Was können wir hoffen?

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Die neue Stadt

Was ich hier begrifflich entfaltet habe, möchte ich noch durch eine persönliche Erinnerung illustrieren. Ich denke an die Jahre meiner Mitarbeit in einer Kirchengemeinde im Duisburg-Meidericher Ortsteil Hagenshof. Der Hagenshof war von der Stadt als Mustersiedlung geplant worden, entwickelte sich aber mit seiner zur Anonymität verleitenden Hochhausarchitektur schon während der Bauzeit zu einem sozialen Brennpunkt. Monatlich wird in jeden Haushalt das Gemeindeblatt gebracht, in dessen Kopfteil, leicht stilisiert, die Skyline des Hagenshofs zu erkennen ist – und darunter steht: „die neue stadt“.

Als das Blatt im September 1971 zum ersten Mal erschien, fragten sich manche: Was ist damit gemeint? Der Ortsteil, der hier mit zahlreichen Baukränen errichtet wird? Oder ein biblisches Motiv, das himmlische Jerusalem, das sich am Ende der Zeiten vom Himmel herab auf diese Erde senkt? Gemeint war beides – die Bilder sollten ineinander übergehen: „Aus dem Glauben an einen neuen Himmel und eine neue Erde, wo es weder Tränen noch Leid noch Jammer geben wird, will die Katholische Kirchengemeinde … ein wenig dazu beitragen, dass unsere Neubausiedlung Hagenshof eine neue Stadt wird, in der es schon jetzt viele frohe Menschen gibt“, schrieb der Gründungspfarrer in der ersten Ausgabe. Er spielte damit auf die Bilderwelt der Johannesoffenbarung7 an, in der wiederum Hoffnungsbilder des Alten Testaments, besonders aus den Büchern Jesaja und Ezechiel8 verdichtet sind.

Diese Bilderwelt hat im Laufe der europäischen Geschichte immer wieder dazu inspiriert, Heilsgeschichte und Weltgeschichte miteinander in Beziehung zu setzen. Der Philosoph, Literaturkritiker und Theologe Johann Gottfried Herder nannte die Johannesoffenbarung „ein Buch für alle Herzen und alle Zeiten“.9 In jüngster Zeit sprach der Journalist Paul Badde von dem Einfluss, den das biblische Bild von der himmlischen Stadt auf die abendländische Geschichte ausgeübt habe: „Es gibt einen Schlüssel zum Geheimnis Europas. Er findet sich am Schluss der Bibel… Diese Worte liegen fast allen Umwälzungen unseres Erdteils wie ein verborgener Code zugrunde.“10 Die Theologin Rita Müller-Fieberg hat eine differenzierte Dissertation über das Gespräch zwischen Theologie und Literatur über das Motiv „Neues Jerusalem“ vorgelegt. Sie schließt mit der Feststellung, das Bild von der verheißenen Stadt fordere dazu heraus, „die versprochene Lebensfülle schon jetzt in die eigene Gegenwart hineinzulassen.“11

Für uns, die wir jahrzehntelang die Bilderwelt der Johannesoffenbarung wie die verschlüsselte Botschaft einer uns fremden Welt eher umgangen hatten, traf sich ihre Wiederentdeckung mit der Neubelebung einer Theologie der Hoffnung. Heute rückschauend, sehen wir, woher wir gekommen waren und welchen Weg wir gegangen sind: Gegenüber einer „Jammertal-Frömmigkeit“, in welcher wir gelernt hatten, das „Irdische zu verachten und das Himmlische zu lieben“,12 wollten wir die Erde lieben, damit auf dieser Erde Himmel anfangen kann. In unseren jugendbewegten Träumen hatten wir das Geheimnis der Welt „jenseits des Tales“ gesucht, jetzt sollte Gottes geheimnisvolle Welt mitten in einer Hochhaus-Stadt wenigstens anfangshaft Wirklichkeit werden. Anders als im „Milieukatholizismus“ der ersten Jahrhunderthälfte, dem die Kirche wie eine Fluchtburg erschien, wie ein Bollwerk gegen die böse Welt draußen, sollte die Gemeinde dazu beitragen, dass es „frohe Menschen“ nicht nur im Gemeindezentrum, sondern im ganzen Hagenshof gibt: Kirche nicht in Abgrenzung zur Welt, sondern Kirche für die Welt. Im Unterschied aber zur Skepsis der Religionskritik, welche in der Religion nur ein Betäubungsmittel sah, mit dem geplagte Menschen sich vorübergehend über die Lasten des Lebens hinwegtrösten, das sie aber um so schlimmer lähmt, je mehr sie davon Gebrauch machen, setzten wir darauf, dass der Glaube ein Lebenselixier sein könnte: eine Prise Hoffnung zur Kräftigung für die nächsten Schritte. Es sollte eine „geerdete“ Hoffnung sein: Hier auf Erden soll anfangen, was einmal, bei der Vollendung der Schöpfung, ganz groß dastehen wird.

„In deinen Toren werd ich stehen…“

Es ist gewiss kein Zufall, dass unter den neuen geistlichen Liedern, die in dieser Gemeinde gesungen wurden, das Lied von der verheißenen neuen Stadt13 einen besonderen Platz einnahm. Das Lied geht mit seiner Melodie und mit manchen sprachlichen Bildern auf ein modernes israelisches Lied14 zurück, in welchem Jerusalem als ersehnte Stadt Israels besungen wird. Die durch die evangelische Pfarrerin Christine Heuser geschaffene deutsche Fassung setzt allerdings andere Akzente. Die „freie Stadt Jerusalem“ wird hier zu einem Bild für die ersehnte und erhoffte Vollendung der Welt. Das Ziel liegt noch in weiter Ferne. Die da singen, fühlen sich wie die Verschleppten in Babylon unter der Fremdherrschaft von mächtigen Herren. Ihre Wunden schmerzen:

„Ihr Mächtigen, ich will nicht singen

eurem tauben Ohr.

Sions Lied hab ich begraben

in meinen Wunden groß.“

Das erinnert an Motive des 137. Psalms:

„An den Strömen von Babel, da saßen wir

und weinten, wenn wir an Zion dachten.

Wir hängten unsere Harfen an die Weiden in jenem Land.

Dort verlangten von uns die Zwingherren Lieder,

unsere Peiniger forderten Jubel: ‚Singt uns Lieder vom Zion!’

Wie könnten wir singen die Lieder des Herrn,

fern, auf fremder Erde?“15

Aber ein Versprechen hält die Hoffnung wach:

„Ich halte meine Augen offen,

liegt die Stadt auch fern.

In die Hand hat Gott versprochen:

Er führt uns endlich heim.“

Aus den Bildern der Erinnerung an die Mühen und Schmerzen der eigenen Geschichte werden Bilder der Hoffnung, aus den Steinen der Gefängnisse und der Gräber werden die Mauern der kommenden Stadt:

„Die Mauern sind aus schweren Steinen,

Kerker, die gesprengt,

von den Grenzen, von den Gräbern,

aus der Last der Welt.“

Die Erinnerung an die vergossenen Tränen verschmilzt mit dem Bild von den Stadttoren, die nach der Johannesoffenbarung wie Perlen glänzen:

„Die Tore sind aus reinen Perlen,

Tränen, die gezählt.

Gott wusch sie aus unsern Augen,

dass wir fröhlich sind.“

Und immer wieder klingt im Refrain das Grundmotiv durch: die Hoffnung, einmal in dieser Stadt zu Hause zu sein:

„In deinen Toren werd ich stehen,

du freie Stadt Jerusalem.

In deinen Toren kann ich atmen,

erwacht mein Lied.“

Mit solchen Bildern der Hoffnung bekamen Menschen in der gemeindlichen Alltagspraxis Augen für die Perspektive der Hoffnung. Diese Hoffnung entdeckte inmitten all der Lebensfeindlichkeiten und Unbehaustheiten dennoch die Anfänge einer neuen Welt. In zusammengewürfelten, einander zunächst fremden Menschen wuchs zumindest eine Ahnung davon, was Wohnung, Heimat, Gemeinschaft bedeuten könnte. Gemeinde wurde zum Treffpunkt, wo man einander vom eigenen Leben erzählen konnte – und wo man lernen konnte, welche Freude es macht, einander beizustehen.

Ermutigt durch diese Perspektive, engagierten sich viele in einer Bürgerinitiative, die sich, weit über die Grenzen der Kirchengemeinde hinaus, für mehr Lebensqualität im Ortsteil einsetzte. Dabei fühlten sie sich nicht wie Leute, die notdürftig noch einige Reparaturen an einem Haus anbringen, das letzten Endes doch zum Abbruch bestimmt ist, sondern eher wie Bauleute, welche die Bausteine für eine kommende Welt zusammentrugen. In dem, was sie taten, sahen sie den, wenn auch nur sehr bescheidenen, Anfang jener neuen Stadt, von der sie sangen: „In deinen Toren kann ich atmen.“ Und so konnten sie hin und wieder schon in der Gegenwart, auf der noch sehr unfertigen Baustelle, aufatmen.

1 Hans Magnus Enzensberger, Ins Lesebuch für die Oberstufe (1957), hier zitiert aus: Das große deutsche Gedichtbuch, neu hrsg. von Karl Otto Conrady, Darmstadt 41995, 724 f.

2 Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben in dieser Zeit, I. 6., in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Offizielle Gesamtausgabe, hrsg. von Ludwig Bertsch u. a., Bd. I, Freiburg 1976, 84–111, Zitat: 95.

3 So. z. B. Franz Diekamp, Katholische Dogmatik nach den Grundsätzen des heiligen Thomas, Bd. 3, Münster 3–51922, 366.

4 Joseph Pohle, Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 3, Paderborn 1905, 706.

5 Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg 1976, 415.

6 Vgl. dazu unten das 11. Kapitel.

7 Vgl. bes. Offb 21,1–4, aber auch die Kapitel 21 und 22 insgesamt.

8 Vgl. Jes 7,14; 25,8; 54,1–14; 60,1–11; Ez 40–44.

9 Johann Gottfried Herder, Maran Atha. Das Buch von der Zukunft des Herrn, des Neuen Testaments Siegel (1779), in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. IX, hrsg. von Bernhard Suphan, Hildesheim 1967, 241.

10 Paul Badde, Die himmlische Stadt. Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft, München 1999, 17.

11 Rita Müller-Fieberg, Das „neue Jerusalem“ – Vision für alle Herzen und alle Zeiten? Eine Auslegung von Offb 21,1 – 22,5 im Kontext von alttestamentlich-frühjüdischer Tradition und literarischer Rezeption, Berlin und Wien 2003, 390.

12 So das Postcommunio-Gebet am 2. Adventssonntag nach dem Römischen Messbuch in der vorkonziliaren Form. Nach der durch das Zweite Vatikanische Konzil angestoßenen Liturgiereform klingt der Text anders: „Lehre uns die Welt im Licht deiner Weisheit zu sehen und das Unvergängliche mehr zu lieben als das Vergängliche.“ Hierzu etwas ausführlicher unten, im 13. Kapitel.

 

13 Ihr Mächtigen, ich will nicht singen eurem tauben Ohr. Text: Christine Heuser. Das Lied findet sich z. B. im Anhang von: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch für das Bistum Aachen, Aachen 1985, Nr. 046.

14 Naomi Shemer-Sapir, Yerushalayim shel zahav (Jerusalem, Stadt aus Gold), hier zitiert nach der CD „25 most famous Israeli Folk Songs“, CD 158, Hataklit LTD, Pardesiva, Israel, o. J.

15 Ps 137, 1–4.

3
„Mit uns zieht die neue Zeit“

Zum Fortschrittsdenken

Wohin bewegt sich die Geschichte? Geht es abwärts, wird alles schlechter? Geht es unaufhaltsam aufwärts: in ständigem Fortschritt zu Höherem, Besserem? Hat die Geschichte überhaupt ein Ziel? Die Idee des Fortschritts hat seit dem 19. Jahrhundert das Denken der Gesellschaft stark beflügelt. In der öffentlichen Diskussion darüber stand die katholische Kirche lange Zeit weitgehend abseits. Erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts änderte sich das Bild. Das sei an einigen Beispielen illustriert.

Eine faszinierende Idee

1835 fuhr in Deutschland, von Nürnberg nach Fürth, die erste Eisenbahn. Der Jubel über dieses revolutionäre Ereignis schlug sich sogar im Brockhaus Conversationslexikon von 1838 nieder. Im Artikel „Eisenbahnen“ las man von den „brausenden Dampfkolossen“, die „beschleunigt eine neue Weltperiode herbeiführen, in der sich die Völker zum friedlichen Reich der Sittlichkeit und Freiheit“ zusammenfänden. „Nach diesem wahrhaft göttlichen Ziel hat die Geschichte von jeher ihren Lauf gerichtet, doch auf den stürmisch vorwärts rollenden Rädern der Eisenbahnen wird sie es um Jahrhunderte früher erreichen.“1

Diesem kurzen Text lässt sich ein ganzes Bündel von Überzeugungen entnehmen: (1) Die Geschichte verläuft „von jeher“ zielgerichtet. (2) Der Lauf führt aufwärts, zum Besseren hin. (3) Die kommende „neue Weltperiode“ wird durch Sittlichkeit, Frieden und Freiheit gekennzeichnet sein. (4) Die Technik wird die positive Entwicklung beschleunigen. (5) Das Ganze hat eine religiöse Bedeutung: Das Ziel ist „wahrhaft göttlich“.

Die Kombination dieser Überzeugungen prägte den Fortschrittsbegriff. Für viele war der Zusammenhang evident. Der Fortschritt in Naturwissenschaft, Technik und Industrie schien unübersehbar zu sein, er bildete „das empirisch ständig einlösbare Substrat“2 für den Fortschrittsglauben allgemein. Dieser bezog sich auf fast alle Bereiche der Wirklichkeit. Auf die Geisteswissenschaft: Für die französische Aufklärung des 18. Jahrhunderts erlaubte die Geschichtswissenschaft, die zukünftige Entwicklung mit großer Wahrscheinlichkeit vorauszuberechnen, und sie machte möglich, die Geschichte in der erkannten Richtung zu beschleunigen. Politisch: Karl Marx sah aufgrund der Entwicklung der Produktionsverhältnisse und vermittels des Klassenkampfes den Übergang zur klassenlosen Gesellschaft kommen; die Entwicklung voranzutreiben wurde zur politischen Aufgabe. Biologisch: Der Fortschrittsgedanke verband sich mit dem vor allem von Charles Darwin entwickelten Evolutionsdenken. Die Beobachtung der Naturgeschichte einschließlich der Entstehung des Menschen ließ diese als gerichteten Prozess einer stetigen Aufwärtsentwicklung erkennen.

Dieser Überzeugung korrespondierte auch eine verbreitete Grundstimmung um die Wende zum 20. Jahrhundert. Den Aufruf Kaiser Wilhelms vom 24. Februar 1892, „Zu Großem sind wir noch bestimmt, und herrlichen Tagen führe ich euch noch entgegen“,3 hören zwar wir Späteren, besonders mit Blick auf die katastrophale Politik des Kaisers, mit Kopfschütteln. Die Tatsache aber, dass dieser Satz so häufig zitiert wurde, dürfte ein Indiz dafür sein, dass er damals einer Hoffnung entsprach, die von vielen in Deutschland gern geteilt wurde.

„Fin de siècle“

Spricht man von der Jahrhundertwende, ist aber auch an jene andere Strömung zu erinnern, die man mit der französischen Wendung „Fin de siècle“ zu bezeichnen pflegt. Die Bezeichnung ist mehrdeutig: „siècle“ kann (wie das lateinische „saeculum“) mit „Jahrhundert“ übersetzt werden, aber auch mit „Epoche“ und sogar mit der Welt schlechthin, sodass die Bedeutung von „fin de siècle“ changiert zwischen „Ende des Jahrhunderts“ und „Ende der Welt“. Diese Mehrdeutigkeit ist nicht zufällig. Sie suggeriert, das Ende des Jahrhunderts könne den Untergang einer Welt oder gar das Ende überhaupt bedeuten. „Fin de siècle“ meint denn auch eine zunächst in Frankreich, dann aber auch in anderen europäischen Ländern verbreitete Mentalität, die zwischen der Verachtung des als krank empfundenen, sterbenden Jahrhunderts und dem Schmerz über den Abschied von ebendiesem Jahrhundert, zwischen Lust zu neuem Aufbruch und Lebensüberdruss, zwischen Zukunftseuphorie und Zukunftsangst schwankte.4

Reformpädagogik
und Jugendbewegung

Andere erlebten dieselbe Zeit anders. So erinnert sich der Literaturkritiker Heinrich Hart (1855–1906): „Um die Wende des Jahrhunderts hörte man nur selten noch das Wort ‚fin de siècle‘, es kam aus der Mode… Durch die Welt ging Neujahrhundertahnen, alle Blicke richteten sich vornaus, alle Geister der Zukunft zu, ein neues Wollen und Heischen, ein erregter Drang nach Tat, Verwirklichung, Neuschöpfung und Neubildung flutete durch die Seelen.“5

In diesem Zusammenhang steht auch die frühe Jugendbewegung, die sich im „Wandervogel“, in der „Freideutschen Jugend“ und in verschiedenen Bünden der „Bündischen Jugend“ sammelte. Der Pädagoge Walter Rohlfing macht in seiner Dissertation „Fortschrittsglaube und Zukunftshoffnung im Wilhelminischen Deutschland“ auf eine für die Jugendbewegung charakteristische Spannung aufmerksam und spricht von ihrem „doppelten Gesicht“: „ein romantischer und ein fortschrittlicher Zug, ihre Rückwendung in die Vergangenheit und ihr Blick in die Zukunft“.6 Der scheinbare Gegensatz formuliert indes eine plausible Logik: Die Rückbesinnung auf die alten Wurzeln galt als die Kraft, die schwache Gegenwart zu kritisieren, diese Kraft aber drängte auf Veränderung. So konnten „Jugendlichkeit“ und „Fortschrittlichkeit“ fast gleichgesetzt werden.

Davon zeugt die Rede des Reformpädagogen Gustav Wyneken bei dem berühmten Treffen der Jugendbewegung auf dem Hohen Meisner am 12. März 1913:

„Uns ist die Welt noch nicht fertig und noch nicht reif. Für uns fängt die Weltgeschichte eigentlich erst an. Darum ist unser Blick unentwegt nach vorwärts gerichtet. Ja, die Welt ist noch jung, und darum versteht gerade die Jugend sich jetzt auf das richtige Weltgefühl.“7

Jugend bedeutet ihm die „Hoffnung des Menschengeschlechts“.8 Die Jugendbewegten zogen durch die Wälder, entdeckten, wie die Romantiker, die Ruinen alter Burgen, sangen neu die vergessenen alten Lieder, und gerade in dieser Begegnung mit den „alten Zeiten“ gewannen sie die Lust am Widerspruch und den Willen zur Erneuerung. In einer als müde, spießig und morbide erlebten Zeit schöpften sie aus den, wie sie es erlebten, besseren, alten Quellen die Kraft zur Gestaltung einer neuen, besseren Welt. Einiges davon klingt an in dem Lied, das Hermann Claudius für die junge Arbeiterbewegung schuf.

„Wann wir schreiten Seit an Seit

und die alten Lieder singen,

und die Wälder widerklingen,

fühlen wir, es muss gelingen:

Mit uns zieht die neue Zeit,

mit uns zieht die neue Zeit!“9

In dieser Strophe fließen, offenbar ganz selbstverständlich, vier für die Jugendbewegung typische Akzente zusammen: das Wandern, die Begegnung mit der Natur, die Hochschätzung des Alten und der Wille, eine neue Zeit erstehen zu lassen. Interessant ist auch die breite Wirkungsgeschichte dieses Liedes: Noch heute wird es auf sozialdemokratischen Parteitagen gesungen. Aber es gehört seit langem auch zum klassischen Liedgut der katholischen Jugendbewegung.

Futurismus

Von der Faszination der Zukunft zeugt wohl am stärksten eine nur ein knappes Jahrzehnt blühende10 Kunstrichtung, die sich selbst „Futurismus“ nannte. Zu ihr zählten überwiegend italienische Maler und Schriftsteller, die Bewegung strahlte aber in viele europäische Länder aus.11 Bevorzugte Themen der Malerei wurden Bewegung und Geschwindigkeit, bevorzugte Symbole der neuen Zeit waren Bahnhöfe, Fabriken und das elektrische Licht. Mit dem Kampfruf „Tod dem Mondschein!“12 setzten sich die Futuristen von der romantischen Idylle einer Zeit ab, die nun endgültig vergangen sein sollte.

Mit der ihnen eigenen Lust an der großen Inszenierung warfen einige von ihnen vom Campanile auf dem Markusplatz in Venedig Tausende von Flugblättern, mit denen sie die Venezianer aufriefen, ihre alten Paläste abzureißen, die Kanäle zuzuschütten und auf den leeren Flächen moderne Fabriken zu errichten. „Wir wollen von der Vergangenheit nichts wissen, wir jungen und starken Futuristen!“13 Bibliotheken und Museen waren für sie Symbole des „Passatismus“. Die von den Futuristen neu geschaffene Vokabel „Passatismus“, Hängen an der Vergangenheit,14 war für sie der Gegensatz zum „Futurismus“, dem Willen zur Zukunft. Der Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti (1876–1944), Gründer und Inspirator dieser Bewegung, veröffentlichte im Januar 1909 in der italienischen Zeitschrift „Poesia“, im Februar 1909 im Pariser „Figaro“, das „Manifest des Futurismus“. Darin heißt es:

„Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen … ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake…

Wir stehen auf dem äußersten Vorgebirge der Jahrhunderte! … Warum sollten wir zurückblicken, wenn wir die geheimnisvollen Tore des Unmöglichen aufbrechen wollen? Zeit und Raum sind gestern gestorben. Wir leben bereits im Absoluten, denn wir haben schon die ewige, allgegenwärtige Geschwindigkeit erschaffen.

… besingen werden wir die nächtliche, vibrierende Glut der Arsenale und Werften, die von grellen elektrischen Monden erleuchtet werden; die gefräßigen Bahnhöfe, die rauchende Schlangen verzehren; die Fabriken, die mit ihren sich hochwindenden Rauchfäden an den Wolken hängen; die Brücken, die wie gigantische Athleten Flüsse überspannen, die in der Sonne wie Messer aufblitzen; die abenteuersuchenden Dampfer, die den Horizont wittern; die breitbrüstigen Lokomotiven, die auf den Schienen wie riesige, mit Rohren gezäumte Stahlrosse einherstampfen, und den gleitenden Flug der Flugzeuge, deren Propeller wie eine Fahne im Winde knattert und Beifall zu klatschen scheint wie eine begeisterte Menge.“15

Es gibt genügend Gründe, sich von den Futuristen zu distanzieren, vor allem von ihrer Begeisterung für Nationalismus, Krieg und Faschismus; aber für theologisch Interessierte unübersehbar und herausfordernd sind die religiösen Motive, die in diesem emphatischen Text auftauchen: neben den Vokabeln „geheimnisvoll“, „absolut“, „ewig“, „allgegenwärtig“ das Bild von Mose, der nach vierzigjähriger Wüstenwanderung vom Berg Nebo aus in das ersehnte Gelobte Land schaut. Der Glaube an die Zukunft hat hier etwas von der Unbedingtheit eines religiösen Bekenntnisses.