Resli, der Güterbub

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2. Die erste Morgenandacht

Als Resli zum ersten Mal im Hause seines Pflegevaters erwachte, lag auf der Erde ein weißes Leichentuch und die Flocken wirbelten durch die Luft. Der Aetti1 meinte, als man beim Morgenessen saß, es habe nicht umsonst so schuderhaft geluftet in der vergangenen Nacht, als wollte der Luft mit dem Haus ins Tal hinunter, und er habe es ja schon gestern gesagt, es werde bald ändern wollen. Die Gliedersucht sei doch ein guter Wetterprophet und koste noch dazu nicht so viel wie ein Barometer, es sei doch am Ende alles für etwas gut, der liebe Gott habe nichts umsonst gemacht in der Welt, wie es ja auch heiße in der heiligen Schrift, dass denen, die Gott lieben, alles zum Besten dienen müsse.

Mit diesen Worten wischte er den Löffel am Tischtuch ab und steckte ihn neben sich an die Wand, dann nahm er aus der Ecke hinter dem Tisch die alte, mit Blech beschlagene Bibel hervor, die schon sein Großvater hatte einbinden lassen, und fragte Resli, ob er ihm etwa sagen könne, wo der schöne Spruch stehe, den er soeben angeführt. Der Knabe wusste zwar, das der Spruch im Herzen seiner Mutter stand, denn in ihrer Trübsal hatte sie sich mehr als einmal damit getröstet, dass denen, die Gott lieben, alles zum Besten dienen muss; aber dass der Spruch in einem Buche zu finden sei, davon hatte er noch keine Ahnung gehabt. Auch war es ihm wirklich zu verzeihen, wenn er noch nicht so viel Bibelkenntnis besaß, um angeben zu können, ob ein Spruch im ersten Buch Mose oder im Römerbriefe zu finden sei, denn es gibt ja bekanntlich Jünglinge und Männer, die mehr wie drei und fünf Mal älter als der siebenjährige Resli sind, und doch suchen sie den Römerbrief im ersten Buche Mose auf, und wenn sie ihn dort nicht finden, so blättern sie das ganze Gesetz und die Propheten durch in der Hoffnung, es führen endlich alle Wege einmal nach Rom.

Während Resli sich besann, schlug der Pflegevater das achte Kapitel im Römerbriefe auf. Die Bücher der Bibel waren ihm längst keine spanischen Dörfer mehr, und wenn er nur seine Brille nicht verlegt hatte und kein Glas darin fehlte, so fand er sich darin ebenso gut wie in seinem Spycher2 zurecht, wo ja doch auch kein Bauer das Garn mit dem gedörrten Speck verwechseln wird, wenn auch beides an ein und derselben Stange hängt.

Besonders gut war aber der alte Mann im Römerbriefe zu Haus, der für ihn, den schlichten Bauern, ebensowohl wie weiland3 für Doktor Martin Luther, der Wegweiser zu der Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt, geworden war. Der liebe Gott macht nach diesem Briefe zwischen Doktoren und Bauern keinen Unterschied; sie sind allzumal Sünder und werden ohne Verdienst gerecht durch den Glauben an die Erlösung, die durch Christum geschehen ist. Dieses „Trom“4 hatte Reslis Pflegevater erfasst, es war ihm aus dem Herzen gesprochen, wenn der Apostel im fünften Kapitel dieses Briefes bezeugt: „Nun wir denn sind gerecht geworden durch den Glauben, so haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesum Christ.“ Heute Morgen schlug er aber nicht das fünfte Kapitel, sondern das achte auf. Offen gestanden, verstand Resli nicht viel davon, als der Vater mit herzlicher Inbrunst diesen Abschnitt zur Morgenandacht las. Aber es ging ihm wie einem Kind, das zum Sternenhimmel emporblickt; es versteht zwar noch gar nichts von der Beschaffenheit der Gestirne und ihrem wunderbaren Lauf und ahnt doch schon etwas von der Herrlichkeit, die dort oben verborgen ist. So konnte auch Resli aus den freudestrahlenden Augen des Alten lesen, was er aus Römer 8 noch nicht zu lesen im Stande war, dass nämlich hier ein Schatz im Acker liegen müsse. Was dieser Schatz sei, an dem er sich so freute, das verbarg ihm denn auch der Pflegevater nicht. „Höre“, sagte er zu Resli, als er im Lesen zum 18. Verse des Kapitels kam: „Ich halte dafür, dass dieser Zeit Leiden nicht wert sind der Herrlichkeit, die an uns geoffenbaret werden soll.“

Bei diesen Worten nahm der Alte seine Brille ab und schaute Resli an: „Du weißt noch nicht, was Leiden sind; du hast zwar schon Hunger gelitten und wohl auch manchmal Schläge gekriegt; bedenke jedoch, dass dies nur die ersten Tröpflein von einem ganzen Leidenskelch gewesen sind. Damit du nun mit dem Heiland sagen könnest: Soll ich den Kelch nicht trinken, den mir der Vater gegeben hat? ist es nötig, dass du wie Er dich auf die Herrlichkeit freuen könnest, die ganz gewiss nach dem Kreuze kommt. Und da kann ich dir denn als ein alter Mann bezeugen, der`s in Sturm und Wetter erprobt hat: Wer ein Kind Gottes ist, der kann sich in allen Lagen freuen auf die zukünftige Herrlichkeit, wie der Apostel in diesem Kapitel schreibt: Sind wir denn Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi. Ja“, so schloss der Pflegevater seine erste Morgenandacht mit Resli, gerade wie der Apostel auch das achte Kapitel im Römerbriefe schließt: „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, noch keine andere Kreatur mich scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christo Jesu ist, unserm Herrn!

Wie froh bin ich jetzt in meinen alten Tagen, dass ich diese selige Gewissheit in meinem Herzen tragen darf. Ich weiß ja nicht, wie lange ich noch zu leben habe. Der Tod kann ung`sinnet5 kommen, besonders wenn man das 70. Jahr schon überschritten hat. Wie der liebe Gott heute über Nacht das weiße Leichentuch über die Felder gebreitet hat, so ist es auch schon manchmal vorgekommen, dass das Leintuch, womit einer sich am Abend zudeckte, ihm über Nacht in ein Leichentuch verwandelt worden ist.“

1 Vater

2 Vorratskammer

3 einstmals

4 diesen Faden, d. h. diese gewaltige Wahrheit

5 unvermittelt, ohne, dass man daran denkt

3. Zu früh

Reslis Augen füllten sich mit Tränen, als der Pflegevater so vom Sterben sprach. „Du wirst längi Zyti1 nach der Mutter haben, dass du plärrest?“ fragte ihn der Alte teilnahmsvoll. – „Nein, aber es duret mich gar grusam, dass Ihr schon sterben wollt und ich wieder auf die Gemeinde soll“, antwortete der Knabe, der offenbar in der kurzen Zeit schon recht anhänglich an den alten Vater geworden war.

„Du bist es Babi“, sagte dieser lachend, „so weit ist es noch lange nicht. Daneben ist es gut, wenn du früh genug das Wort der Schrift beherzigen lernst: „Lasset ab von dem Menschen, der Odem in der Nase hat, denn was ist er zu achten? Er ist wie des Grases Blume, die bald verblüht.“ Es ist darum viel besser, lieber Resli, wenn du dich nicht an Menschen, sondern an den Heiland hängst, der gestern und heute derselbe ist und in Ewigkeit; wenn Vater und Mutter dich verlassen, so nimmt Er dich auf.“

Es war wirklich gut, dass der Alte es verstand, sein Pflegekind darauf vorzubereiten, dass irdisches Glück etwas Unzuverlässiges ist; denn die Gliedersucht, die ihn seit Jahren jeden Winter regelmäßig aufgesucht, nahm diesmal mit dem nahenden Frühling nicht ab, sondern einen immer beschwerlicheren Charakter an. Nesseln und Hanf, Bockbart und Brombeerstauden und noch ein halbes Dutzend andere Kräuter, welche die längst verstorbene Mutter sorgfältig gedörrt und aufgehoben hatte, wurden zwar von der Tochter geflissentlich aus dem Versteck hervorgeholt und ein Topf voll Thee um den anderen daraus gebraut. Allein der gute Alte, der bisher geglaubt hatte, ums Herz herum sei er noch ganz gesund, litt an zunehmender Atemnot, die Füße fingen an zu schwellen und es stellte sich heraus, dass die Gliedersucht sich aufs Herz geworfen hatte und die Wassersucht im Anzug sei. Ein Nachbar, der gerade im zwei Stunden entfernten Pfarrdorfe etwas zu verrichten hatte, wurde zum dortigen Arzt geschickt. Er brachte einen großen Gutter2 mit einem bittern Trank und eine Drucke3 voll Pülverli mit, aber auch den Bericht, der alte Doktor habe beim Wasserg`schauen ein bedenkliches Gesicht gemacht und gesagt, es müsse gut gehen, wenn der Kranke die Kirschenblust4 noch erlebe.

Und der Doktor hatte leider Recht. Als die Passionszeit kam, hatte das Leiden einen solchen Grad erreicht, dass der Alte nicht mehr aufzustehen im Stande war. Bald wurde er so schwer, dass Resli und die Tochter ihn nicht mehr heben konnten. Ein starker Mann musste jedes Mal gerufen werden, um ihn auf und nieder zu tun, und der versicherte jedes Mal, der Kranke sei wenig leichter als ein doppelzentneriger Sack. Doch der liebe Gott machte es gnädig mit ihm; wenn ihm auch das Wasser immer näher zum Herzen drang, dass er mit David beten musste: „Gott hilf, denn das Wasser geht mir bis an die Seele!“ so löschte dasselbe doch den Glaubensfunken nicht aus, nein, Gottes Geist blies denselben immer mehr zur hellen Flamme an. Denn Der, welcher keines seiner Kinder versuchen lässet über Vermögen, sondern allezeit einen erträglichen Ausgang schafft, sorgte dafür, dass die beschwerliche Krankheit verhältnismäßig rasch zu Ende ging. Für seinen Pflegesohn und seine taubstumme Tochter freilich viel zu früh, von ihm selbst aber längst ersehnt, erschien die Stunde der Ablösung von diesem sterblichen Leib, noch ehe der Ostermorgen durch die Fenster schien.

 

Warum, so spricht nun die menschliche Vernunft, wurde Resli das Glück, in der segensreichen Nähe eines solchen Mannes zu sein, nur zwei Monate lang zu teil? Diese kurze Zeit hatte gerade hingereicht, um ihn die Flüche vergessen zu lassen, die er bei seinen Stiefbrüdern eingeübt. Wie gut hatte ihm nach der Hungerkur beim Stiefvater das Brot des Pflegevaters geschmeckt, der ihn ja nicht nur mit Bibelsprüchen abspies, sondern dem das leibliche Wohl des armen Knaben nicht minder als dessen Seelenheil am Herzen lag. In der kurzen Zeit hatte er solche Fortschritte im Lernen gemacht, dass der Lehrer sagte, zwar nicht zu ihm, aber zum Pflegevater: Aus dem wird einmal etwas anderes als nur ein Taglöhner, wenn du ihn so fleißig zur Schule schickst.

Doch nun war mit einem Schlag die ganze Herrlichkeit vorbei. Es gab Leute in der Nähe, denen der Tod seines Pflegevaters nicht so zu Herzen ging wie ihm, an denen sich vielmehr das Wort erfüllte: Wo ein Aas ist, da sammeln sich die Adler. Der Lehrer redete diese Leute beim Leichengebet als die werte Trauerversammlung an, aber dass ihr Geschrei, das sie bei der Leiche erhoben, aus traurigem Herzen kam, bezweifelte man in der Nachbarschaft. Zuerst suchten diese Verwandten des Verstorbenen, um der taubstummen Tochter nicht alle Mühe aufzubürden, Keller und Speicher ab und veranstalteten mit den vorhandenen Vorräten eine respektable „Gräbd“5; es war ja begreiflich, dass man von dem zweistündigen Weg bis zum Friedhof hungrig werden musste. Besonders gute Dienste leistete da das Kirschwasser, das man in einer unangebrochenen großen Strohflasche entdeckte, denn der Alte hatte das „Gläseln“6 nicht geübt.

Wie bei Simsons Tode mehr Philister umkamen, als er in seinem ganzen Leben vertilgt hatte, so wurden hier bei der Beerdigung des alten Mannes mehr Gläschen vertilgt, als er selbst in seinem ganzen Leben je getrunken hatte. Unter der zu unbesonnenen Taten begeisternden Wirkung des Getränks fingen dann Etliche an, von der Teilung zu reden; es wäre ihnen kommod7, wenn sie gleich etwas mitnehmen könnten. „Ja“, erklärte der nächste Verwandte, „den Buben da, den er gedinget hat, den könnt ihr haben, wenn ihr wollt, der muss allweg irgendwo gefüttert werden bis zur nächsten Verdinggemeinde im Brachmonat; aber vom Teilen redet nicht, es gibt nichts aus dem Käs. Die Tochter ist die einzige Erbin; sie hat zwar das Alter längst, um mündig zu sein, aber weil sie keinen Mund hat, so steckt die Vormundschaftsbehörde allweg ihre Nase in die Sache hinein. Einstweilen nehme ich als Onkel das Eisi zu mir, allein kann man es ja hier nicht hausen lassen, den Bub kann nehmen wer will.“ – „Wenn dem so ist“, sagten die Andern und machten ein langes Gesicht, „so nimm du den Bub auch gleich dazu, es wird am Platz sein, dass, wer den Nutzen hat, auch den Schaden übernimmt.“

Und so nahm denn der besorgte Onkel mit der gewinnversprechenden taubstummen Nichte auch den armen Resli mit. Die erstere hatte es nicht schlecht, man setzte große Hoffnungen auf sie, wenn sie bleiben würde, denn wer die Erbin hat, dem winkt auch das Erbe zu. Resli dagegen, der von Anfangs April bis erste Woche Juni um der Gottswillen, wie man ihm oft genug vorhielt, hier aufgenommen wurde, bekam es zur Genüge zu fühlen, ein wie unwillkommener Gast er war, er, an dem kein Erbteil, sondern nur ein elendes Kostgeld hing. Außer Schlafens- und Essenszeit durfte er nicht im Hause sein. Er wurde aber in der Zwischenzeit nicht etwa in die Schule geschickt. Das wäre ihm eine schöne Ordnung, begehrte der neue Meister auf, als Resli um Erlaubnis zum Schulbesuche bat, wenn jeder Bettelbub in die Schule gehen sollte und noch dazu im Frühling, wo so viel Arbeit sei. Werchen8 sollte ein solcher lernen, was trage ihm das Lesen und Schreiben ab. Zu rechnen werde er einmal doch nicht viel haben, und wo kämen die Bauern hin, wenn bald jeder Talner9 so gut rechnen könnte, wie sie. Resli sagte denn auch nichts mehr von der Schule, seitdem ihm dieser Bescheid zu Teil geworden war.

Er ging bei Regen und bei Sonnenschein und hütete die paar Schafe seines Meisters, indem er sie das Gras bei den Zäunen abätzen10 ließ, denn eine Weide besaß der Meister nicht, obschon er in seinen Augen ein so großer Bauer war, der himmelhoch über einem Tagelöhner und Bettelbuben stand; das machte, er sah sich bereits durch das Vergrößerungsglas des in Aussicht stehenden Erbes an. So brachte Resli den ganzen Tag mit ähnlichen, verschnupften11 Kindern zu. Phantasiereiche Städter malen sich oft das Leben eines Hirtenbuben so idyllisch aus, als rege der Umgang mit den Schafen und mit der Natur schon von selbst zur Gottesfurcht an. Wenn sie aber wüssten, was für eine Schule des Lasters für manche arme Kinder dieses gemeinsame Hüten von einigen Schafen oder Ziegen ist, sie fänden Reslis Los nicht eben beneidenswert.

Nein, hier beim Schafehüten brachen die alten Sündenwunden des armen Knaben, die unter der Pflege des alten, frommen Mannes vernarbet waren, von neuem wieder auf, und hier war niemand, der den Balsam des Wortes Gottes in dieselben goss. Fluchen und Schwören hörte er im Haus, aber kein Gebet, und wenn er draußen an den Gassen hütete, so traf er hier eben die Gassenbuben an, denen sah er ihre Unarten ab, oder er wurde von ihnen selbst zur Zielscheibe ihrer Bubenstücke gemacht. Da seine Kleider zu zerreißen begannen, niemand sie ihm flickte und er auch keine neuen erhielt, so machten sich die andern Kinder Spaß daraus und rissen ihm die Fetzen vom Leibe, um, wie sie sagten, ihre eigenen Löcher zu verstopfen damit. Die ehrbaren Leute, die des Weges kamen, gingen an ihm vorüber wie der Priester und der Levit an dem, der unter die Räuber gefallen war, nein, sie schalten ihn noch einen Hudel, was in feinerem Deutsch einen Lumpen bedeuten will.

Resli wartete vergeblich auf den barmherzigen Samariter, er kam nicht, und so blieb dem armen Jungen nichts anderes übrig, als fortan hinter eine Hecke zu schlüpfen, wenn jemand vorüberging, und sich zu vertrösten auf die nächste Verdinggemeinde, wo der liebe Gott ihm wieder einen Engel zuschicken konnte, wie der verstorbene Pflegevater einer gewesen war.

1 Heimweh

2 Flasche, Arznei

3 Schachtel

4 Kirschenblüte

5 Leichenschmaus

6 (gemeinsam) trinken

7 bequem, behaglich

8 Arbeiten, Werken, Schaffen

9 wohl ein Knecht des Bauern

10 abfressen

11 missmutigen, verärgerten

4. Wie Resli vom Regen unter das Dachtrauf kommt

Resli wurde auf keinen afrikanischen Sklavenmarkt geschleppt. Dort werden ja die schwarzen Heidenkinder an den Meistbietenden verkauft, die Verdinggemeinde aber gab den Knaben an den Mindestfordernden hin. Er kam in ein Haus im Reckholderberg, nahe bei Kurzenwyl. Zwei Brüder bauerten dort insgemein. Verheiratet waren sie nicht, ihre Mutter lebte auch nicht mehr, eine Schwestertochter war das einzige Weibervolk im Haus, sie besorgte den beiden Hagestolzen1 die Haushaltung. Eine Mutter hatte Resli selbstverständlich an dieser Tochter nicht, dazu war sie noch zu jung, sie hätte selbst noch eine nötig gehabt, und dass zwei ältere Junggesellen keine Väter sind, weiß Jedermann. Es erfüllte sich an dem armen Knaben demnach das Wort: „Wenn ihr gleich zehntausend Zuchtmeister hättet, so habt ihr doch keinen Vater.“

Das war ein großer Schade für ihn, denn wie sehr hätte der achtjährige Knabe der väterlichen Erziehung und der mütterlichen Pflege bedurft. Was für eine Herzlosigkeit liegt doch in einer derartigen Verkostgeldung armer Kinder, bei welcher nur zwei Gesichtspunkte maßgebend sind, der Kostenpunkt und die Rücksicht darauf, dass ein solches Kind werchen lernen muss. Ganz richtig ist es ja an und für sich, wenn man die Verdingkinder vor dem Müßiggang bewahren will, weil dieser in der Tat aller Laster Anfang ist, aber ist denn damit einem Kinde schon eine gute Erziehung zugesichert, dass man ihm für schwere Arbeit sorgt? Als ob die Anstrengung aller Tugenden Anfang wäre! Resli wenigstens hat`s erfahren, dass dem nicht so ist. Arbeit hatte er genug unter der Junggesellenmeisterschaft, für die ein Kind nur so viel Wert hatte, als man an ihm Tagelöhne ersparen konnte; um seine Erziehung zur Tugend und Gottesfurcht kümmerte man sich aber in diesem Hause keinen Pfifferling. Nun denken Manche, diesen Mangel empfinde so ein Bub ja nicht; auf einen groben Klotz gehöre ein grober Keil. Aber Resli hatte keinen groben Klotz, sondern ein weiches Herz in seiner Brust. Hatte er das von seiner Mutter geerbt, oder war`s Gottes Gnade, die ihn frühe zog; wohl wurde es ihm die sechs Jahre hindurch, die er in diesem Hause zubrachte, nie in dem Heidentum, in das er hier mitten in der Christenheit, nur zwei Stunden von der nächsten Kirche entfernt, hineingegangen war.

Wir sagen „Heidentum“. Gab es denn Götzen in diesem Haus? Ja, der große Götze Mammon hatte hier alles in seiner Gewalt. Über seinem Altar hatten die beiden Brüder einen Bund gemacht, keiner von ihnen wolle sich verheiraten; lieber einen Sack voll Geld als eine Schar Kinder im Haus, sagten sie. Sie hielten ihr Versprechen treulich, das ist wahr; es kam auch etwas dabei heraus: Sie machten ihren Hof schuldenfrei, zahlten ihren Geschwistern, was ihnen heraus gehörte und machten noch ordentlich für. Aber sie merkten nicht, dass ihr Geldmachen auf Kosten der Seele ging. Die sechs Jahre hindurch, so lange Resli in ihrem Hause war, hat keiner von ihnen ein Gotteshaus besucht, als wo sie vor das Chorgericht mussten.

Aber warum mussten sie denn vor das Chorgericht? Das kam so: Die Haushälterin der beiden Junggesellen hatte das Unglück, wie man zu sagen pflegt, zweimal Mutter zu werden während jener Zeit. Damals fiel aber, nach gutem altem Brauch, die Untersuchung solch delikater Fälle noch dem kirchlichen Sittengericht zu, das aus dem Pfarrer und den Kirchenältesten bestand. So wurden denn vom Chorgericht die beiden Brüder vorgeladen, sie sollten angeben, wer der Vater dieser Kinder sei. Genau anzugeben vermochten sie das aus guten Gründen nicht, aber sie hatten wohl aus ebenso guten Gründen nichts dagegen zu sagen, als das Chorgericht ihnen die Sorge für die Kinder überband, obgleich man dieselben auf den Namen der Mutter ins Taufregister schrieb.

So hatte denn der Bund, den die beiden Brüder am Altare Mammons miteinander geschlossen, einen Riss gekriegt, sintemal2 es noch mehr Götzen gibt in der Welt, von denen der eine dem andern gar zu gerne einen Streich spielt, wenn er kann, denn sie kämpfen allesamt um die Herrschaft über das Menschenherz. Welcher Götze in diesem Fall über den Mammon Meister geworden ist, brauchen wir nicht erst zu sagen, unsere Leser wissen`s schon.

Die beiden Brüder sahen ein, dass Mammons Herrschaft bedenklich ins Wanken geraten sei, so sannen sie denn auf neue Mittel zu deren Befestigung. Es war Winter geworden, wo der Bauer, wenn er nichts zu holzen hat, manche Stunde auf dem Ofen sitzt. Dies war auch die Zeit, wo sogar Resli in die Schule ging; im Sommer gab es nichts daraus. Allein, nun kam den Brüdern in den Sinn, es gäbe doch auch noch eine nützlichere Winterbeschäftigung, als auf dem Ofen zu sitzen oder in die Schule zu gehen, bei der zudem ein hübsches Stück Geld zu verdienen sei, wenn viele Hände daran gehen. Die ärmeren Leute spannen nämlich damals den sogenannten Gremplerflachs und um etwas Ordentliches dabei zu verdienen, saß an vielen Orten vom frühen Morgen bis zum späten Abend Jung und Alt, Mann und Weib, zum Spinnrad hin.

Bisher hatte nur Lisi, die Haushälterin, das Spinnen besorgt; ihre Arbeit reichte für die kleine Haushaltung hin. Nun aber war der Flachs gut geraten im verwichenen3 Sommer, sie hatten viel, und die Brüder rechneten aus, wie viel mehr sie lösen könnten aus dem Garn, als aus dem ungesponnenen Flachs. Flugs machten sie für sich und Resli drei alte Spinnräder zurecht, und nun schnurrte es in der Bauernstube den ganzen Tag, während draußen der Sturm die weiße Baumwolle zu einer schneeweißen Decke verwob. Resli wurde in der noch ungewohnten Kunst von Lisi unterrichtet, er zeigte Geschick dazu und hatte auch Freude daran. Bald erhielt er aber die Aufgabe, alle drei Wochen ein ganzes Pfund zu spinnen. Konnte er neben seinen übrigen Hausgeschäften zwischen der Schule damit nicht fertig werden, so blieb ihm eben keine andere Wahl, als das Lernen an den Nagel zu hängen und hinter dem Spinnrad zu studieren, was natürlich nach der Ansicht seiner Meistersleute viel vernünftiger war. Dass er unter solchen Umständen kaum notdürftig schreiben und rechnen lernte, versteht sich von selbst; es fehlte ihm ohnehin am Schreibmaterial, dazu gab ihm niemand Geld, und die Schule verabfolgte4 in damaliger Zeit noch keine Lehrmittel, von wegen sie arbeitete noch nicht unter so hohem Steuerdruck wie heutzutage, was Wunder, dass auch ihre Leistungen damals noch nicht so hoch gestiegen sind wie in einer glücklicheren Zeit, die sich zu der „guten alten Zeit“ ausnimmt wie die fetten Kühe zu den sieben magern Pharaos. Resli suchte sich freilich den Schulbesuch so viel wie möglich dadurch zu sichern, dass er Morgens sehr früh ans Spinnen ging und Abends bis 9 und 10 Uhr bei der Arbeit blieb, was für den kleinen Knaben gewiss keine geringe Leistung war. Überwältigte ihn bei der Nachtarbeit der Schlaf, was sich allemal am Stillstehen seines Spinnrades zu erkennen gab, so zupfte man ihn nicht gar sanft am Haar, dass ihm der Spengler aus den Augen wich.

 

Gewöhnlich sorgten aber die Männer, die an den langen Winterabenden zum Abendsitze kamen, schon dafür, dass Resli nicht schläfrig ward. Die ganze Nachbarschaft hatte hier freien Zutritt, wo kein Vater und keine Mutter auf Zucht und Ordnung hielt. Und leider fanden sich aus diesem Grunde nicht gerade die Besten ein. Hätten sie nur allerlei Kurzweil getrieben und mit Hand- und Mundharmonika musiziert, oder hätten sie gar Geschichten vorgelesen wie W.O. von Horn sie in der „Spinnstube“ erzählt, so hätte Resli wenigstens noch etwas dabei gelernt; nun aber überboten diese wilden Männer sich im Erzählen ihrer Schandtaten, die sie als „Nachtbuben“ beim Kiltlaufen5 verübt.

Sie begnügten sich nicht etwa mit der Erinnerung an ihre lustigen Bubenstreiche, sie erzählten nicht bloß wie sie einem Bauern Nachts den Heuwagen auf den Dachgiebel gestellt oder einem andern den Pflug in den Baum hinauf gehängt, nein, die schlüpfrigsten Geschichten mussten her, und hatte man keine solchen mehr auf Lager, so wurde eine gemacht, dass der Schmutz davon dem Erzähler über die Maulecken herunter troff. Und das alles wurde natürlich nicht nur vor den Ohren der jungen Haushälterin, sondern auch vor Resli ausgekramt. Dieser hatte anfangs an solchem Schmutz nicht sonderlich Geschmack, er fühlte so etwas dabei, er wusste selbst nicht was.

Er kam sich wie verlassen von Gott und Menschen vor, als ob er unter eine Räuberbande geraten sei. Das war er auch; denn diese elenden Menschen raubten ihm mit ihrem wüsten Geschwätz die Unschuld weg, die er noch mitgebracht, und traten mit ihren groben Füssen jedes Schamgefühl in den Kot. Der Lichtfunke, der noch in des Knaben Herz wie ein glimmendes Docht geleuchtet hatte, fing allmählich an zu erbleichen, und das junge Herz geriet durch die gewissenlosen Nachtbuben in die Nacht der Sünde hinein. Wehe darum den Menschen, die einen dieser Kleinen ärgern, wie es diese Männer taten mit ihren ungewaschenen Mäulern, wahrlich, es wäre ihnen besser, ein Mühlstein würde ihnen an den Hals gehängt und sie würden ersäuft im Meer, da es am tiefsten ist!

Wer will nach alledem bestreiten, dass es noch heidnische Familien gibt mitten in der Christenheit? Hier konnte man wirklich sagen: „Wo keine Bibel ist im Haus, da sieht`s gar öd` und traurig aus!“ Doch war eine da, sie stund in der Ecke hinter dem Tisch. Aber wie wurde sie bebraucht! Eines Sonntags, als Resli nach Hause kam, saß einer der Brüder hinter dem Tisch und hatte sie offen vor sich liegen. Jetzt kommt`s gut, dachte Resli, und die Erinnerung an seinen verstorbenen Pflegevater, der immer einige Stunden des Sonntags hinter der Bibel zugebracht, erwachte in ihm. Aber er hatte sich zu früh gefreut. Wie er näher zusieht, bemerkt er, dass der vermeintliche Bibelleser nicht die Wahrheit, sondern die Wanzen in der Bibel sucht. Mit der einen Hand wendete er die Blätter um, in der andern hatte er einen Stift, zog diesen am innern Ende jedes Blattes durch und machte auf diese Weise Jagd auf die genannten Haustiere, von deren Anwesenheit im Hause Resli auch zu erzählen wusste. Es war den Tierlein wirklich nicht zu verargen, dass sie im Kampf ums Dasein in die Bibel krochen, dort hatte sie wenigstens Jahre lang niemand gestört.

1 sehr stolze Menschen

2 weil

3 vergangenen

4 geben

5 nächtlicher Besuch bei Mädchen

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