Eine Welt auf sechzehn Saiten

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SFE: Zwei Jahre nach mir kam Frank dazu und nach weiteren zwei Jahren waren wir alle vier präsent, mit einem der beiden Streichquartette von Max Bruch. Erst als es dann in der künstlerischen Leitung des Festivals kriselte, nicht zuletzt wegen Spannungen mit den örtlichen Organisatoren, sind wir sehr schnell gefragt worden, ob wir die Leitung übernehmen wollten.

TV: Was auch deshalb interessant für uns war, weil wir damit das Quartett dort fest verankern und die künstlerische Planung samt Gäste-Politik rund um unsere Präsenz gleichsam als Fokus der Kammermusiktage konzipieren konnten. Wir haben sie im Übrigen auf eine Woche konzentriert und auf einen jährlichen Turnus umgestellt. Und natürlich bereichert es uns künstlerisch, wenn wir in offenen Kombinationen fast jeden Abend außerhalb der Quartettnormalität mit anderen Musikern Duos, Trios und so weiter bis Septett oder Oktett, mit oder ohne Klavier und auch in heterogen besetzten Quartetten spielen können. Diese Vielfalt kombinieren wir dann noch einmal mit vokalen und instrumental-solistischen Angeboten. Bei den Gästen bedarf es eines besonderen Fingerspitzengefühls, denn nicht jeder kann oder will mit jedem, und zwei Spitzensolisten produzieren nicht automatisch kammermusikalische Höchstleistungen. Meistens hatten wir bisher bei Auswahl und Zusammenstellung der Künstler eine glückliche Hand, aber es hat selbstverständlich auch schon dramatische Kräche gegeben, wo dann unsere Vermittlungskunst gefragt war. Das Kennenlernen neuer Künstler, mit denen sich durchaus manchmal echte Freundschaften herausbilden, bringt eine Fülle von Anregungen auch für unsere regulären Quartett-Programme, für die wir uns gern Gäste einladen, um die Monochromie unseres vierstimmigen Satzes durch andere, auch kontrastierende Farben zu bereichern.

Es gibt mittlerweile rund um die Welt gerade zur Sommerzeit, wenn die etablierten, aus der öffentlichen Hand subventionierten Institutionen aus Urlaubsgründen geschlossen sind, eine kaum noch überschaubare Zahl kleiner bis mittlerer Festivals. Man versteht, auch Musiker fürchten den horror vacui, und viele Kommunen unterstützen solche Projekte, weil sie die touristische Attraktivität der Stadt oder der Gegend fördern können. Es muss aber, denke ich, bei all diesen Fällen auch Alleinstellungsmerkmale geben, damit das funktioniert. Worin also unterscheiden Sie sich beispielsweise von einem ähnlichen Festival wie Lockenhaus, das durch Gidon Kremer und seine Kremerata Baltica besonders bekannt geworden ist?

TV: Nach Lockenhaus kommen vorzugsweise Einzelmusiker, mit Gidon Kremer oder jetzt mit seinem Nachfolger Nicolas Altstaedt befreundete, namhafte Solisten, die einfach miteinander musizieren. Bei uns steht das Quartett-Ensemble mit seinem Repertoire im Zentrum, um welches sich die anderen Gastmusiker scharen. Es kommt hinzu, dass durch die Dichte des Programms im Rahmen einer Woche die Probenzeit begrenzt ist und dadurch eine durchaus charmante Ungewissheit, ein sozusagen schöpferisches Restrisiko für das Erlebnis des Publikums bleibt, abhängig davon, in welchem Grad der Vervollkommnung, besser der Vollkommenheit, eine Interpretation gelingt. Beim Festival in Sligo haben wir übrigens eine ganz ähnliche Situation.

Programm, Auswahl der Musiker, organisatorische Vorbereitung und vieles andere: Entscheiden und betreiben Sie das alles wirklich gemeinsam oder gibt es da auch Aufgabenteilungen und wechselnde Verantwortlichkeiten?

FR: Wir sind keine professionellen Organisatoren, und sowohl in Sligo wie in Homburg gibt es hilfreiche Hände vor Ort. Aber in der künstlerischen Leitung stehen wir mit unseren Namen offiziell in einer gemeinsamen Verantwortung, obwohl es sich in der Praxis einmal mehr und das andere Mal um Kollektivität handelt.

TV: In Sligo war in den letzten Jahren bis 2013 Frank für das Programm verantwortlich und entsprechend wurde das auch vermerkt. In Homburg hat es in der Vergangenheit oft auch Frank gemacht, oder wir beide zusammen, dann allerdings stets unter dem Namen des Quartetts. Für das Jahr 2014 und die nächste Zeit habe ich die Gestaltung der Programme beider Festivals übernommen.

FR: Programme entwickeln macht Spaß, ist aber auch eine Arbeit, die einen ziemlich fordert. So eine Kammermusikwoche ist eigentlich kein wirklich großes Unternehmen, eher ein kleines. Aber man denkt für das kommende Jahr lange voraus, überlegt Programme und Künstler, die man einladen will, und hat man sie eingeladen, muss man hinterher sein, ehe sie auf die Frage antworten, welche Musik sie anzubieten haben und tausend andere Dinge.

TV: Und immer ist die wirtschaftliche Seite mit zu bedenken. Ob bei solchen Festivals oder bei der Planung unserer Reihe im Berliner Konzerthaus – beides lebt davon, dass die eingeladenen Künstler in erster Linie aus künstlerischen und menschlichen Gründen innerlich dazu bereit sind. Sie werden selbstverständlich dafür bezahlt, aber – sagen wir mal so – nicht gerade fürstlich. Viele Künstler, und auch wirklich erstrangige, verstehen oftmals die finanziellen Rahmenbedingungen sehr gut und sind bereit, uns große Zugeständnisse zu machen – etwa die Reisekosten vom Honorar zu bestreiten. Manchmal wird die Freude über eine persönliche Zusage getrübt, wenn sich ein Management meldet und versucht, das mit dem Künstler Vereinbarte in Frage zu stellen und neu zu verhandeln. Andere vergessen oder ändern die Programme, die man vereinbart hat. Wieder andere protestieren, obwohl die Möglichkeit eines Radiomitschnitts kommuniziert war, wenn sie vor dem Mikrofon stehen und plötzlich der Meinung sind, dass so etwas nicht geht … Man erlebt die verrücktesten Dinge, auch weil ja immer irgendetwas geschieht. Und man lernt auch dazu. Soll diese Art Stress im Übrigen nicht die Gesundheit fördern?

Kommt es denn bei Ihnen niemals vor, dass angesichts so gehäufter Arbeit und solch dauerhafter Anstrengung, die verschiedenen Bereiche Ihrer diversen Tätigkeiten zu koordinieren und unter Strom zu halten, sich einmal ein Gefühl des Überdrusses, der Erschöpfung einstellt? Oder gibt es auch schon mal das Gefühl, einfach aufzuhören und etwas ganz anderes zu machen?

FR: Nicht wirklich, glaube ich. Aber es kann hin und wieder im Innern kriseln, wenn man sich nach einer Probe einmal ungerecht behandelt fühlt und dann danach fragt, warum man sich das gefallen lassen muss, warum man dies alles noch macht! Es ist ein allzu menschliches Gefühl, wie es jeder mehr oder weniger kennt. Der Gedanke an einen kompletten Ausstieg, an komplette Alternativen, ist mir aber nie gekommen.

SFE: Das ist auch bei mir nicht anders.

SFO: Doch, ich hatte einmal – das liegt lange zurück – eine richtige, ernsthafte Cello-Krise. Das war sicher auch eine menschliche Krise, bei der ich mich damals tatsächlich gefragt habe, ob Musiker-Sein, Cellospielen noch weiter mein Beruf sein soll und während der ich mich von Konzert zu Konzert gequält habe. Es begann mit dem Tod meiner Mutter und dauerte längere Zeit. Aber mit Unterstützung der Kollegen und Arbeit an mir selbst bin ich darüber hinweggekommen.

TV: Ich kann mich sehr gut an selbstkritische Zweifel erinnern. Als Jüngster im Quartett habe ich mich nach dem Studium, trotz sehr gut bestandenem Diplom, als Geiger einfach unfertig gefühlt. Ich war durch den unerwarteten Erfolg unserer Quartettarbeit so absorbiert, dass ich das Pensum für den Abschluss zwar pflichtgemäß erledigte, aber mein instrumentales Training nicht bis zur solistischen Reife führte. Es gab dann Phasen, wo ich Probleme mit der körperlichen Organisation meines Spiels bekam und spürte, dass ich nicht locker genug war, um den Anforderungen des Primparts optimal gerecht zu werden. Denn dieser Part, obwohl von der kammermusikalischen Idee her primus inter pares, ist durchaus auf Hochseiltanzrisiko ausgelegt, verlangt über weite Strecken solistische Qualitäten, größte Virtuosität. Da darf man sich körperlich einfach nicht verfestigen. Ich habe einmal Arnold Steinhardt, den Primarius des Guarneri Quartets, gefragt: »Kennen Sie auch diese Momente, bei denen man das Gefühl hat, dass man gar nicht mehr richtig spielen kann?« Er: »Oh, I know it«. Ich: »Was machen Sie dann?« Er: »Ein bisschen weinen – und ein heißes Bad.«

War es ein brauchbarer Ratschlag?

TV: Es war wichtig zu wissen, dass hinter der Kulisse großen Glanzes – ich habe es Steinhardts Augen angesehen – auch nicht alles ganz unproblematisch abgeht. Es gibt einem etwas Mut, sich selbst besser zu verstehen: Wenn man mit einem Instrument wie der Geige von Kind an aufwächst und dann das ganze Leben mit ihr verbringt, gibt es auch Zeiten, in denen man mit dem Instrument hadert und ringt. In einem Quartett kann es sein, dass eine Zeitlang der 1. Geiger mit sich und der Geige kämpft, ein anderes Mal hat vielleicht der Cellist Probleme, und plötzlich erwischt es den 2. Geiger mit einem Bogenzittern. Das Gute in einem Streichquartett und letztlich in jedem Ensemble ist, dass man trotzdem weitermachen kann, denn man ist nicht allein und kann sich gegenseitig auffangen und abfedern. Doch man kann davon ausgehen, dass es in der Regel meist nie allen vieren gleich gut oder gleich schlecht geht.

SFE: Im Team kann man sich gegenseitig helfen, das ist wirklich unbezahlbar; würden Vertrauen und Hilfsbereitschaft untereinander nicht da sein, könnte man daran zerbrechen. Aber bei jedem liegen die Dinge anders, ein solches spielerisches Unbehagen kann unterschiedliche Ursachen haben – physiologische, psychologische und mentale. Auch ich hatte vor langer Zeit zwei bis drei Jahre lang das enervierende Gefühl eines Defizits im spieltechnischen Vermögen, und offenbar hängt dies mit körperlichen Veränderungen zusammen, die sich im Alter zwischen 35 und 40 Jahren zeigen können. Als junger Mann weiß man von solchen Dingen noch gar nichts, und meist klären sie sich auch erst in der Rückschau, wenn man sie bewältigt hat.

 

Auf jeden Fall sind es wohl Probleme im Bereich »Mensch-Maschine«, die aus den Anforderungen des Metiers hervorgehen, und viel weniger solche, die einen privat-persönlichen, beziehungskritischen oder anderweitig familiären Hintergrund haben – was ja auch denkbar wäre.

SFO: In der Tat, auch das gibt es, nur ist es dann keine direkte und alleinige Auseinandersetzung mit dem Instrument. 2002 war eine Australien-Tournee geplant, doch als der Termin näher rückte, erkrankte meine Frau schwer und musste wochenlang im Krankenhaus liegen. Ich hatte beide Kinder bereits auf kürzere Konzertreisen mitgenommen, aber an eine lange Australien-Tournee war in dieser Situation nicht zu denken. Um die Familie nicht zu zerreißen, musste ich absagen und das Quartett mit der tabubrechenden Tatsache konfrontieren, dass es zum ersten Mal in seiner Geschichte die Reise mit einem fremden Cellisten unternehmen müsste.

TV: Es ging dann alles in allem gut aus, der neue, ebenfalls sehr gute Cellist hat sich professionell der Situation gestellt, und doch war aus meiner Sicht nicht die gleiche Intensität des Spiels zu erreichen, als wäre Stephan bei uns gewesen. Witzig ist, dass die Unternehmung, teilweise vom Goethe-Institut veranstaltet, unter dem Werbe-Slogan einer »Precision-Tour« des Vogler Quartetts lief – im Glauben, dass alles, was aus Deutschland kommt, auf Präzision beruht, vom Mercedes bis zum Streichquartett. Und dieser Titel gerade für unsere Tournee, die wir mit einem Ersatzcellisten bestritten!

FR: Wenn Stephan von Tabubruch spricht, dann war es jedoch vielleicht auch lehrreich. Man muss sehr aufpassen, dass trotz der unleugbaren Priorität des Quartetts die anderen Beziehungen in unserem Leben nicht verkümmern. Ich bin in dieser Hinsicht ein gebranntes Kind, denn mir ist eine Ehe zerbrochen – nicht unbedingt am Quartett, doch auch teilweise an der Tatsache, dass man nie da ist, zu wenig Zeit hat für Menschen, denen man eigentlich am nächsten sein sollte. In vielen Fällen, in denen eigentlich Familienangelegenheiten Vorrang haben müssten, verwies ich mit durchaus arroganter und egoistischer Attitüde, aus einem seltsamen Gruppenzwang heraus, auf die Prioritäten der Profession: Wenn Konzert ist, fällt die Feier aus. Heute würde ich solche Alternativen anders behandeln, den Einzelfall ernsthaft abwägen, aber wohl kaum gegen die Interessen der Familie ausspielen.

Würde es die Lage gegebenenfalls denn nicht entspannen, wenn Sie die Frauen und Kinder zu Ihren Konzerten einfach mitnehmen – denn ein finanzielles Problem würden Sie ja damit kaum haben.

TV: Für das Quartett ist das kein Problem. Wir haben in früheren Jahren die Frauen gar nicht so selten mitgenommen, besonders bei kleineren Tourneen von etwa einer Woche. Aber auch das ist nicht ganz einfach, weil meist der quartettspielende Mann im Vordergrund steht und die Frau sich leicht als ein gewisses Anhängsel fühlen kann. Ich habe dieses Gefühl, eine Art anonymes Anhängsel zu sein, selbst auch schon gehabt und kann aus eigener Erfahrung bestätigen, dass man davon nur eine gewisse Dosis verträgt. Es ist wie Klassentreffen mit Partner, das geht irgendwie nicht.

FR: Es kommt noch hinzu, dass man sich als Musiker generell um die eigene Person kümmern muss: Üben, der nötige Schlaf, die erforderliche Fitness. Da bleibt eben auch für die Bedürfnisse des Partners, Sightseeing, Shopping et cetera, zu wenig Zeit. Ein Konzerttag ist für uns sehr durchstrukturiert, und deshalb kann zusätzliche Zweisamkeit überaus anstrengend, ja entnervend sein, wenn man sich nicht von vornherein über die unvermeidliche Rollenverteilung einig werden kann.

SFE: Konflikte lassen sich da nie ganz vermeiden, allein schon wegen der Fülle der Konzerttermine, von den ebenfalls zeitraubenden Professuren gar nicht zu sprechen! Immerhin haben wir über die Jahrzehnte pro Jahr durchschnittlich 80 bis 90, im Extremfall auch bis zu mehr als 100 Konzerte absolviert. Und es darf nicht vergessen werden, dass die Beanspruchung in punkto Schwierigkeit, Konzentrationsfähigkeit und Reaktionsvermögen ähnlich hoch ist wie bei einem großen Solokonzert, beim Primarius ohnehin, aber auch bei den anderen Spielern. Die Belastung ist sogar noch viel größer, denn ein Solist ist nach 30 bis 40 Minuten fertig und vom Podium weg, auf dem wir mindestens zwei Stunden verbringen und wenigstens drei Stücke spielen müssen.

TV: Und man sitzt und sitzt und sitzt …

SFE: Ja, das viele Sitzen ist schon ein Problem.

TV: Heute gibt es auch Quartette, die im Stehen spielen. Eigentlich eine mutige Entscheidung und gut nachvollziehbar, aber auch eine entlastende Alternative zum ewigen Sitzen von morgens bis nachts. Man sitzt im Flugzeug, im Auto, beim Essen, im Hotelzimmer, bei der Probe vor dem Konzert, beim Nachtmahl danach. Diese körperliche Einseitigkeit fördert nicht unbedingt die dann entscheidende physische Präsenz beim Hervorbringen der Töne mit einem Höchstmaß an Balance, Beweglichkeit und Koordination.

Sie aber sitzen, denke ich, auch weiterhin, und zwar hoffentlich auf stabilen, standfesten Stühlen, die sie beruhigt in die Zukunft blicken lassen.

FR: Keiner von uns ist ein Hellseher, aber wir befinden uns derzeit in einer sehr guten Situation. Sie hat sich gegenüber der Ausgangslage vor 30 Jahren vor allem durch unsere Lehrtätigkeit stark verändert. Mit der wirtschaftlichen Seite können wir mehr als zufrieden sein. Drei von uns müssen aufgrund der Professuren von der Konzerttätigkeit nicht wirklich leben. Das gibt uns viel Freiheit für programmatische Überlegungen und für unsere weiteren Ziele. Tim unterrichtet in der letzten Zeit nicht so viel, dafür organisiert er vorzüglich das künstlerische, logistische und ökonomische Management. Früher habe ich mich um die Programmarbeit und die Management-Kommunikation gekümmert, aber die Aufgaben verteilten sich fast paritätisch zwischen mir, Tim und Stefan. Die Leitung lag in meiner Hand.

TV: Nach dem Ende der Kollektiv-Professur in Stuttgart – wie gesagt, für uns eine kritische Situation – habe ich mich auch zunächst für einige Professuren beworben, war damit aber erst einmal nicht erfolgreich. Gleichzeitig wurde mir klar, dass im Falle des Erfolgs eine wirklich ernsthafte Krise für das Quartett entstehen könnte, weil bei vier Lehrverhältnissen ein Leben, wie wir es derzeit führen, einfach nicht mehr denkbar wäre. Der Organisationsaufwand ist enorm hoch und erreicht nicht selten die Grenze der Zumutbarkeit.

SFE: Er macht aber einen tollen Job, was wir alle sehr zu schätzen wissen. Ich glaube, manchmal bedauert Tim, dass wir aufgrund der pädagogischen Nebenbelastungen weniger Zeit für Proben haben, allerdings hat sich ja auch die gesamte Logistik im Hinblick auf unser Zeitmanagement geändert.

FR: Ich bin nicht wie Tim, der nächtelang Partituren studiert und das Stück bei den Proben voll im Kopf hat. Mich inspiriert das Unterrichten, das Arbeiten mit den Studenten, das zum Teil ganz andersartige Zugänge zur Musik eröffnet als diejenigen, die ich allein mit dem Quartett erschließen kann. Von daher kommen auch neue Impulse für unser Musizieren, obwohl natürlich die feste Basis und der Zusammenhalt, den wir mit Tim haben, unentbehrlich ist.

TV: Früher war es so, dass wir das meiste aus uns selbst geschöpft haben. Heute hat jeder sein zweites Aufgabenfeld. Wir treffen uns und jeder bringt von seiner Arbeit frische Anregungen mit. Da wir uns gut verstehen, ist dies für die gemeinsame Arbeit sehr befruchtend.

SFO: Ich glaube, im Moment ist mehr Individualität gefordert und gewünscht, und sie wird auch genutzt. Die Balance stimmt.

Berlin 2013, mit Ute Lemper und Stefan Malzew


Neubrandenburg 1985, »Klub der Intelligenz«

ZWEI / Profil und Programm
Kanonische Tradition

Obwohl es ein wenig hochgestochen klingt, möchte ich fragen, was man als Philosophie Ihrer Programmarbeit umschreiben könnte. Wie sehen Sie das Verhältnis von Tradition und Moderne, wie die Proportionen zwischen dem kanonischen Kern und den Rändern der Musikgeschichte? Warum ergänzen Sie die homogene, klassische Quartettbesetzung durch Werke mit mehr oder weniger Instrumenten, auch in heterophonen Besetzungen, weshalb erweitern Sie schließlich das Spektrum in Richtung anderer, dezidiert populärer Musikstile? Kurzum, mit wieviel Planung oder Zufall hat sich Ihr Repertoire herausgebildet? – zunächst mit Blick auf die klassische Überlieferung, die große Musik der Vergangenheit, deren Existenz das Quartettspiel auch heute immer noch begründet!

TV: Geplant werden muss letztlich alles, aber ich bezweifle, dass dabei rigide Grundsätze walten, die sich einfach in konkrete Konzertplanungen umsetzen lassen, denn es handelt sich meistens um ein kompliziertes Geflecht von Überlegungen. Zufälle spielen dabei eine ebenso wichtige Rolle wie unser individuelles und kollektives Lustprinzip, von dem wir uns gern leiten lassen. Außerdem gab es die längste Zeit im Quartett eine Arbeitsteilung: der eine machte die Programmvorschläge für die Abonnements im Berliner Konzerthaus, ein anderer das Programmkonzept für Konzerttourneen. Schließlich haben auch die unterschiedlichen Zeitdistanzen des Planungsvorlaufs keinesfalls nur beruhigende Folgen, denn es kann vorkommen, dass man, manchmal beinahe erschrocken, bemerken muss, in der kommenden Saison plötzlich in einem großen Stapel von Stücken zu sitzen, die man spielen muss, obwohl sich dies nur schwer bewältigen lässt.

FR: Wir spielen pro Saison mindestens 30 Werke, einmal, in der Saison 2000/01, waren es sogar über 40, darunter 30 ganz neue. Sofort abrufbar ist eigentlich kein einziges Werk, weil wir uns seiner durch Proben immer erst wieder vergewissern, aber wir kennen natürlich viele Stücke sehr gut und würden nach ein bis zwei Proben aus einem Reservoir von 50 bis 60 Stücken ein Konzert verantworten können.

Das bezieht sich auf das klassisch-romantische Repertoire?

FR: Ja, aber nur für eine relativ begrenzte Anzahl von Werken können und wollen wir mit kurzfristigem Aufwand ein Konzert spielen. Für die meisten Stücke, vor allem aus dem Bereich der neuen Musik, speziell solche extrem schweren wie Schönbergs 3. Quartett, müssen wir mehr Zeit investieren, um sie emotional und spielerisch zur Konzertreife zu bringen. Eigentlich müssen wir also immer mehr arbeiten und proben, als von der Allgemeinheit gedacht.

Ich sehe, dass meine Vermutung einer planmäßigen Strategie zur Bildung, Erweiterung und Komplettierung Ihres Repertoires an der Realität etwas vorbeigeht.

TV: Die Lust, sich bestimmte Stücke endlich anzueignen, ist in der Regel stärker als andere Erwägungen. Natürlich haben wir unser Hauptrepertoire definiert, und das kann gar kein anderes sein als die Wiener Klassik und die deutsch-österreichische Romantik bis zur frühen Moderne, die Wiener Schule um Schönberg inbegriffen. Die 16 Beethoven-Quartette haben wir, bis auf das Quartett op. 74 Es-Dur, alle gespielt. Um alle 83 Haydn-Quartette präsent zu haben, braucht man ein halbes Leben – wir spielen bisher etwa 20 Werke. Ähnlich verhält es sich mit Mozart und Schubert, wo wir uns hauptsächlich auf die späten Werke konzentrieren – wenn der deplatzierte Ausdruck angesichts des tragisch frühen Ablebens beider gestattet ist.

SFE: Für die konkrete Konzertplanung stand immer stärker das funktionierende Programm im Mittelpunkt als der Gedanke an irgendeine Art von zyklischer Vollständigkeit.

Gibt es einen Einfluss der Institutionen auf die Planung der Inhalte, etwa im Fall des Konzerthauses Berlin?

TV: Es ist so, dass wir vom Konzerthaus vor der Planung am Anfang der Saison eine kleine Liste bekommen, welche Stücke möglichst nicht in Betracht gezogen werden sollten, weil sie von anderen Ensembles bereits angemeldet wurden. Darüber hinaus sind wir aber völlig frei in unseren Entscheidungen. So haben wir in unserem Konzerthauszyklus immer eine kleine thematische Linie eingezogen – sozusagen exklusiv erfunden –, was uns auch dazu nötigte, sehr oft neue Stücke zu präsentieren. Wenn wir diese neu einstudierten Werke dann auch gleich für andere Konzerte oder Auslandstourneen mitgenommen haben, war damit natürlich das Risiko verbunden, dass diese Stücke zwar im ursprünglichen thematischen Ambiente gut funktioniert haben, aber in anderen Zusammenhängen manchmal weniger sinnvoll erschienen, vor allem, wenn man noch nicht hundertprozentig hinter dem Stück steht. Vielleicht ist es unser eigener Fehler, dass wir dieses Problem im Unterschied etwa zum Guarneri- oder dem Berg Quartett nicht besser unter Kontrolle gehalten haben. Beide haben eine ganz klare Strategie entwickelt und dabei festgelegt, wie viele Stücke angeboten werden sollen – in wenigen Programmen pro Saison.

 

Friss, Vogel, oder wir kommen nicht!

TV: So haben wir nie gearbeitet, aber wir sind zu einem solch exklusiven Status auch nicht bereit gewesen. Dafür ergibt sich jedoch ein kleiner Teufelskreis, aus dem man schwer wieder herauskommt: dass nämlich der Ruf, vieles spielen zu können und zu wollen, die Veranstalter immer wieder ermutigt, um bestimmte Stücke zu bitten und zu betteln. Neue Stücke zu erarbeiten, neue Literatur kennenzulernen, ist anstrengend, aber auch eine wirkliche Bereicherung; andererseits haben wir einen leichten Überdruss gespürt, eine leise nagende Langeweile, wenn wir zum Beispiel auf eine große Tournee nur wenige Programme mitgenommen haben und das gleiche Menü drei bis vier Mal hintereinander servieren mussten. Mit immer demselben Programm frisch zu bleiben, empfinden wir als eine sehr schwere Sache.

SFO: Ein extremes Beispiel dafür war eine Japan-Tournee, auf die wir für über 15 Konzerte nur zwei Programme mitgenommen haben. Wir spielten sie, vielleicht mit einem Tag Pause, Abend für Abend im Wechsel hintereinander. Das kann ermüdender sein, als sich auf ein neues, ganz anderes Stück einzulassen. In Japan kann man allerdings kaum Experimente mit neuer Musik machen, denn die Erwartung ist auf den klassisch-romantischen Kanon der berühmten Komponistennamen fixiert.

FR: Aber wenn eben der Kanon zu eng bemessen ist, wenn die Dosis des immer Gleichen übertrieben wird, kann bei uns Interpreten bleierne Müdigkeit die Folge sein. Das ist ein wirklich interessantes und ernstzunehmendes Argument für unsere Neugier auf gute neue Musik und den gelegentlichen Wechsel in andere, angewandte Bereiche des Musizierens. Durch diese Offenheit für ungewöhnliche, in sich kontrastierende Programme sind wir übrigens an viele Konzerte gekommen, die man uns nicht angeboten hätte, wenn wir mit Haydn-Mozart-Beethoven-Schubert-Schumann-Brahms ausgekommen wären. Weil bei den Voglers eine bestimmte Offenheit und Flexibilität an der Tagesordnung ist, sind wir interessant für Veranstalter, die gegenüber dem Publikum nicht nur einem Befriedigungs- und Sättigungsimpuls nachgeben, sondern mit einem gewissen pädagogischen Eros das Publikum dahin bringen wollen, sich zur Erweiterung des Horizonts Neues, Unerhörtes, Provozierendes, Schockierendes anzuhören. Es gibt Teile des Publikums, die darauf positiv reagieren, es gibt nach wie vor Veranstalter, die gerade so etwas wichtig finden, und es gibt uns, die diesen Weg gerne und mit Leidenschaft gehen.

SFE: Mit dieser Haltung stehen wir keineswegs allein – im Gegenteil: Inzwischen gibt es viele junge Quartette, die sich in radikaler, manchmal übertriebener Programmatik, im Auflesen von Raritäten und versteckten Fundstücken aus der Musikgeschichte exquisite Alleinstellungsmerkmale verschaffen, und zwar bisweilen in einem Preisniveau, auf welches wir allein der Ehre wegen nicht mehr zurückfallen wollen. Das ist mittlerweile eine Problematik am Markt, die auch an uns keineswegs vorbeigeht.

TV: Die Repertoiregestaltung geschieht bei uns vor allem mit Blick auf das einzelne Konzert, auf die Dramaturgie des Abends. Zwischen den drei Stücken, die man in der Regel auszuwählen hat, muss sozusagen die Chemie stimmen. Es sollte eine Spannung entstehen, die eine Beziehung zwischen ihnen erkennen lässt, am besten einen neuen Gesichtspunkt erfahrbar macht. Der kann sich sowohl darin zeigen, dass zum Beispiel – metaphorisch gesprochen – ein Stück eine Frage aufwirft, die ein anderes beantwortet; ein drittes Stück eine These aufstellt, die das vierte negiert; ein fünftes ein bestimmtes dramatisches Profil ausprägt, das vom sechsten lyrisch befriedet oder vom siebenten satirisch demaskiert wird. Kontrastierende Programme sind immer besser und effektiver als solche aus einer Haltung, einem Stil, einem Gestus heraus, schon allein wegen der alten, einfachen Erfahrung, dass man klassische, vertraute Musik anders, vielleicht wachsamer hört, wenn zuvor ein Stück neuer Musik erklungen ist. Tolle Wirkungen kann man erreichen, wenn man mit den Quartett-Miniaturen von Anton Webern beginnt – den »Fünf Sätzen« op. 5 oder den »Sechs Bagatellen« op. 9. Herrlich, wenn die große Stille, die beim Publikum einkehrt, ein absolut gedehntes Zeitempfinden entstehen lässt (vorausgesetzt, wir Musiker halten die Spannung), das innerhalb weniger Minuten die Erlebnistiefe mehrerer Stunden suggeriert. Tritt man dann als Musiker wie als Zuhörer aus dieser meditativen Situation heraus und trifft auf ein anderes Stück vertrauter Art, so kann dieses ganz lebendig und frisch auf uns wirken, als hätten wir es nie so gehört und müssten es neu erfahren. Diese verblüffende Wirkung haben wir oft genug erfahren und versuchen daher, sie uns bei der Programmgestaltung zunutze zu machen.

FR: Ja richtig, aber auch hierbei gilt die alte Weisheit, dass sich eines nicht für alle schickt – hierbei erinnere ich mich an unser erstes Konzert in New York im 92nd Street Y-Saal. Wir haben gedacht, dass wir dort nicht mit einem Null-Acht-Fünfzehn-Programm aufkreuzen dürfen, sondern etwas Besonderes bieten, ein Hammer-Angebot hinstellen sollten. Der Abend begann mit der »Großen Fuge« op. 133 von Beethoven, wir haben sie den Leuten gewissermaßen um die Ohren gehauen – obwohl man wissen sollte, das dieses Stück mit seiner unerhört komplexen Form, seiner schwer zu durchschauenden Faktur und seiner spröden Klanglichkeit bis heute dem durchschnittlichen Konzertfreund mehr Probleme bereitet als viele Werke der Moderne und Avantgarde. Danach kamen – welch krasser Gegensatz! – die Bagatellen von Webern und als »Entspannung« das a-moll-Quartett von Mendelssohn Bartholdy. Nach der Pause bildete das 6. Quartett von Bartók den Abschluss – auch nicht gerade Musik für ängstlich-traditionelle Ohren. Das Programm war für diesen Anlass nicht das richtige, denn wir hatten Teile des Publikums einfach überschätzt.

TV: Eigentlich ein wirklich gutes Programm, aber als wir von der »Großen Fuge« dann zu Webern kamen, da knisterte vorn in der ersten Reihe ein Mann mit Bonbonpapier herum und begann demonstrativ laut hörbar zu kauen. Die Leute waren überfordert, es entstand eine ungemütliche Atmosphäre, und während Mendelssohn stimmungsvoll vorbeiging, brachen schließlich bei Bartók die Dämme wohlerzogener Zurückhaltung, und lautstarker Unmut erscholl aus vielen Richtungen.

SFE: Das Publikum kam sich so vor, als ob irgendjemand sie missionieren wollte.

FR: Im Prinzip will das kein Publikum, das hätten wir wissen müssen; aber vielleicht unterlagen wir der damaligen Suggestion, dass Amerika sogar im intellektuellen Musikverständnis dem Rest der Welt überlegen sei.

SFO: Die am nächsten Morgen in der New York Times erschienene Kritik war so formuliert, dass man daraus für Eigenwerbung so gut wie nichts verwenden konnte. Der letzte Satz hieß: »Indeed they have much in common with Bartók.« Das sollte wohl heißen, dass wir ähnlich verkopft seien wie der zu Lebzeiten in Amerika völlig erfolglose Komponist und dass man mit so einem Programm und so einer Art zu spielen sich in Amerika kaum Freunde machen kann.

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