängt nunmehr zum Frieden… Das ganze Phänomen schlägt ins Gegenteil um. Vielleicht erklären sich gerade dadurch die schrecklichen Erschütterungen, die wir durchgemacht haben …: die alten trennenden Kräfte der Oberfläche stoßen sich an einem bereits im Fortschritt begriffenen Zusammenwachsen des Grundes.“33

So flossen für Teilhard die epochalen Erfahrungen, die Erkenntnisse der zeitgenössischen Wissenschaften und der Glaube an den biblischen Gott der Geschichte zusammen zu einer einzigen Zuversicht. Und diese Zuversicht war universal: Sie umfasste die geologisch-biologische Entwicklung des Alls, die Geschichte der Menschheit und die Weiterentwicklung des menschlichen Geistes. Evolution, Schöpfung und Heilsgeschichte waren für ihn nicht Gegensätze, sondern gleichsam Außenseite und Innenseite desselben Vorgangs.

Für seine Vorgesetzten war das nicht nachvollziehbar. Sie verhinderten die Veröffentlichung seiner einschlägigen Schriften. Dass Teilhard dennoch Jahrzehnte lang weiter schrieb, ohne je die Publikation seiner Arbeiten zu erleben, dass er über römische Verbote zwar gelegentlich verärgert war, aber nie deswegen resignierte, dass er trotz dieser Widerstände in seinem Orden und in seiner Kirche blieb, dürfte noch einmal ein Zeugnis seiner Zuversicht in den Gang der Geschichte sein: Er wusste, dass die Zeit kommen würde.

Sofort nach seinem Tod 1955 begann die Herausgabe seiner Schriften, und seine Ideen verbreiteten sich blitzschnell. Katholische Intellektuelle atmeten auf: Sie konnten sich nun am Gespräch der Wissenschaften beteiligen, ohne ihren Glauben zu verraten. Der Katholizismus verlor seine Berührungsängste gegenüber der Welt der Naturwissenschaften und der Technik. Weltgestaltung wurde verstärkt als christliche Aufgabe gesehen. Sie stand nun nicht mehr in Konkurrenz zum eschatologischen Glauben an den Gott des Himmels, sondern wurde zu einer Praxis der Hoffnung auf die von Gott verheißene Vollendung der Welt. Seit Teilhard de Chardin ist die katholische Theologie unbefangener im Gespräch mit zeitgenössischen Zukunftserwartungen, mit Fortschrittsgläubigen und mit Fortschrittsskeptikern. Die Kirche nimmt an den epochalen Suchbewegungen teil. Teilhards Thesen wurden teils begeistert aufgegriffen, teils gründlich diskutiert und sorgfältig modifiziert. Davon zeugt insbesondere das Zweite Vatikanische Konzil.

Das Zweite Vatikanische Konzil

Papst Johannes XXIII. schlug schon in seiner Eröffnungsrede einen Ton an, der aufhorchen ließ: Er sprach von „Stimmen solcher Personen…, die zwar von religiösem Eifer brennen, aber nicht genügend Sinn für die rechte Beurteilung der Dinge … walten lassen. Sie meinen nämlich, in den heutigen Verhältnissen der menschlichen Gesellschaft nur Untergang und Unheil zu erkennen. Sie reden unablässig davon, dass unsere Zeit im Vergleich zur Vergangenheit dauernd zum Schlechteren abgeglitten sei. Sie benehmen sich so, als hätten sie nichts aus der Geschichte gelernt… Wir aber sind völlig anderer Meinung als diese Unglückspropheten, die überall das Unheil voraussagen, als ob die Welt vor dem Untergang stünde.“

Viele Konzilsväter hätten an dieser Stelle unwillkürlich in die Richtung geblickt, in welcher Kardinal Ottaviani, der als erzkonservativ geltende Präfekt des Heiligen Officiums, und seine Gesinnungsgenossen saßen, überliefert Otto Hermann Pesch.34 „In der gegenwärtigen Entwicklung der menschlichen Ereignisse“, fuhr der Papst fort, müsse man „viel eher einen verborgenen Plan der göttlichen Vorsehung anerkennen.“ Die Geschichte sei nämlich „eine Lehrmeisterin des Lebens“.

Drei Elemente scheinen mir in diesen Worten des Papstes besonders bemerkennswert: erstens eine neue, positive Einschätzung der geschichtlichen Veränderungen, zweitens die Erwartung, dass es im Lauschen auf die Geschichte und im Gespräch mit der außerkirchlichen Welt etwas zu lernen gibt, und drittens die Notwendigkeit, sich mit innerkirchlichen Reserven gegenüber einer solchen Öffnung reformerisch auseinanderzusetzen.

Das Konzil sprach dann in zwei besonders bemerkenswerten Zusammenhängen35 von einem Fortschritt. Zunächst von der Entwicklung der eigenen Lehre: Studium, spirituelle Erfahrungen und Verkündigung führen zu einer vom Heiligen Geist unterstützten Lehrentwicklung, die das Konzil „Fortschritt“ nannte:

„Diese apostolische Überlieferung kennt in der Kirche unter dem Beistand des Heiligen Geistes einen Fortschritt: Es wächst das Verständnis der überlieferten Dinge und Worte durch das Nachsinnen und Studium der Gläubigen…, durch innere Einsicht, die aus geistlicher Erfahrung stammt, durch die Verkündigung…; denn die Kirche strebt im Gang der Jahrhunderte ständig der Fülle der göttlichen Wahrheit entgegen, bis an ihr sich Gottes Worte erfüllen.“36

Dieser Aspekt ist, neben anderen Gründen, auch deshalb erwähnenswert, weil hier das extrem statische Denken überwunden wurde, das zur Zeit des Ersten Vatikanischen Konzils und in den folgenden Jahrzehnten die römische Kirchenleitung bestimmt und zur Verurteilung der „Modernisten“ geführt hatte.

Der zweite Zusammenhang betrifft die Entwicklung der Welt. Hier kam es zu einer modifizierten Rezeption der Ideen Teilhards. Beides, Rezeption und Modifikation, ist leicht wiederzuerkennen in dem 39. Abschnitt der „Konstitution über die Kirche in der Welt von heute“:

„Zwar werden wir gemahnt, dass es dem Menschen nichts nützt, wenn er die ganze Welt gewinnt, sich selbst jedoch ins Verderben bringt (vgl. Lk 9,25), dennoch darf die Erwartung der neuen Erde die Sorge für die Gestaltung dieser Erde nicht abschwächen, auf der uns der wachsende Leib der neuen Menschenfamilie eine umrisshafte Vorstellung von der künftigen Welt geben kann, sondern muss sie im Gegenteil ermutigen. Obschon der irdische Fortschritt eindeutig vom Wachstum des Reiches Christi zu unterscheiden ist, so hat er doch große Bedeutung für das Reich Gottes, insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beitragen kann.“37

Einige Formulierungen illustrieren die positive Aufnahme von Teilhard de Chardins Ideen: „der wachsende Leib der neuen Menschenfamilie“, sein Zusammenhang mit der „künftigen Welt“, und natürlich die nun positive Nennung des „irdischen Fortschritts“. Die durch Gegensätze charakterisierte Satzkonstruktion („zwar“ – „dennoch“, „obschon“ – „doch“) zeugt aber von dem Anliegen, zu differenzieren: Der „irdische Fortschritt“ ist nicht einfach identisch mit dem Wachsen des Gottesreiches, er ist auch nicht ein absoluter Wert, sondern nur in einer gewissen Hinsicht, unter einer bestimmten Bedingung wertvoll: „insofern er zu einer besseren Ordnung der menschlichen Gesellschaft beiträgt.“