Frank Wendland
Vingar
Schwingen des Todes
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Ankunft in der Fremde
Das Wesen und seine Feinde
Heiko, der Händler
Begegnung mit der dunklen Wölfin
Furcht und Sehnsucht
Svenja
Rulans Rückkehr
Die Entflohenen
Rulans Ende
Impressum neobooks
Sabina stand vor ihrer neuen Herrin am Bug des Segelschiffes und schaute
nach vorn. Langsam kamen die Palisaden und Wachtürme in Sicht. Dorthin,
ins Land ihrer Feinde, brachte man sie nun als Ryns - als Sklavin.
Sie senkte den Blick als sie die Stimme der jungen Frau hörte, die sie nun als
Herrin ansprechen musste.
„Habe keine Sorge. Ich werde Acht geben, dass du in gütige Hände kommst.“
Sabina nickte stumm. Nun - sie hatte mehr Glück als diejenigen, die bei der
Verteidigung von Tjale gefallen waren. Mehr Glück als diejenigen, die in den
Häusern verbrannt waren. Dieser entsetzliche Krieg, den ihr hochmütiger
König vom Zaun gebrochen hatte - sie hatte ihn nicht gewollt. Die meisten
freien Bürger von Tjale hatten ihn nicht gewollt.
Aber es war geschehen. Und als vor 17 Tagen die Segel der Schiffe am
Horizont entdeckt worden waren, war man in Tjale siegessicher gewesen.
Selbst als die Zahl der ausgemachten Schiffe immer größer wurde, hatte es
niemanden wirklich beunruhigt. Nie zuvor waren die Mauern von Tjale
durchbrochen worden. König Claudon hatte in seinen Reden, die er an das
Volk richtete, keinen Zweifel daran gelassen, dass die Vingar keine
ernstzunehmenden Gegner seien.
Doch dann waren die Wesen am Himmel aufgetaucht. Und Tjale zerfiel in
rauchende Trümmer. König Claudon verbrannte in seinem Palast und als die
Söldner, die die Vingar unterstützten an Land gingen, herrschten Chaos und
Entsetzen unter den Überlebenden. Auch sie hatte sich ergeben und so
überlebt. Sie war mit erhobenen Händen auf Skjold zugegangen - die nun
ihre Herrin war. Skjold war jung - keine 18 Sommer konnte sie erlebt haben.
Doch im Volk der Vingar war dies ohne Bedeutung. Skjold hätte sie ohne zu
zögern mit ihrem Speer durchbohrt, wenn Sabina versucht hätte, ihr zu
widerstehen. Sabina hatte ihr Leben in die Hand der Götter gelegt und diese
hatten entschieden, dass Skjold mehr Gefallen daran fand, Gefangene zu
machen statt Blut zu vergießen.
Und nun, da Skjold mit ihrer Beute heimkehrte, würde sich zeigen, ob
wahrhaftige Güte im Herzen dieser jungen Frau herrschte, oder ob Skjold
sich so gebahren würde wie die männlichen Krieger auf diesem Schiff. Die
behandelten ihre Gefangenen roh und verächtlich - spukten ihnen gern ins
Gesicht und... ja, sie nahmen sich von den Frauen, wonach ihnen gelüstete.
Skjold hatte Sabina einen ovalen, als schwarz bemaltem Holz bestehenden
Kragen angelegt, auf dem sie ihren Namen eingeritzt hatte. Sabina verstand
die Sprache der Vingar kaum, aber sie kannte die Gebräuche der Vingar, was
deren Umgang mit ihren Sklaven betraf. Viele Vingar kennzeichneten ihre
Sklaven und betrachteten sie als schützenswertes Eigentum, welches einen
möglichst guten Preis erbringen sollte. Skjold hätte jeden mit ihrem Speer
durchbohrt, der Hand an Sabina gelegt hätte. Und eben deshalb hatte Sabina
sich einer jungen Frau ergeben. Skjold schien nur zu gut zu verstehen, was
nun in Sabina vorging. Und es war ihr nicht gleichgültg. Zumindest hoffte
Sabina es.
Aber wer konnte schon wissen, was in den Vingar vorging ? Sie waren seit
jeher ein wildes, unabhängiges Volk gewesen, dass keinem König Gehorsam
zu schulden glaubte.
Alte Legenden berichteten, dass sie sogar Verbündete fliegender Wesen sein
sollten, denen sie Opfer dar brachten, um sich ihrer Loyalität zu versichern.
Aber dies war sicherlich nichts weiter, als pure Angeberei. Mit solchen
Behauptungen war es den Vingar vielleicht in früheren Jahren gelungen, ihre
Feinde in Furcht und Schrecken zu versetzen. Doch gesehen hatte niemals
jemand diese fliegenden Wesen. Bis zu dem Tag, als die Vingar Tjale
angriffen.
Ein grausiger Gedanke stieg in ihr hoch. Ob sie und die, die nun das Los der
Sklaverei mit ihr teilten, den Drachen als Opfer dargebracht werden würden ?
„Was schaust du so grimmig“, wurde sie nun von Skjold getadelt, „lächle.
Zeige Kraft und Würde - ich will einen guten Preis für dich haben.“
Sabina wandte den Kopf und blickte Skjold ins Gesicht. Sie verzog die Lippen
zu einem dünnen Lächeln, das aber sogleich wieder der Bitterkeit wich, die
sie spürte, seit sie den Holzkragen trug. Noch immer fragte sie sich, warum
Skjold es vermochte, sich in ihrer Sprache mit ihr zu unterhalten. War sie
vielleicht keine echte Angehörige des Volkes der Vingar ? Die männlichen
und die wenigen weiblichen Krieger der Vingar, die sie auf diesem Schiff
umgaben, hatten glattes blondes, oder dunkelblondes Haar. Skjold jedoch
hatte kupferrotes, naturgewelltes Haar, das sie kurz trug. In ihren grünen
Augen glomm ein unbändiger Stolz und auch wenn sie schlank und zierlich
wirkte, so besaß sie zweifellos die Entschlossenheit und Kaltblütigkeit, um
keiner Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen.
Skjold würde ihr keine Antwort auf die Frage geben, was mit ihr geschehen
würde. Wahrscheinlich wusste sie es selbst nicht.
Nun trat Skold an sie heran und tippte kräftig mit ihrem Zeigefinger auf
Sabinas Stirn: „ Was geht da drinnen vor ? Sag es mir !“
Sabina reagierte auf diese Provokation, indem sie Skjolds Handgelenk ergriff
und aus ihrem Gesicht führte. Was hatte sie schon zu verlieren ?
„Was glaubst du, dass in mir vorgeht ? Ich fürchte mich !“
Skjold schaute auf ihr Handgelenk und Sabina löste ihren Griff und ließ es
los.
„Bei den Göttern, du hast Kraft. Warum bist du wie ein Schaf auf mich zu
getrabt und hast nicht den ehrenvollen Tod im Kampf gesucht ? Hat dein
Mann dir die Hausarbeit überlassen, um selbst in der Schenke von seinen
Siegen zu prahlen ?“
„Es gibt keinen Mann und kein Kind, um das ich trauern muss. Ich war nicht
vermählt.“
„Dann warst du eine Priesterin eurer schwachen Götter oder die Gespielin
eines der Höflinge eures Königs.“
„Ich war niemandes Gespielin.
„Was dann, eine Schankmagd ?“
„Nein !“
Sabina mühte sich, ihre Haltung zu bewahren. Während der ganzen
Überfahrt hatte Skjold sich kaum darum gekümmert, ob sie überhaupt noch
am Leben war. Sie hatte die quälend langen Tage angekettet unter Deck
verbracht, hatte unter Seekrankheit gelitten und wie alle anderen Sklaven den
Kopf gesenkt, wenn die Vingar Eimer voller Seewasser über ihnen
ausschütteten, um alles, was ihre Körper verlassen hatte, weg zu spülen.
Zweimal hatte man sie von den Ketten befreit, damit sie gemeinsam mit
anderen Sklaven diese Ausscheidungen zusammenschob und in Eimern an
Deck brachte, um sie über Bord zu entleeren.
Ja, es hatte Momente gegeben, in denen sie es bereut hatte, nicht einen
Speer von einem der gefallenen Krieger zu ergreifen und sich in einen
hoffnungslosen Kampf zu stürzen, als Tjale fiel. Aber der Anblick der kläglich
verbrennenden Menschen hatte sie in eine Art verzweifelter Dunkelheit
gestoßen, aus der sie auf irgendeinem Weg lebend entrinnen wollte. Doch sie
war nun hier und sie würde ihr Schicksal nicht länger in den eigenen Händen
halten.
„Warum fragt ihr mich, Herrin ? Ist es nicht gleich, was ich war ?“
Skjold streckte die Hand aus und strich durch Sabinas rotblondes Haar.
„Vielleicht sollte es mir gleich sein.“
„Etwas bedrückt euch, Herrin.“
„Ich bin niemandes Herrin“, sagte Skjold leise.
Schweigend standen sie nebeneinander am Bug des Schiffes, während
dieses sich unaufhaltsam auf die Siedlung zu bewegte.
Als die Steege in Sicht kamen, an denen die Schiffe festmachen würden,
blickte Skjold sie an und sagte: „Ich bin niemandes Herrin und du wirst
niemandes Sklavin sein. Du wirst mir folgen, wohin ich auch gehe. Aber wenn
du versuchst, mich zu hintergehen, töte ich dich.“
Sabina ahnte, dass Skjold ihr damit ein unwürdiges Leben, wenn nicht gar
den Tod auf dem Opferaltar ersparte. Sie fragte sich nicht, was sie bewogen
hatte, diese Entscheidung zu treffen. Aber sie dankte den Göttern dafür, das
sie dieser jungen, unerschrockenen Frau begegnet war, die wie ein Bote im
Inferno des Todes und der Zerstörung erschienen war, um einen Teil des
Ruhmes zu beanspruchen. Ja, sie würde ihr Schicksal in Skjolds Hände
legen und ihr dienen - so wie sie einst dem König von Tjale gedient hatte.
Auf der linken Seite des Palisadenwalls, etwa fünf Schiffslängen von den
Landungssteegen entfernt, befand sich ein Tor. Dieses gab den Weg ins
Innere der Siedlung frei. Eine schmale, mit grauem Stein gepflasterte Straße
führte in die Siedlung hinein. Zur Rechten lag ein langgezogener Hügel aus
aufgehäuftem Seesand. Dieser stützte den Palisadenwall nach hinten ab und
mochte so dafür sorgen, dass der Palisadenwall im unteren Bereich selbst
dem Beschuss mit Katapulten standhielt. Auf diesem Hügel ragten die
Wachtürme in den Himmel, von denen aus die Bogenschützen ein sehr gutes
Schussfeld hatten, wenn die Siedlung von der Seeseite her angegriffen
werden sollte.
Zur Linken die Häuser der Vingar die Straße. Sie waren in
Fachwerkbauweise gebaut und die Dächer waren mit Holzschindeln
gedeckt.Die Vingar waren als einfallsreiche Handwerker weithin bekannt. Als
Sabina an den Häusern vorbeiging, bewunderte sie die kunstvollen
Schnitzereien in den Fensterläden. Ihr Blick schweifte nun über die Dachfirste
hinweg hinüber zu dem Berg, der an den Palisadenwall grenzte und steil in
die Höhe ragte.
Und als sie nun über den Marktplatz gingen, in dessen Mitte ein seltsamer
Brunnen stand, bemerkte sie, dass links vom Marktplatz ein unbefestigter
Weg in den Berg hinein führte. Eine mannshohe Öffnung im Gestein schien
einen Höhleneingang darzustellen und.... Sabina schaute zweimal hin, als sie
im Gestein des Berges über dem Höhleneingang die Gesichter sah. Wie zwe
dämonische Fratzen waren die Gesteinsschichten oberhalb des
Höhleneinganges geformt. War dies das Werk der Vingar, oder hatte etwa die
Natur dieses schaurige Werk vollbracht ?
Aber es war nun nicht an der Zeit, darüber nachzudenken. Der Zug der
Sklaven und Krieger hatte den Marktplatz erreicht und der Anführer dieses
Zuges brüllte seine Kommandos. Er war ein hochgewachsener, brutal
aussehender Kerl, dessen Vollbart bereits grau war. Seine Lederrüstung wies
die Spuren von zahlreichen Kämpfen auf, die er offensichtlich überlebt hatte.
Als er den Spangenhelm vom Kopf nahm, gab dieser das harte Gesicht eines
Mannes frei, der zweifellos ein Vergnügen daran hatte, zu kommandieren und
zu herrschen. Sie bemerkte, das Skjold, die schweigend neben ihr stand, die
Fäuste um den Schaft ihres Speeres ballte. Ob sie Furcht oder Hass
verspürte, wusste Sabina nicht, doch sie ahnte, das das Leben der jungen
Frau unter den Vingar kein leichtes war.
„Wenn man das Wort an dich richtet, schweige. Ich werde sprechen“ raunte
Skjold ihr nun zu und Sabina nickte. Nun begann der Verkauf der Sklaven.
Schnell waren die Bewohner der Siedlung auf dem Marktplatz versammelt.
Solche Ereignisse schienen eine willkommene Abwechslung zum tristen
Alltag der Menschen zu sein.
Sabina drehte sich der Magen um, als die Sklaven nacheinander auf eine
hölzerne Plattform geführt und präsentiert wurden. Die meisten, die ein
Kaufinteresse hatten, waren Männer. Und für die waren natürlich sowohl
kräftige Männer von Interesse, als auch die jungen Frauen, die man gefangen
hatte. Es gab wenig, was man den präsentierten Sklaven ersparte, bevor die
kaufinteressierten Männern begannen, ihr Gebot abzugeben.
Sie wandte den Blick ab von der jungen Frau, die von einem stämmigen
Mann begutachtet wurde, als der anfing, an ihren Haaren zu riechen. So
bemerkte sie, das Skjold angespannt neben ihr stand und auch wenn Skjold
sich mühte, ihre Haltung zu bewahren - zitterten ihre Lippen. Was, so fragte
sich Sabina stumm, bewog diese junge Frau ?
Der Schrei des Geschöpfes zerriss die Luft über den Köpfen der
Anwesenden, noch ehe es deren Augen auszumachen vermochten.
Auch Sabina zuckte zusammen, als es dicht über den Köpfen der Menschen
hinweg flog. Furcht stieg in ihr hoch, denn sie kannte den Anblick, der sich ihr
bot. Ein Dutzend solcher Wesen mochte es gewesen sein, das ihre
Heimatstadt angriff, als sie schließlich niedergebrannt wurde.
„Blut der Götter, rühr dich nicht“, zischte Skjold, während sie die Spitze ihres
Speers aus dem Boden zog und die Waffe waagerecht hielt.
Einer der Männer zerrte die junge Frau, die soeben noch begutachtet worden
war, von der Holzplattform herunter und nur einen Lidschlag später ließ sich
das fliegende Wesen auf der Holzplattform nieder. Ein wilder Schlag seines
Schwanzes hätte fast die junge Frau getroffen. Wie gebannt starrte jeder auf
die Kreatur, die nun erhöht vor aller Augen seine Haut war grün und
schuppig, im langen Schädel saßen seitlich zwei große, runde Augen. Und
mit denen schien das Wesen nun die Sklaven zu betrachten. Die Krieger
packten nun einen Sklaven nach dem anderen und führten sie vor das
Wesen. Wenn dies einen Laut von sich gab, wurden die Sklaven nach links
geführt. Wenn das Wesen sich ruhig verhielt, führte man den vorgeführten
Sklaven nach rechts.
„Was geschieht hier ?“ flüsterte Sabina Skjold zu.
„Es trifft seine Wahl. Es holt sich seinen Anteil. Doch dich soll es nicht
bekommen.“
Skjolds Worte ließen das Blut in Sabinas Adern pulsieren. Doch sie wahrte
die Fassung und blieb regungslos neben Skjold stehen. Als Tjale unterging,
war sie geflohen und hatte ihr Leben behalten - nur ihr Leben.....
Dann geschah es. Die junge Frau, die noch kurz zuvor dem Schlag des
Schwanzes entronnen war, riss sich von ihrem Bewacher los und lief
schreiend davon. Doch weit kam sie nicht. Das Wesen erhob sich mit einem
Schlag seiner Flügel in die Luft, stieß einen zischenden Laut aus und stürzte
sich auf die Fliehende. Als sich das Kleid der jungen Frau von ihrem Blut rot
färbte, hatte das Wesen ihren Kopf bereits verschlungen.
Die Menschen, die diese grausige Szene beobachteten, wichen furchtsam
zurück und nun erlöste Skjold Sabina aus ihrer Situation. Sie hatte die junge
Frau flüchtig gekannt. Ihr Name war Tarja gewesen und sie hatte wenige
Tage vor dem Angriff auf Tjale die Weihe zur Priesterin erhalten. Als nun das
Wesen ihr Fleisch zu fressen begann, stieß Skjold mit ihrer Schulter gegen
Sabinas Oberarm und drängte sie von der Szene fort.
„Weiter. Dorthin !“ befahl Skjold mit heiserer Stimme.
Sie deutete mit der Spitze ihrer Speers auf eine Hütte, die unweit des zweiten
Wachturmes direkt an der Straße lag. Hastig liefen sie nun dorthin. An der
Tür der Hütte hing ein schweres Schloss aus geschmiedetem Eisen das
Skjold nun mit einem Schlüssel öffnete, den sie um den Hals trug. Sie tat es
rasch, denn sie wusste, das Sabina am Ende ihrer Kräfte war. Skjold reichte
ihr eine Tonflasche, die einen Trank aus verschiedenen Kräutern und
vergorenen Trauben enthielt. Sabina trank und schüttelte sich, denn der
Geschmack war entsetzlich.
Skjold wusste um die Wirkung. Und Schlaf war nun sicherlich das, was
Sabina am nötigsten brauchte. Schnell tat der Trank seine Wirkung und
Skjold bewog Sabina, sich auf einem mit Stroh gepolsterten Lager
niederzulassen. Sie selbst schürte ein Feuer in der kühlen Hütte und bereitete
für sich ein Mahl aus Getreide, Kräutern, Honig und ein wenig Schafsmilch
zu. Hier, fernab aller Augen und auf die schlafende Sabina blickend, erlaubte
sie sich einen Moment der Schwäche. Stumm vergoss sie Tränen der Trauer
und des Entsetzens über den grausigen Tod der jungen Sklavin, die ein Opfer
des fliegenden Wesens geworden war. Und sie vergoss Tränen des Zornes,
denn seit sie hierher gebracht worden war, an diesen Ort, war es nur der
Hass, der sie aufrecht erhalten hatte. Sie richtete ihren Blick auf die
schlafende Sabina, streckte den Arm aus und ließ ihre Fingerspitzen sanft
über Sabinas Wangen und Haar gleiten. Sie war nun nicht mehr allein in
ihrem Kampf. Und sie entschied, dass es an der Zeit war, ihren Plan zu
verwirklichen.
Viel zu lange hatte die Legende um die dunkle Wölfin den Grund dargestellt,
warum man sie gemieden, gehasst und doch gefürchtet hatte. Dieser
Legende zufolge hatte einst ein Mädchen in dieser Siedlung gelebt. Sie war
von Kindesbeinen an verachtet worden, denn sie vermochte nicht, so zu
sprechen, wie ihre Mitmenschen. Es fiel ihr schwer, die Worte
auszusprechen, die sie sagen wollte, also hielt man sie für schwachsinnig.
Manche hielten sie für tot, manche glaubten, sie sei zu einem Kind der Nacht
geworden - einer Wölfin, die mit ihren Gefährten durch die Wälder streifte um
zu jagen und zu töten. Doch sie wusste es besser. Und nun - nun war es an
der Zeit, die Dinge zu ändern. Nochmals strich sie Sabina durch das Haar
und flüsterte: „Nun, da die Götter dich zu meiner Hilfe sandten, wird es
geschehen.“
Die Legende von der dunklen Wölfin :
Einst lebte in der Siedlung der Vingar ein Mädchen, dass seltsam sprach. Die
Götter schienen bestimmt zu haben, dass es ihr Mühe bereiten sollte, zu
sprechen. Wie sich das Mädchen auch mühte, sie vermochte nicht, ein Wort
nach dem anderen auszusprechen, wie es die anderen konnten.
Die Menschen glaubten, dass sie bei den Göttern in Ungnade stand und so
mieden sie sie. Und als das Mädchen zur Frau geworden war, gab man sie
dem Sohn eines angesehenen Kriegers zur Frau - auf dass sie ihm diene und
auf dass sein Ruhm genüge, die Götter gnädig zu stimmen und sein Weib
von dem Fluch zu erlösen.
Doch die Sommer vergingen, ohne dass die Frau in guten Worten sprach.
Und manchmal, wenn man sie auf dem Marktplatz sah, war ihrem Gesicht der
Zorn ihres Ehemannes anzusehen. Schließlich hörte man die Frau kein Wort
mehr sagen und die Menschen hofften, dass sie bald ins Totenreich gehe.
Als man eines Tages ihren Ehemann in seinem Hause fand und seine Kehle
durchgebissen war und sein Gesicht und sein Leib geschunden war, wie von
den Krallen eines wilden Tieres, fand man die Frau nicht mehr.
Wölfe - so hieß es - waren aus dem nahen Wald gekommen und hatten beide
getötet. Aber die Bewohner des Hauses am Waldrand hörten nachts ein
Heulen, dass anders war, als das der Wölfe, die in mondhellen Nächten ihr
Lied anstimmten.
Als aus den Ställen der Menschen Tiere verschwanden, suchte man in den
Wäldern nach ihr und ihren neuen Gefährten. Die Hunde fanden und stellten
einen Wolf und die Jäger töteten ihn. Das Fell des Wolfes war dunkel wie das
Haar der jungen Frau es gewesen war. Die Menschen dankten den Göttern
für den Sieg. Aber in den Tagen, die folgten, brachten drei Frauen tote Kinder
zur Welt. Und noch immer hörten einige in den Nächten das Heulen des
Wesens, dann man fortan die dunkle Wölfin nannte. Dann tauchten die
fliegenden Wesen auf und seither verschwanden keine Tiere mehr aus den
Ställen und die Kinder, die geboren wurden, waren lebendig und stark.
Das Haus, in dem die junge Frau und ihr Ehemann gelebt hatten aber wurde
als verflucht angesehen und es fand keinen neuen Bewohner - bis Skjold als
Sklavin her gebracht wurde.
Skjold - Schild bedeutete dieses Wort. Sie trug ihn mit Stolz im Herzen, doch
mit Verachtung in der Seele. Sie trug ihn seit dem Tag ihrer Ankunft in der
Siedlung der Vingar. Sie trug ihn, seit auch sie auf der hölzernen Plattform
gestanden hatte, den schwarzen Kragen getragen hatte, und den freien
Menschen gezeigt worden war. Sie trug ihn, seit das fliegende Wesen
erschienen war und einem Krieger, der sie bewachte, mit einem Schlag des
Schwanzes den hölzernen Schild vom Arm gerissen hatte. Der Schild war
geborsten und lag im Staub, als das fliegende Wesen angriff. Skjold war von
der Holzplattform herunter gesprungen und hatte den Schild ergriffen, als der
aufgerissene Rachen sie zu verschlingen drohte. Eine dunkle Wolke hatte ihr
Herz umschlossen, während sie das zersplitterte Holz in den Rachen der
Bestie gestoßen hatte.
Und während das Tier sein Leben verlor, wurde sie zu dem, was sie nun war.
Skjold, die man achtete, weil sie furchtlos war, die man hasste, weil sie in der
Gunst der Götter zu stehen schien und die man fürchtete, weil sie dem Tod
widerstanden hatte.
Die Krieger hatten sie geschlagen und in diese Hütte gesperrt, nachdem sie
der fliegenden Bestie das Leben genommen hatte. Man hielt sie hier
gefangen, damit sie an Hunger und Durst sterben sollte. Zwei Tage lang
hatten sie die Schmerzen wach gehalten, dann war sie eingeschlafen. Und
als sie erwachte, lag das Fleisch eines gerissenes Tieres neben ihr. Sie hatte
das Fleisch gegessen und das Blut getrunken. Und als ihre Sinne wieder
scharf waren, hatte sie die Holzschindeln entdeckt, die nicht mehr fest mit
den Hölzern des Daches verbunden waren. Drei Wochen lang hatte sie sich
nicht gefragt, wer Fleisch durch das Dach zu ihr warf, während sie schlief.
Ihr Herz kannte nur die Hoffnung, ihr Verstand nur den Wunsch, zu
überleben. Sie hatte versucht, in das Gebälk des Daches zu klettern und
durch die Lücke zu schlüpfen, die durch die losen Schindeln geöffnet werden
konnte. Doch es gelang ihn nicht.
Als Krieger nach drei Wochen die Tür der Hütte öffneten, um ihren Leichnam
herauszuholen, fanden sie Skjold lebendig und mit trotzigem Stolz im Blick
auf dem Boden sitzend. Die Reste ihrer Mahlzeiten hatte sie unter dem
Nachtlager versteckt, auf dem Sabina nun lag. Der Geruch des Todes hatte
sie umgeben, als die Krieger ehrfürchtig vor ihr zurückwichen, während sie an
ihnen vorbei und nach draußen ging, um das Licht der Sonne auf ihrer Haut
willkommen zu heißen.
In den folgenden Monden hatte sie die Sprache der Vingar von neugierigen
Jungen gelernt, die sie heimlich aufsuchten um ihre Neugier zu befriedigen.
Skjold hatte während dieser Zeit immer bei Sonnenuntergang eine hölzerne
Schüssel mit Brei vor die Tür gestellt. Sie fand sie an jedem Morgen geleert
vor der Tür. Und schließlich - sie sprach die Sprache der Vingar längst sehr
gut, lag neben der Schüssel ein Speer. Der Dank für das abendliche Mahl
musste das sein. Keiner der Vingar würde ihr eine Waffe schenken. Es gab
etwas, es gab jemanden, dem sie ihr Leben verdankte. Und als ein Junge ihr
von der Legende von der dunklen Wölfin berichtet hatte, wurde ihr klar, dass
sie eine Ausgestoßene bleiben würde, was sie auch tat. Denn man glaubte,
dass sie mit der dunklen Wölfin im Bunde stehe. Einsam und mit Argwohn
bedacht, begann Skjold schließlich, an Feld- und Raubzügen Teil zu nehmen.
Den Tod fürchtete sie nicht, denn an diesem Leben lag ihr nichts.
Wenn sie allein in die Wälder ging, wenn sie nach ihr suchte, zeigte sie sich
nicht - die junge Frau, die man die dunkle Wölfin nannte. Vielleicht würde sie
sich Sabina zeigen. Und vielleicht würde man sie, Skjold, dann achten und
respektieren. Oder es kam anders und man würde sie nun noch mehr
fürchten und ihr mit Argwohn begegnen, weil sie einer Gefangenen die
Freiheit geschenkt hatte. Die Vingar würden Sabina niemals als Teil der
Gesellschaft akzeptieren.
Darum hatte sie nur die Wahl, entweder so zu leben, wie Skjold oder
fortzugehen oder zu sterben. Vielleicht wäre Sabina mit einem Leben als
Sklavin zufriedener als mit dem, was Skjold ihr Leben nannte. Aber es war
müßig, darüber nachzudenken denn Skjold schätzte Sabina so ein, dass dies
nicht der Fall war. Sie würde Widerstand leisten und man würde sie töten,
denn die Vingar hatten viele Sklaven und fürchteten sich davor, dass diese
sich verbünden und um ihre Freiheit kämpfen wollen würden. Sie schob ihre
Gedanken beiseite und legte sich zur Ruhe. In dieser Nacht würde sie vor
dem Nachtlager auf dem Boden schlafen, in dem Sabina lag. Ab morgen aber
würde Sabina diejenige sein, die Opfer bringen musste.
Sabina erwachte aus einem tiefen Schlaf am nächsten Vormittag. Der Trank,
ein starkes Beruhigungsmittel, bewirkte auch nun, dass sie sie sich nicht
unruhig fühlte. Sie schlug die Augen auf und blickte sich um. Die Hütte, in der
sie die Nacht verbracht hatte, war karg eingerichtet. Ihr gegenüber befanden
sich die Fenster die Läden hatte Skjold geschlossen, bevor sie sich selbst zur
Ruhe gelegt hatte. In der Hütte war es auch nun, da die Sonne draußen
schon recht hoch am Himmel stand, dunkel und kühl. Sie empfand die
Dunkelheit als angenehm, denn sie erschien ihr als eine Art Schutz. Schutz
vor dem, was draußen vor dieser Hütte sie erwarten würde.
Mit ihren Lebensgeistern kehrte auch die Erinnerug an das zurück, was sie
gestern auf dem Marktplatz mit angesehen hatte. Furcht stieg in ihr auf. Eine
unbändige, quälende Furcht, die es ihr schwer machte, sich zu beherrschen.
Skjold entdeckte sie schlafend neben dem Nachtlager. Die junge Frau, die sie
anfangs gefürchtet, dann als bedrohlich empfunden hatte und nun für
unberechenbar hielt, hatte auch im Schlaf die Hand um den Schaft ihres
Speers geschlossen.
Leise erhob sich Sabina vom Nachtlager. Sie setzte ihre Füße sanft auf den
Boden, nachdem sie ihre Beine über die schlafende Skjold gehoben hatte.
Sie würde zur Tür schleichen und diesen schrecklichen Ort so schnell wie
möglich verlassen.
Skjold rührte sich nicht, während Sabinas Blick auf die Tür gerichtet war,
während sie sorgsam jeden Schritt machte. Aber als sie die Tür erreicht hatte
und den hölzernen Riegel beiseite schieben wollte, hörte sie ihre Stimme.
„Wenn du zu fliehen versuchst, wirst du sterben.“
Sabina wandte sich erschrocken um und starrte Skjold an. Die hatte sich
aufgerichtet und stützte sich auf den Schaft ihrer Waffe.
„Glaubst du, ich wäre noch hier, wenn es einen Weg gäbe ?“
Sabinas Augen füllten sich mit Tränen, während ihr Blick in der Hütte
umherschweifte. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, während sie das Gefühl
hatte, das sie an diesem Ort nicht genügend Luft zum Atmen fand.
Svenja setzte sich auf das Nachtlager und schaute sie mitleidsvoll an.
„Setz dich zu mir. Du mußt einiges erfahren, wenn du überleben willst.“
Skjold wusste, dass sie Sabina nur noch mehr ängstigen und misstraurischer
machen würde, wenn sie ihr von der Legende erzählte, in der es um die
dunkle Wölfin ging und dass die Menschen hier glaubten, das Skjold mit
dieser Legende in Verbindung stand. Unter dem Nachtlager verwahrte Skjold
einen Tonkrug, der Met enthielt - Honigwein. Das starke Getränk löste
Sabinas Anspannung und während Skjold ihr berichtete, wie die Lebensart
der Vingar war, welche Sitten und Gebräuche herrschten und wie sie mit
Fremden, Sklaven und Besuchern umgingen spürte sie, dass Sabina begriff,
dass sie ohne die Unterstützung von Skjold an diesem Ort nicht überleben
konnte.
„Warum sprichst du meine Sprache ? Bist du eine Gelehrte ?“
Skjold schnaubte. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Wenn du einige Zeit hier verbracht hast, wirst du bemerken, dass ich das
nicht bin. Ich will es dir verraten, denn du wirst mir nicht schaden können.
Auch ich kam als Gefangene hierher. Ich habe in deiner Heimat gelebt, doch
auch dort war ich keine Freie. Meine Heimat war einst das Land der Syntren,
der Stämme, die am Ufer des Haidron leben.“
„Die Syntren ? Dann warst du eine Sklavin in meiner Heimat.“
„Das war ich. Die Truppen eures Königs griffen meine Leute an und
verschleppten mich, als ich noch ein Mädchen war. Wäre ich nicht so jung
gewesen, so hätte ich ein Leben als Dienerin, Schankmagd oder Viehirtin
geführt. So aber nahm sich die Frau eines Händlers meiner an. Ihr selbst
hatten die Götter es verwehrt, Kinder zu bekommen.“
„Dann warst du keine Sklavin, sondern eine Gh´inta.“
„Pah. Ich war nichts als ein geraubtes Stück, das verkauft wurde.“
Als Gh´inta wurden Jungen und Mädchen bezeichnet, die aufgrund von
Kriegshandlungen oder anderer Veränderungen in Sabinas Heimat an
Pflegeeltern gegeben wurden. Es war Tradition, dass man diesen Kindern
eine gute Behandlung, Bildung und ein geordnetes Leben bot. Viele
angesehene Bürger in Sabinas Land nahmen Gh´intas zu sich und es
gereichte diesen Bürgern zur Ehre, wenn ein solches Kind zu einem
geachteten und befähigten Bürger heranwuchs. Sabina konnte sich nicht
vorstellen, dass Skjold wie eine Sklavin behandelt worden sein sollte.
Aber sie verstand, warum Skjold ganz anders über ein Leben als Gh´inta
dachte. Die Syntren waren Nomaden, die als freies Volk in der großen Wüste