Nach Corona – Unsere Zukunft neu gestalten

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7. Nach Corona: Die großen Probleme bleiben

Doch die großen globalen Probleme der Vor-Corona-Zeit bleiben auch nach Corona bestehen. Leider gehören Deutschland sowie alle neun Atombomben-Mächte (die USA, Russland, China, England, Frankreich, Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea) nicht zu den Befürwortern einer atomwaffenfreien Welt. Aber Papst Franziskus, der Groß-Iman von Kairo und der Dalai Lama haben sich als Vertreter der großen Religionen der Forderung nach einer Welt ohne Atomwaffen angeschlossen. Der Dalai Lama sagt allerdings auch: »Ohne Menschen ginge es der Erde besser.«

Hat er nicht recht? Wir Menschen sind schließlich die Ur­sache für das Artensterben. Wir Menschen haben die Massenvernichtungswaffen erfunden und entwickelt, wir bedrohen uns mit gegenseitiger Abschreckung und Vernichtung, und wir Menschen verursachen die Klimaerhitzung.

Die Überzeugung dieses Buches: Alle notwendigen Technologien für einen Öko-Wumms nach der Corona-Krise sind vorhanden. Jetzt kommt es darauf an, diesen im Sinne von Konfuzius auch wirklich, wirklich gestalten zu wollen. Wir haben die Chance, nach Corona die Zukunft nicht nur neu zu denken, sondern auch, sie neu zu gestalten. Der derzeitige Prozess ist menschengemacht und deshalb auch veränderbar. Dafür wird die neue Jugendbewegung »Fridays for Future« – unterstützt von 28.000 Wissenschaftlern (»Scientists for Future«) aus der ganzen Welt – schon sorgen. Wir haben hier eine ganz neue und effektive Koalition. Schon in der Corona-Krise hat die Politik gelernt, auf die Wissenschaft zu hören. Wohl noch nie haben auf der ganzen Welt Wissenschaftler*innen eine öffentliche Debatte so dominiert wie während der Corona-Krise. Bill Clinton hat noch Wahlen gewonnen mit dem Slogan: »It’s the economy, stupid.« Künftige Wahlen werden gewonnen nach dem Motto: »It’s the ecology, stupid.« Voraussetzung für die nächste Transformation ist, dass die Politik jetzt bei der Klimaerhitzung so intensiv auf die Wissenschaft hört wie in der Corona-Krise.

Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen mehr Zukunft wagen, das heißt, bei unseren Handlungen mehr an die künftigen Generationen denken. Heute gilt noch zu sehr das Motto: »Nach uns die Sintflut.«

Die Pandemie und die neue globale Jugend- und Kinder-Bewegung »Fridays for Future« sind die Trägerinnen und Treibe­r für die notwendige Politikwende. Weltweit sollte die Friedensbewegung wieder so aktiv werden, wie sie es eindrucksvoll und erfolgreich vor 40 Jahren gewesen ist. In einem Buch, das ich zusammen mit Michail Gorbatschow geschrieben habe (»Nie wieder Krieg – Kommt endlich zur Vernunft«), hat mir dieser Ausnahmepolitiker bestätigt, dass er seine Politik der atomaren Abrüstung gegenüber seinen Hardlinern nur mithilfe der weltweiten Friedensbewegung durchsetzen konnte. Heute, im Zeitalter der atomaren »Modernisierung«, brauchen wir wieder eine neue, starke Friedensbewegung. Die alten großen Parteien in Deutschland schaffen die Kurve nicht, es braucht eine neue Friedensbewegung. Die Friedensbewegung in den Achtzigern des letzten Jahrhunderts wurde von beinahe der Hälfte der Deutschen unterstützt.

Was wäre ein Atomkrieg? Das habe ich Michail Gorbatschow gefragt. Seine eindeutige Antwort: »Ein Atomkrieg wäre der letzte Krieg in der Geschichte der Menschheit, weil es danach keine Menschen mehr gäbe, die noch einen Krieg führen könnten.« Entweder wir schaffen die Atombomben ab, oder diese schaffen eines Tages uns ab. Wir können realistischerweise nicht davon ausgehen, dass wir immer wieder nur Glück haben werden. Sowohl die Technik als auch ein Politiker kann versagen. Trump in den USA war so unberechenbar, wie Kim es in Nordkorea ist. Beide haben sich ja schon mit gegenseitiger atomarer Vernichtung bedroht. Solchen Menschen ist alles zuzutrauen. Niemand kann uns vor unfähigen Politikern schützen, die zu allem fähig sind. Der frühere US-Präsident Nixon schrieb in seinen Memoiren, dass er während seiner Amtszeit dreimal an den Einsatz von Atombomben gedacht habe. Auch 1961 bei der Kuba-Krise stand die Welt am Rande einer atomaren Vernichtung. Alles, was technisch möglich ist, wird irgendwann passieren.


Michail Gorbatschow mit Franz Alt. Der Staatspräsident der Sowjetunion setzte mit Glasnost und Perestroika neue Akzente in der

russischen Politik.

© Bigi Alt, Baden-Baden

Und was wäre die weitere Klimaerhitzung? Die lapidare Antwort der Chefin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde: »Wir werden geröstet, getoastet und gebraten.« Naturwissenschaftler sagen es so: Die Welt schmilzt, erhitzt und flutet. Es ist dieselbe Katastrophe. Und sie ist menschengemacht.

Also: Welche Zukunft wollen wir? Eine Zukunft der Trostlosigkeit oder eine Zukunft der Hoffnung und Lebensfreude? Noch haben wir die Antwort auf diese Frage selbst in der Hand. Mahatma Gandhi: »Sei selbst die Veränderung, die du in der Welt sehen möchtest.«

Wie könnte die Veränderung ganz konkret und praktisch aussehen? Ein Beispiel: Noch nie wurde in Deutschland so viel herumgereist und herumgeflogen wie im Jahr 2019. Über 55 Milliarden Euro wurden allein für Dienstreisen ausgegeben, hat der Reisemanagementverband VDR errechnet. Muss man tatsächlich mehrmals am Tag in einen Flieger steigen, um an einem zweistündigen Treffen teilzunehmen? Im Corona-Jahr 2020 haben wir gelernt, dass man Geschäftsverbindungen auch intelligenter, gesünder und umweltfreundlicher per Video-Konferenz aufrechterhalten kann. Wie viele der 195 Millionen Geschäftsreisen im Jahr 2019 waren wirklich notwendig? Jetten war plötzlich out und viele Geschäfte verliefen genauso gut. Das hätten wir auch schon vorher lernen können, haben wir aber nicht.

Erst in der digitalen Begegnung haben wir gelernt, was wir schon früher wussten. Erst im Corona-Jahr 2020 haben Firmen wie die Deutsche Post, die Telekom, auch Bayer und Thyssenkrupp entschieden, mehr auf Videokonferenzen als auf Dienstreisen zu setzen. Eine Umfrage des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft bei 500 großen deutschen Firmen ergab, dass 90 Prozent ihre Dienstreisen kritisch überprüfen wollen. Alte Gewohnheiten waren noch nie eine sinnvolle Begründung, um an etwas festzuhalten, das eigentlich schon lange ausgedient hat.

Erst jetzt haben wir realisiert, was wir schon früher wussten: Wir Menschen sind nicht allein auf dieser Welt. Doch auf dem Auge »Tierwohl« waren wir zu lange blind. Wir sind den Tieren zu nahe gerückt, haben ihnen zu viel Platz weggenommen. So kommen die Vogelgrippe von Vögeln, HIV von Affen und Corona und Ebola von Fledermäusen zu uns Menschen. Eine der Ursachen der Corona-Pandemie ist die sogenannte Zoonose, bei der mutierte Tierseuchen-Erreger auf Menschen übertragen werden. Der globale Welttierhandel bringt unterschiedliche Tierarten auf engstem Raum zusammen; Viren können leicht in ihren Körper eindringen. Die Tiere werden der Wildnis, ihrem Lebensraum, entrissen und gelangen auf Märkten und im Handel zwangsläufig mit Menschen in Kontakt. Sie stehen unter Stress, und ihr Immunsystem ist geschwächt. Eine perfekte Voraussetzung für eine Pandemie.

In Dänemark wurde ein »Cluster-5-Virus« von Tieren auf Menschen übertragen. Deshalb mussten dort zehn Millionen Nerze getötet werden. Die Tiere wurden in Massentierhaltung in engen Nerzfarmen gezüchtet, während sie sonst ihren Lebensraum in der freien Natur haben. Exotische Tiere werden gejagt, gefangen, auf Tierbörsen gehandelt. Auch in Deutschland gibt es einen illegalen Handel mit exotischen Tieren. Geschützte und seltene Tiere erzielen einen hohen Preis. Jetzt ist die Politik gefragt. Nur ein Verbot der Haltung in artfremdem Raum kann dazu verhelfen, langfristig Pandemien zu vermeiden.

Es müssen dafür Milliarden von Euro aufgewendet werden, um Korallenriffe wieder herzustellen, Wälder aufzuforsten und Regenwälder sowie Räume für Wildtiere zu schützen. Zurzeit aber verlieren wir pro Jahr eine Milliarde Bäume, und wir rotten jedes Jahr beinahe eine drei Viertel Million Tier- und Pflanzenarten aus. Es gab einmal 6000 Milliarden Bäume, heute haben wir noch circa 3000 Milliarden. Immerhin haben 50 Regierungen – darunter auch die deutsche – Anfang Januar 2021 in Paris erklärt, bis 2030 dreißig Prozent des Planeten unter Naturschutz stellen zu wollen. Immerhin ein erster Schritt in die richtige Richtung.

8. Was lernen wir aus der Corona-Krise?

Diese Frage kann man so beantworten wie die Queen von England: »Better days will come.« Die Dame ist 95 Jahre alt, hat schon viel gesehen und erlebt und muss es folglich wissen.

In ihrem weltweit gefeierten Gedicht »Und die Menschen blieben zu Hause«, das Stefano Di Cristofaro und Paul Pereda zu einem schönen Kindermalbuch illustriert haben, schreibt die Autorin Kitty O’Meara: »Und die Menschen blieben zu Hause. Und sie hörten einander zu und lasen Bücher – und ruhten sich aus – und spielten Spiele – und sie lernten, auf eine neue Art zu leben – und kamen zur Ruhe. – Und sie hörten genauer hin. – Manche meditierten – manche beteten – manche tanzten. – Manche begegneten ihren Schatten. – Und die Menschen begannen, anders zu denken. Und die Menschen heilten. – Und in Abwesenheit der rücksichtslosen, gefährlichen und herzlosen Lebensweisen der Menschen begann die Erde zu heilen. Und als die Gefahr vorüber war und die Menschen wieder zusammenkamen, betrauerten sie ihre Verluste und trafen neue Entscheidungen, und sie träumten von neuen Ideen und schufen neue Lebensweisen, um die Erde vollständig zu heilen, so wie auch sie geheilt worden waren.«

In einem Interview sagt die Autorin: »Das Virus bringt uns zwar eine Krankheit, aber wir haben die Möglichkeit, uns lebendiger als je zuvor zu fühlen. Wir können uns ausruhen. Wir können uns hinsetzen und den Vögeln zuhören, wir können kreativ werden, etwas Neues lernen.«

 

Schön und gut so. Denn das kann jede und jeder selbst entscheiden. Gerade in den dunkelsten Stunden unseres Lebens ist es manchmal möglich, unser hellstes Licht zu entdecken. Wir können die machtvolle Energie dieser Wendezeit für eine Zeitenwende nutzen. Eine bessere Welt liegt immer auch in unseren eigenen Händen.

Während der Corona-Einschränkungen entdeckten viele Menschen das Spazierengehen wieder. Seit etwa zehn Jahren gehe ich jeden Abend eine knappe Stunde in den Wald. Die Erfahrung, die ich dabei machen durfte: Gehen hilft dem Geist, schenkt Zeit, Erlebtes zu verarbeiten, und bringt Ruhe für wichtige Entscheidungen. Oft fehlt es uns ja an Geist. Und manchmal sind wir von allen guten Geistern verlassen. Deshalb kann auch keine Be-geisterung zustande kommen.

Der Lockdown lockte – so habe ich es im Schwarzwald fast täglich erlebt – viele Menschen in den Wald. »Das Waldbruttospazieraufkommen hat sich durch Corona verzehnfacht« (Axel Hacke), mindestens. Und im Wald pfeift mir das Käuzchen zu: »Du schon wieder?« Den Wald erlebe ich als großartigen Ersatz für die Freiheit, die wir in Corona-Zeiten nicht hatten. Der Wald tut uns einfach gut. Dadurch, dass Bäume ätherische Öle an die Luft abgeben, wird unser Immunsystem gestärkt. Waldbaden wirkt positiv auf das vegetative Nervensystem, der Blutdruck sinkt, und Stress wird abgebaut.

Also: Die Zeit wird kommen, in der wir uns wieder zuwinken und in der das Lächeln ohne Maske größer sein wird als der Abstand. Es werden dann Wochen und Monate großer Dankbarkeit sein.

Aber was haben die Politik, die Wirtschaft und die Gesellschaft mit Corona gemacht, und was hat Corona mit uns allen gemacht?

Häufig wurde gegen die Corona-Beschränkungen ähnlich polemisiert wie gegen die Einschränkungen gegen die Klimaerhitzung: »Corona-Diktatur« rufen die Kritiker der Corona-Maßnahmen, und »Öko-Diktatur« meckern die Kritiker der Maßnahmen für mehr Klimaschutz.

In der Corona-Krise waren und sind sich allerdings die meisten Menschen einig, dass wir mit Rücksicht auf die anderen unsere Freiheit einschränken müssen. Freiheit kann nicht heißen, dass ich das Recht habe, andere krank zu machen.

Wie aber ist das bei der Klimakrise? Dürfen wir SUVs fahren oder fliegen, auch wenn andere deshalb krank werden, flüchten müssen oder sterben? Dürfen wir weiter so viel Fleisch essen wie heute, auch wenn andere dafür hungern oder fliehen müssen? Müssen wir, um die Klimaerhitzung noch zu stoppen, nicht genauso Rücksicht nehmen und Einschränkungen unserer Freiheit akzeptieren, wie wir das in der Corona-Krise taten und tun? Wie sieht eine Ethik aus, die sowohl an die Zukunft wie auch an das große Ganze denkt?

Freiheit ohne Verantwortung ist ethisch blind und deshalb krank, sie ist verantwortungslos und asozial. Sie liefert sich den blinden Kräften des Unbewussten aus, den dumpfen Kräften des Egoismus und der Gewalt. Wirkliche Freiheit ist immer verantwortete Freiheit. Die Geistigkeit des Menschen beinhaltet wahre Freiheit und Verantwortung. Viktor Frankl, Überlebender von Auschwitz, nennt sie die »Trotzmacht des Geistes«. »Trotzmacht des Geistes« – das ist die Krönung des Menschseins, seine Gottähnlichkeit. Diese »Trotzmacht des Geistes« finde ich im Psalm 8 des Alten Testaments wieder: »Du, Gott, hast den Menschen gottgleich gestaltet, mit Glanz und Herrlichkeit hast du ihn gekrönt, hast ihn eingesetzt über deine Schöpfung.« »Deine Schöpfung«: Das heißt anerkennen, dass die Natur nicht von uns geschaffen wurde, sondern von einer höheren geistigen Macht.

Die Naturgesetze sind nicht von uns gemacht. Die Tatsache, dass das Eis schmilzt, wenn die Temperatur über null Grad steigt, ist ein Naturgesetz, das nicht von unserer Spezies erfunden wurde. An diesem Phänomen können Menschen Gott sei Dank nichts ändern. Es ist einfach dumm, diese Erkenntnisse zu leugnen. Diese Erkenntnisse erfordern freilich Demut. Im selben Alten Testament heißt es: »Macht euch die Erde untertan«, was aber in Wahrheit bedeutet: »Macht euch der Erde untertan.« Wir Menschen können aber sehr wohl dafür sorgen, dass immer weniger fossile Rohstoffe verbrannt und diese schließlich komplett durch erneuerbare Energien ersetzt werden. Die »Trotzmacht des Geistes« ist die herrlichste Gabe des Himmels.

Gott hat uns als seine Ebenbilder erschaffen. Wir sind vielleicht das Beste, was ihm je einfiel. Wir sind ihm geradezu gefährlich ähnlich. Er hat uns einen cleveren Kopf mitgegeben zum Lernen, zum Träumen, zum Denken und Verstehen, aber auch zum Fehlermachen. Das ist unser Schicksal. Wir sind als Freie geboren. Mit unserer Freiheit hat Gott alles riskiert. Die berühmte Frage »Wie kann Gott das zulassen?«, wird immer wieder gestellt, wenn wir Menschen etwas vergeigt haben. Das ist eine typische Projektion. Wir brauchen einen Sündenbock, um unsere eigene Verantwortung zu verdrängen. Nicht Gott baut Atombomben, sondern wir. Nicht Gott ist für die Klimaerhitzung verantwortlich, sondern wir. Nicht Gott führt Kriege, sondern wir. Alle Gründe für das Insektensterben haben mit unserer Zivilisation zu tun. Wir Menschen sind die Ursache des Massenaussterbens.

In den meisten Weltregionen und Weltreligionen ist es absolut unverständlich, dass im christlichen Mitteleuropa Träume als »Schäume« gelten. In Neu-Delhi sprach vor mir Indiens Präsident Abdul Kalam auf einer Welt-Wind-Konferenz. Hunderten begeisterten Jugendlichen rief er zu: »Träumt, träumt, träumt. Bevor Träume wahr werden, müssen wir träumen.« Aus Träumen werden Gedanken, und aus Gedanken werden Taten.

Die asozialen Freiheits-Dogmatiker der sogenannten Querdenker-Bewegung riefen in der Zeit der Corona-Krise »Corona-Diktatur« und heute beim Klimaschutz »Öko-Diktatur«. Doch gilt bei beiden Krisen in gleicher Weise: »Du hast kein Recht, andere krank zu machen.« Und: »Du hast kein Recht, die Lebensgrundlagen späterer Generationen aufs Spiel zu setzen.« Sie, liebe Leser, halten diese Thesen vielleicht für übertrieben? Da täuschen Sie sich: Das Bundesverfassungsgericht hat im Frühjahr 2021 höchstrichterlich bestätigt, dass wir nicht auf Kosten der nachfolgenden Generationen wirtschaften und leben dürfen.

Mich ärgert schon der Name der verqueren Querdenker, weil ich auf 3sat vier Jahre lang die Zukunftssendung »Querdenker« geleitet und moderiert habe. Die wirklichen Querdenker, die dabei zu Wort kamen, hießen: Michail Gorbatschow, der Dalai Lama, der Reform-Theologe Eugen Drewermann, der Boatpeo­ple-Retter Rupert Neudeck, der Ökobauer Karl-Ludwig Schweisfurth, die Entwicklungshelferin Rosi Gollmann, der Solararchitekt Rolf Disch, der ökologische Jesus, der Friedensnobelpreisträger und Banker der Armen Muhamad Yunus, der Solarpolitiker Herrmann Scheer, der Verkehrsplaner Heiner Monheim, der Umweltpolitiker Klaus Töpfer, die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross. Die meisten von ihnen waren nicht nur Quer-Denker, sondern vor allem Quer-Handler. Doch die heutigen sogenannten Querdenker sind eher eine Mischung von Neonazis, Impfgegnern, Corona-Leugnern, Esoterikern und AfD-Anhängern.

Wirkliche Querdenker sind für mich Leute, die innovativ sind, etwas für die Gemeinschaft und für das Gemeinwohl vorausdenken und sich dafür auch in der Öffentlichkeit einsetzen. Doch die heutigen sogenannten Querdenker sind zukunftsblind und wissenschaftsfeindlich. Eher Wirrköpfe als wirkliche Querdenker.

Manchmal finden auch bei Politikern überraschende Lernprozesse statt. So hat der CSU-Politiker und Entwicklungsminister Gerd Müller mitten in der Corona-Krise den Vorschlag gemacht: »Milliardäre, öffnet eure Geldbeutel.« Er meinte: Superreiche Krisengewinnler sollen sich freiwillig an der Finanzierung der Krisenbewältigung beteiligen. Müllers Analyse: »In der Krise machen die Digitalkonzerne und die Finanzwirtschaft riesige Gewinne, während die kleinen Geschäfte in unseren Innenstädten unter der Corona-Krise leiden.«


Der CSU-Politiker sagte, allein Amazon-Chef Jeff Bezos sei in den vergangenen Monaten um mehr als 70 Milliarden Dollar reicher geworden, und fügte hinzu: »Das Nettovermögen von Mark Zuckerberg stieg an einem einzigen Tag … um acht Milliarden Dollar.« Er schlage vor, dass Milliardäre in einen Solidaritätsfonds einzahlen, etwa bei den Vereinten Nationen.

Auch andere große Digitalkonzerne, wie Google, Facebook und Apple, sollten sich stärker für das Gemeinwohl engagieren. Diese zahlten bisher in Europa, aber auch in Entwicklungsländern kaum Steuern.

Noch 2021 sollte eine Digitalsteuer international eingeführt werden. Auch Finanzminister Scholz und sogar die neue US-Regierung zeigen sich aufgeschlossen für diesen Vorschlag. Und ich wette, dass auch über 90 Prozent der Leserinnen und Leser dieses Buches dem Vorschlag zustimmen. Stimmt’s?

9. Die Klimaerhitzung fordert schon heute mehr Tote als Corona

Corona und Klima: zwei Krisen, eine Strategie. Die Corona-Pandemie und der Klimawandel weisen Unterschiede und Gemeinsamkeiten auf. Beide Krisen machen nicht an Staatsgrenzen halt. Die Eindämmung des Klimawandels kann nur gelingen, wenn jeder Staat und jede und jeder Einzelne dazu einen Beitrag leistet. Auch die Corona-Krise ist in einer globalisierten Welt nur gemeinsam zu überwinden. Beiden Krisen ist zudem gemeinsam, dass ihre wirtschaftlichen Auswirkungen riesige Dimensionen haben werden.

Eine Bewältigung der Corona-Pandemie ist nur zeitgerecht, wenn zugleich die Klimaerhitzung bekämpft wird. Das hat die EU mit ihrem Green New Deal deutlich gemacht. Wir können klimapolitisch nur Kurs halten, wenn die Bekämpfung der Rezession die Klimakrise immer im Blick hat. Wenn nicht beide Krisen zusammengesehen werden, wird einer pandemiebedingten Rezession unweigerlich eine klimabedingte Rezession folgen.

Mehr Natur- und Umweltschutz kann die Häufigkeit von Pandemien verringern, erklärt die Deutsche Bundesstiftung Umwelt zu ihrem 30-jährigen Jubiläum. Es gehe dabei nicht um Verzicht auf Lebensqualität, es gehe um den Verzicht auf Luftverschmutzung, vergiftete Gewässer und erodierte Böden. Dies sei aber in Wahrheit kein Verzicht, sondern ein Gewinn.

Fest steht: Corona hat 2020/2021 global schon über zwei Millionen Menschen das Leben gekostet. Das ist schrecklich. Aber Luftverschmutzung kostet jedes Jahr bis zu sieben Millionen Menschen das Leben. Allein in Europa sterben nach einer Studie der Europäischen Klima-Agentur jedes Jahr 600.000 Menschen wegen schlechter Luftqualität und durch Feinstäube. Und die Wirtschaft erleidet dadurch Schäden von 168 Milliarden Euro – Jahr für Jahr. Es sterben also weit mehr Menschen durch schlechte Luftqualität als durch Corona. Und beide Themen hängen zusammen. Die Luftverschmutzung erhöht die Zahl der Corona-Toten. Schon die Sars-Epidemie 2003 zeigte die fatalen Auswirkungen verschmutzter Luft. In Regionen mit schlechter Luft starben weit mehr Menschen an Sars als in Regionen mit niedriger Luftverschmutzung.

Eine Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) kommt zum Schluss, dass global sogar neun von zehn Personen zu viele Schadstoffe einatmen: Feinstaub, Stickoxide und Ozon. Deshalb sterben jedes Jahr Millionen Menschen vorzeitig an Krankheiten, die dadurch ausgelöst werden.

Besonders hart und oft sind Kinder durch Umweltgifte betroffen: Das Kinderhilfswerk »Terre des Hommes« hat dazu die Studie »My Planet – my rights« veröffentlicht – mit erschreckenden Fakten: Kinder haben sogar Blei im Blut und Plastik im Körper. Umweltgifte zerstören weltweit Leib und Leben von Kindern – millionenfach. Ihre Körper nehmen mehr Giftstoffe auf als die der Erwachsenen. Grenzwerte sind, falls es überhaupt welche gibt, für Kinder viel zu hoch. Pestizide, Plastik und Schwermetalle schädigen Kinder besonders häufig und heftig.

Kinderärzte bezeichnen die von Umweltgiften verursachten Kinderkrankheiten als »stille Pandemie«. 600.000 Kindern kostet die verseuchte Luft jedes Jahr das Leben. Insgesamt, so »Terre des Hommes«, sterben jedes Jahr 1,7 Millionen Kinder an umweltbedingten Krankheiten. Gifte befinden sich schon in der Muttermilch, in der Kleidung, in Spielzeugen, in Möbeln, in Baumaterial, in der Luft und im Wasser.

Kraftwerke, Bergbau, Chemieanlagen, Färbereien, Straßenverkehr, Waldbrände sowie das Verbrennen von Abfall erzeugen Giftstoffe in der Luft, im Wasser und in den Böden. Schwermetalle, wie Blei und Quecksilber, Arsen und Pestizide schädigen besonders die Gesundheit von Kindern. 800 Millionen Kinder haben viel zu hohe Bleiwerte im Blut. Kinder aus armen Familien sind aufgrund ihrer Lebensumstände besonders belastet. Auch in Deutschland lassen sich bei 95 Prozent der Kinder elf Substanzen im Blut nachweisen, die aus Plastik stammen.

 

Bald werden die EU-Staaten schärfere Maßnahmen gegen die zunehmende Luftverschmutzung verkünden. Es ist absehbar, dass dann wieder viele Menschen ihre Freiheit eingeschränkt sehen und »Öko-Diktatur« rufen. Doch Klimaschutz ist so bitter nötig wie Umweltschutz insgesamt, um unsere Lebensgrundlagen und unsere Gesundheit zu erhalten und um unsere gesamte Zivilisation zu retten. Dafür werden wir Einschränkungen hinnehmen müssen, die wir beim Kampf gegen Corona wie selbstverständlich akzeptiert haben.

Der Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber begründet schärfere Klimaziele (höchstens 2 Grad globale Erwärmung gegenüber dem Beginn der Industrialisierung) und entsprechende Einschränkungen so: Wenn wir alle fossilen Rohstoffe, die heute noch in der Erde sind, verbrennen, dann kann es bis zu fünf Grad oder mehr heißer werden. Zwei Grad plus wären schon die »absolute Grenze«, Ziel müsste es aber sein, die Erderwärmung auf null Grad zu bringen. Schellnhuber fügt hinzu, er glaube nur noch zu zehn Prozent daran, dass wir das Zwei-Grad-Ziel noch schaffen.

Noch pessimistischer drückte es in einem privaten Gespräch mit mir ein anderer renommierter Klimaforscher schon 2017 in Kanada aus: »Ich sage und schreibe auch, dass wir noch eine Chance haben, das Klima zu retten, obwohl ich befürchte, dass es schon zu spät ist.«

Der renommierte Meeresbiologe Mojib Latif und heutige Präsident des »Club of Rome«, sagte 2018: »Wir sind als Gesellschaft unfähig, aus dem Wissen, das wir seit Jahrzehnten haben, die richtigen Schlüsse zu ziehen«, und fügte nach seinen 30 Jahre lang geäußerten Warnungen vor dem Klimawandel resigniert hinzu: »Ich bin gescheitert.« Unser Hauptproblem sei: »Wir denken immer nur kurzfristig, nicht langfristig.« Zum Klimapaket, das die Bundesregierung damals verabschiedet hatte, meinte der Wissenschaftler lapidar: »Das bringt fürs Klima überhaupt nichts.« Wie aber wird aus Wissen Weisheit? Wie bringt uns unser Wissen zum Handeln?

Der »Club of Rome« bedarf vielleicht einer Erweiterung durch den »Pope of Rome« und seine spirituell-ökologischen Enzykliken. Papst Franziskus propagiert eine grüne Theologie. Seine grüne Theologie ist eine erotische Theologie, weil unser Gott seine Schöpfung mit großer Leidenschaft liebt. »Gottes Grünkraft ist erotisch«, schrieb der Religionspädagoge Engelbert Groß in seinem Buch »Der Laudato si‘ -Pakt von Erziehung und Bildung«.

Der fundamentale Unterschied im Kampf gegen die Corona-Krise und gegen die Klimakrise: Corona bedroht uns alle spürbar jetzt. Die Klimakrise bedroht erst unsere Kinder, Enkel und Urenkel. Die Bewältigung der Klimakrise erfordert deshalb ein erweitertes Bewusstsein und Verantwortung für die Zukunft. Das aber fällt uns schwer, weil wir uns kaum vorstellen wollen, was wir für die künftigen Generationen heute anstellen. Wir handeln oft sehr intelligent, aber auch nur kurzsichtig.

Nur ein Bewusstseinswachstum bei immer mehr Menschen kann zu einem tieferen Verständnis des Lebens führen. Wenn Wahrheitssucher in ihre tiefsten Potenziale hineinwachsen wollen, wird dies nur in völliger Freiheit gelingen. Es gibt Zukunftsforscher, die sagen, dass ein Prozent der Weltbevölkerung ausreicht, um den notwendigen globalen Bewusstseinsprozess in Gang zu bringen. Andere meinen freilich, dass die kritische Masse für die große Transformation bei fünf Prozent liege.

Die Klimakrise erfordert eine nie da gewesene Solidarität mit den heute noch Ungeborenen und mit den Ärmsten, die weit von uns weg leben, die aber schon heute durch den von uns verursachten Klimawandel zu Flüchtlingen werden. Vielleicht brauchen wir für die notwendige Transformation schärfere und dauerhaftere Protestformen als bisher. Können wir die Klimaerhitzung auch ohne Revolution bremsen?

Alle Religionen und Weisheitslehren geben uns eine eindeutige Antwort: »Du sollst nicht töten«, und: »Du sollst andere nicht krank machen oder in die Flucht treiben«. Dieses ethische Gebot aller Gebote gilt sowohl gegenüber unseren Enkeln wie gegenüber den Ärmsten. Ethisch unterscheidet sich die Corona-Krise überhaupt nicht von der Klimakrise.

Rasen auf der Autobahn oder das Fahren eines SUV ist so wenig ein Freiheitsrecht wie Rücksichtslosigkeit in der Corona-Zeit. Ich darf weder durch Tröpfchen noch durch Abgase andere krank machen oder gar töten. Eine Welt, in der jeden Tag bis zu 180 Tier- und Pflanzenarten für immer aussterben, ist eine kannibalische Welt.

Die Hauptthese dieses Buches lautet: Noch ist die Zukunft – wie immer – offen. Noch ist eine sanfte Landung in einem lebensverträglichen Morgen möglich – mit einem durchschnittlich höheren Lebensstandard als heute, mit rückläufigen Bevölkerungszahlen und einer sich erholenden Umwelt. Noch! Höherer Lebensstandard meint freilich immer auch die Frage: mehr Haben oder mehr Sein? Mehr materielle Güter oder ein glücklicheres Leben? Dafür brauchen wir einen grundlegenden Kurswechsel der Politik, ein bewussteres Wahlverhalten von Millionen Wählern und ein intelligenteres Konsumverhalten von allen. Dieses Buch will eine Inspiration sein für alle, die sich engagieren für eine friedliche, gerechtere und ökologische Welt.

Ernst Ulrich von Weizsäcker beschreibt in »Wir sind dran« unser heutiges Dilemma so: »Heute ist die Welt wieder in einer kritischen Lage. Wir brauchen einen echten Neuanfang. Aber diesmal halten wir es für notwendig, sich mit den philosophischen Wurzeln der schlimmen Weltlage auseinanderzusetzen. Wir müssen die Legitimität des materialistischen Egoismus infrage stellen, welcher ja als wirksamster Antrieb unserer Welt dargestellt wird. Die Zeit ist reif für eine neue Aufklärung … oder für andere Wege, die heutigen kurzfristigen Denkgewohnheiten und Handlungen abzulösen.« Wir brauchen also eine ganzheitliche Aufklärung der Aufklärung, das ist nicht weniger als eine neue Weltethik.

Mein Motto dafür lautet: »I do believe in what I hope – Ich glaube an das, worauf ich hoffe«; es stammt von Madeleine Albright, der ersten US-Außenministerin.

Während der Corona-Krise schwang – zumindest in Deutschland – immer die Hoffnung mit, dass sich aus dieser Pandemie auch überzeugende Methoden für die Lösung der Klimakrise ableiten lassen: Lernen und Hören auf die Wissenschaft zum Beispiel.

Doch diese beiden Hauptkrisen unserer Zeit zeigen auch fundamentale Unterschiede. Corona erforderte sofortiges Handeln. Die Klimaerhitzung jedoch erscheint vielen noch weit weg zu sein, obwohl sie uns immer näher kommt und deutlicher erfahrbar wird. Vor allem ein großer Unterschied ist schwer vermittelbar: Eine ambitionierte Klimapolitik erfordert kein sofortiges Herunterfahren der Wirtschaft, keine Schulschließungen, kein Kontakt- und Reiseverbot. Ganz im Gegenteil: Klimapolitik bedeutet ein hilfreiches Investitionsprogramm für die Zukunft, bringt neue Jobs, weniger Luftverschmutzung, mehr Gesundheit und mehr Wohlstand für alle. Verteilungsgerechtigkeit könnte sogar zunehmen. Doch die konkrete Klimapolitik der Großen Koalition zeigte, wie schwer es immer noch fällt, sich auf mittelfristige Reformen einzustellen und diese mit den Wählerinnen und Wählern zu kommunizieren. Kurzfristiges Handeln scheint immer noch mehr Erfolg zu versprechen als vorausschauendes Handeln durch Jahrzehnte. Dabei wissen alle, die es wissen wollen, dass uns das Schlimmste bei der Klimaerhitzung noch bevorsteht. Bei der Corona-Krise hatten und haben wir die Hoffnung, dass das Schlimmste schon oder bald vorbei ist. Vor allem durch und mit einem erfolgreichen Impfstoff.