Eine Welt auf sechzehn Saiten

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Ich nehme an, Ihre gesamte Konzertplanung und Reiseorganisation lag in den Wendemonaten bis zur Wiedervereinigung immer noch in den Händen der Künstleragentur?

TV: Ja, wobei uns mittlerweile schon die Münchner Agentur Hörtnagel vertrat. Das war als jene Zweigleisigkeit angelegt, die auch heute noch überwiegend praktiziert wird: Im eigenen Land hat man eine Agentur, die sozusagen den Hut für die Gesamtkoordinierung der Aktivitäten aufhat, und in anderen Ländern gibt es spezielle Agenturen, die ihre Angebote zur Koordinierung an die heimatliche Zentralstelle geben.

SFE: Ich weiß noch, als wir in Schleswig-Holstein spielten, wie Georg Hörtnagel, ein großer, schwerer Mann in einem weißen Leinenanzug, jedem von uns seine riesengroße Kontrabassisten-Hand auf die Schulter legte und sich vorstellte. So startete der Kontakt mit der Agentur, die viele Jahre gut mit uns gearbeitet und uns sehr geholfen hat. Und noch ein persönliches Wort. In der Münchner Konzertdirektion Hörtnagel lernte ich meine Frau kennen, sie arbeitete dort.

TV: Aber ehe Hörtnagel unsere Generalvertretung übernahm, nachdem es die Künstleragentur nicht mehr gab, blieben wir noch eine Zeitlang bei der nun privatisierten Nachfolge-Agentur, die der ehemalige stellvertretende Chef, Horst Guttek, gegründet hatte. Unter dem schönen Namen »Dreiklang« hat diese Agentur uns zwei, drei Jahre betreut. Auch ins Ausland, zum Beispiel nach Spanien oder zu einem Konzert in Budapest, hat Herr Guttek uns stets persönlich begleitet – sicher gut gemeint von seiner Seite (er war der weniger welterfahrene, über alles staunende Ossi), aber gelegentlich zu unserem Missvergnügen, dann man fühlte sich immer auch ein wenig beobachtet und kontrolliert, wo man doch dachte, so etwas hätte sich eben geschichtlich erledigt.

SFO: Mit Guttek kamen wir – eine Nachwirkung der deutschen Teilung – nur schwer in die westdeutschen Städte, und auch deshalb wurde die Agentur Hörtnagel für uns ganz wichtig. Sie hat unser Debüt in München organisiert, als Einspringer für das Amadeus Quartett (der Bratschist war gestorben). Wir haben dann im März 1988 im ausverkauften Herkulessaal, an diesem berühmten, fast ein wenig geheiligten Ort, zum ersten Mal mit sehr viel Energie gespielt. Es handelte sich um eine Abonnements-Reihe, bei der wir aufgrund des ersten Erfolgs dann jedes Jahr wieder – quasi beim Gipfeltreffen weltbester Quartett-Vereinigungen – präsent waren.

An diesem Beispiel lässt sich auch beobachten, wie doch die Veränderung der politischen Landschaft und der ökonomischen Verhältnisse auf subtile Weise die Strategien Ihres öffentlichen Wirkens berührten. Das geschah nach meiner Meinung unter anderem dadurch, dass Sie als Gegengewicht zu den sehr oft von vielen Zufällen beherrschten oder von Ihnen nicht zu beeinflussenden Faktoren Ihrer Konzertverpflichtungen rund um die Welt nun auch begannen, für sich selbst bestimmte Schwerpunkte Ihrer Arbeit zu setzen und programmatische Linien festzulegen. Für Ihr Künstlerleben bedeutete dies neue deutliche Profilierungen und Akzentuierungen. Einer dieser Momente war die Idee einer eigenen Konzertreihe für Abonnenten in der Stadt, die man als Ihre künstlerische Heimat betrachten kann. Sie hätten hier das wahrscheinlich treueste Publikum haben können, wenn Sie nicht so vehement weltläufig geworden wären.

TV: Wir haben immer wieder in Berlin gespielt, in der Philharmonie (in einer Reihe der Konzertdirektion Hans Adler) oder im Konzerthaus am Gendarmenmarkt. Wir hatten das Gefühl, dass es gut wäre, als Berliner und auch wegen unseres Studiums an der Eisler-Hochschule, mit einer gewissen Regelmäßigkeit in Berlin aufzutreten, da die vielen Leute, die wir kannten, uns öfter mit der Frage zusetzten, wann wir endlich mal wieder ein Konzert zu Hause geben würden. Es wuchs in der Tat unser Bedürfnis, verschiedene Orte zu haben – nicht nur Berlin –, in denen man eine Heimstatt hat, in welche man regelmäßig wiederkommen kann und vielleicht diese Art der Arbeit beglückender findet, als in der Welt herumzufahren, hier und dort aufzutreten, als wäre man Material für ein Spiel nach den undurchschaubaren Regeln einer großen Improvisation.

Ich nehme an, Sie haben das Konzerthaus im Wesentlichen aus drei Gründen als Ihren Veranstaltungsort gewählt: weil es dort einen Kammermusiksaal mit der dafür angemessenen Platzkapazität für ca. 400 Besucher gibt, weil die räumliche Nachbarschaft zu Ihrer Musikhochschule nicht nur eine gewisse symbolische Symbiose darstellt und drittens die Möglichkeit bestand, ein spezifisch interessiertes Stammpublikum zu bilden, das ein Abonnement einfach braucht, um zu funktionieren.

TV: Ganz in diesem Sinne haben wir die Sache überlegt und 1993 Ihnen, dem damals neuen Intendanten des Konzerthauses, einen entsprechenden Brief geschrieben. Die positive Entscheidung kam sehr rasch; wir haben, mit der Aussicht auf Mietbefreiung, kulante Teilung der Abendeinnahmen und gelegentliche Kostenbeteiligung für zusätzliche Solisten, das Abonnement sehr zügig begründen, organisieren und vertreiben können. Da unsere früheren Konzerte immer gut angenommen wurden, hatten wir den Mut zu diesem Abonnement mit jährlich vier Konzerten. Aber man braucht Geduld und Beharrlichkeit, um das Publikum an sich zu binden – und schließlich ist es gelungen, seit über zwanzig Jahren …

Das war ein Vorgang, den man heute als Win-Win-Situation bezeichnen würde. Damals mussten feste Künstler-Anbindungen aus DDR-Zeiten aufgelöst werden, es gab rechtliche Trennungen zum Beispiel hinsichtlich eines Pianisten beim Orchester, des festangestellten Hausorganisten oder der Berliner Singakademie. Im Gegenzug, auch um das künstlerische Angebot des Hauses innerhalb der Berliner Konkurrenzen zu halten und zu heben, haben wir alles versucht, um bestimmte Ensembles, die uns schmücken konnten, durch Vorzugskonditionen fest an uns zu binden. Das betraf zum Beispiel die Akademie für alte Musik, die eine Heimstatt suchte, und eben auch das Vogler Quartett. Wir wussten ja, das Sie auch bei Ihren früheren Einzelkonzerten immer einen vollen Saal hatten, so dass wir sogar überlegten, den großen Saal zu nehmen, wäre er nur weniger pompös und etwas intimer gewesen. Sie haben später auch nach dem Vorbild des Berliner Modells eine Konzertreihe für Abonnenten in Neubrandenburg etabliert, die auch sehr gut funktioniert. Gibt es weitere Konstanten Ihrer Arbeit, wie vorhin erwähnt, vielleicht außerhalb Deutschlands?

FR: Wir werden später noch über einige Aspekte unserer pädagogischen Arbeit sprechen. Hier sei vor allem die Wigmore Hall in London erwähnt, ein Konzertsaal für Kammermusik, der 1901 durch die Berliner Klavierbauerfirma als Bechstein Hall eröffnet wurde und zu den akustisch vorzüglichsten Sälen der Welt zählt. Sie wurde auch eine Art Heimat, da wir dort in den neunziger Jahren, im Rahmen eines kleinen artist-in-residence-Programms, jährlich aufgetreten sind und immer sehr herzlich aufgenommen wurden. (siehe S. 364 f.) Die Programme waren thematisch konzipiert, so dass wir viele Werke hier zum ersten Mal spielten, wie beispielsweise das 3. Quartett von Arnold Schönberg. Es war oft anstrengend für uns, so viel Neues zu bringen, das dann nicht so recht repertoirefähig werden konnte, aber im Grunde fühlten wir uns glücklich, immer wieder an einen so illustren, geschichtsträchtigen Ort eingeladen zu werden.

SFO: Starke Verbindungen mit stetiger Wiederkehr haben wir in noch intensiverer Weise nach Irland geknüpft. Das erste Mal sind wir schon 1988 dort gewesen und haben dann wirklich jedes Jahr, teilweise auch zwei Mal pro Jahr, mit kleinen Tourneen in Dublin und anderen Städten gespielt.

FR: Es gab dort einen Impresario alter Schule, John Ruddock, ein großer Freund des Quartetts, der seit den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts das Musikleben in Irland bereichert hat. Dieses Land markiert eine wichtige Zeit in unserem Leben.

SFO: Es gibt noch viele weitere Orte, in denen wir mit gewisser Regelmäßigkeit konzertiert haben. Dazu gehören in Spanien Madrid und Bilbao, in Frankreich unsere fünf Mal wiederholte Präsenz beim provenzalischen Luberon Festival und vor allem Paris, wo wir an verschiedenen Plätzen, aber am meistens im Auditorium Louvre gespielt haben.

TV: Dabei wäre zu ergänzen, dass sich viele Konzerte in der langen Zeit unserer Arbeit aus persönlichen Kontakten ergeben, die man zu einem Veranstalter oder zu anderweitigen Förderern und Freunden des Quartetts geknüpft hat. Wenn der Kontakt dann abbricht – sei es durch Ortsveränderungen oder Todesfälle –, kann man natürlich versuchen, ihn mit den Nachfolgern fortzusetzen, doch in der Regel wollen sich neue Veranstalter von Vorgängern eher absetzen, und dann endet auch für uns die Verbindung. Die Karawane zieht weiter und geht eine neue Beziehung ein. Es findet sozusagen eine natürliche Fluktuation zwischen Stetigkeit und Wandel statt, eingeschlossen emotionale Reaktionen zwischen Trauer und Freude, denen man ausgesetzt ist.

Auch in der Kultur wirken ja Gesetze des Marktes, und einige davon liegen im ungeheuer schnellen Verschleiß des Bekannten, eingeschlossen die Gegentendenz: Wenige Berühmtheiten thronen scheinbar ewig in einer imaginären Walhalla der Anbetung, ganz gleich, ob sie das noch mit ihren Leistungen rechtfertigen oder nur einstigem Glanz verdanken. Die übergroße Mehrheit oft nicht minder begabter Künstler muss sich wirklich täglich bemühen, Leistungen mit meist extremistischen Attributen auf den Markt zu werfen, um beachtet und engagiert zu werden und damit der berühmten Hegel’schen »Furie des Verschwindens« in der Geschichte zu entgehen. In der Kunst ist der Hunger nach Frischfleisch, verbunden mit rascher Entsorgung älterer Ware, genauso verbreitet wie in vielen anderen Bereichen auch.

TV: Ja, unsere Zeit ist wirklich sehr kurzlebig, nach unserer Erfahrung am stärksten in Amerika. Wenn man dort nicht regelmäßig konzertiert und durch etwas ganz Besonderes auffällt, ist man vergessen. Auch bei uns verbreitet sich diese fatale Schnelllebigkeit mehr und mehr, und dadurch ist man, wenn keine Neuigkeiten kommen, kein sensationeller Ansatz im Verstehen und Spielen der Musik geboten wird, ganz schnell weg vom Fenster. Das ist eines der Probleme, mit denen wir als Quartett auch zu kämpfen haben.

 

Als was figurieren Sie, rechtlich gesehen, seit der Einheit?

TV: Wir sind seit der Wende eine GbR, eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts. Neu daran war nicht nur, dass man zur Steuerzahlung veranlagt wurde, sondern sich auch wirtschaftlich versichern musste.

In der DDR musste man sich um Steuern überhaupt nicht kümmern, weil für jede Arbeitsleistung oder anderweitige Transaktionen pauschal und automatisch 20 % vom Staat einbehalten wurden.

TV: Diese Dinge, mit denen man sich nebenbei plötzlich beschäftigen musste, betrachtete man lustlos als notwendiges Übel, gerade wenn man intensivst musikalisch arbeitete. Aber zu ausgiebiger Beratung, die in unserem Falle optimal gewesen wäre, ist es gar nicht gekommen. Natürlich liefen auch uns Typen über den Weg, die Schiffsbeteiligungen oder Lebensversicherungen anpriesen, und zu letzterem haben sich drei von uns auch überreden lassen, bevor wir, all die Untiefen und Unredlichkeiten durchschauend, dem bedachtsamen Rat unseres klugen Cellos gefolgt und in die Künstlersozialkasse eingetreten sind.

SFO: Wir sind alle so veranlagt, dass wir diesen Realitätsbereich möglichst weit von uns entfernt halten. In finanziellen Angelegenheiten fehlte uns eigentlich jegliche Cleverness. Woher sollte sie auch kommen, wenn im Leben das Geld, das man ja hatte, so gut wie keine Rolle spielte!

Ist für Sie nach der Wende durch den nun völlig offenen Kunstmarkt eine veränderte Wettbewerbssituation, ein neues Klima der Konkurrenzen entstanden? Und wer waren eigentlich diejenigen Quartette, mit denen Sie neu zu tun hatten und verglichen wurden?

TV: Hier war in vieler Hinsicht die Situation undramatisch, denn das Neue bestand für uns teilweise auch aus dem Alten. Schon zu DDR-Zeiten gab es für uns den offenen Markt, und man kannte natürlich die Mitstreiter auf unserem Level. Wir hatten noch ziemlich lange diesen Ostbonus, der uns durchaus wohlwollend umgab und erst allmählich entschwand. Aus dem Osten gab es neben uns das Petersen Quartett, aus dem Westen gab es das Auryn Quartett, und das Artemis Quartett war stark im Kommen, die älteren Ensembles wie das Melos Quartett traten allmählich zurück, und so blieben als stärkste Kombattanten eigentlich nur das Emerson-, das Hagen- und aus der Schweiz das Carmina Quartett.

Wie hat die internationale professionelle Kritik reagiert, nachdem Sie kein ostdeutsches Quartett mehr, sondern einfach ein deutsches Quartett waren?

SFE: Wir haben immer überwiegend gute Kritiken bekommen, aber es kam natürlich auch einmal vor, dass wir an einem, wie man heute so gern sagt, suboptimalen Abend ein wenig schlapp spielten und dafür auch die kritische Quittung bekamen. Wirklich herbe, politisch motivierte Verrisse haben wir uns nur in den Staaten eingehandelt – und zwar vor allem, als es die Mauer noch gab. Einmal stand Bartóks zweites Quartett auf dem Programm und unser Spiel wurde mit einem computergesteuerten Truck verglichen, einem Riesenlastwagen mit »perfect German engineering«, aber eben ohne jedes Leben, ohne Emotion. Im zweiten Teil spielten wir dann noch, zusammen mit James Levine, Schumanns Klavierquintett, wozu der Kritiker bemerkte: »Langsam schmolzen die Eis-Barrieren dahin und es kam zu Momenten des richtigen Musikmachens, aber wenn sie zurück in Ostberlin sind, werden sie wahrscheinlich wieder in den Charme und die Wärme einer Panzerdivision verfallen.«

TV: Wir waren immer wieder in Amerika, zu Konzerten wie zu Kursen, beispielsweise 1990 zum »Ravinia Steans Institute für Young Artists«, einem der ältesten Sommer-Konservatorien in den USA, in der Nähe von Chicago, wo wir wieder für einen Monat auf Walter Levin (und das LaSalle Quartet) trafen. Auch lud uns James Levine als Leiter des Festivals, das gleichzeitig mit den Kursen veranstaltet wurde, im Jahr darauf zu Konzerten ein. Dass wir dort ganz wunderbar mit ihm, übrigens auch mit Lynn Harrell, musiziert haben, war etwas ganz Besonderes, denn wir waren die einzigen Studenten, die dafür ausgesucht wurden. Wir haben uns auch mit Walter Levin darüber ausgetauscht, wie wir es mit einer amerikanischen Agentur halten sollten, die uns kontaktiert hatte und die wir dringend benötigten. Sein Rat: »Also diese Manager, das sind alles Räuber. Lasst Euch auf nichts ein, was unter 8000 Dollar pro Konzert liegt«. Diesem Ratschlag haben wir als blauäugige Eleven im Geschäft zu folgen versucht. Aber obwohl wir dann mit verschiedenen Agenten in Levins Sinne hart verhandelt haben, landeten wir am Ende natürlich auf dem Boden der Tatsachen und haben lange gebraucht, ehe Gagenforderungen in dieser Höhe für uns realistisch wurden.

Cincinnati 1989, mit Phil Gottling und Henry Meyer (v. l. n. r.)

Neue Bahnen (2000 – 2014)

Das runde Jahr 2000 mag für eine Zäsur vielleicht formell tauglich sein, aber in konkret inhaltlicher Hinsicht ragt es keinesfalls aus der umgebenden Zeit heraus. Die heimischen wie auch die inhaltlichen Konzertverpflichtungen gingen ihren gewohnten Gang, und dennoch, scheint mir, zeichnen sich vor und nach der Jahrtausendwende einige Veränderungen ab, die für das Selbstverständnis des Vogler Quartetts von Belang waren. Es gab Überlegungen zu einer erweiterten Programmphilosophie und zu neuen Konzertformaten, vor allem jedoch galt es, zwischen Ihrer Spielpraxis und den Herausforderungen, denen Sie sich nun auf didaktischem und pädagogischem Gebiet kollektiv oder individuell gestellt haben, eine neue Balance zu finden.

TV: Ich glaube, dass wir den Jahrtausendwechsel trotz der allgemeinen Faszination durch die Magie der runden Zahl in nüchterner, pragmatischer Arbeit verbracht haben. In unserer Kindheit erschien dieses Datum so unendlich weit entfernt. Man fragte sich, wie wohl im Jahr 2000 die Autos aussehen und sich das Leben anfühlen würde, und hatte die Empfindung, in dieser utopischen Ferne mit 36 Jahren bereits ein uralter Mann zu sein. Ihre Bemerkung zu neuen Impulsen durch unsere anderweitigen Engagements ist sicher im Prinzip richtig, obwohl aber die Lehrtätigkeit schon früher eingesetzt hat.

SFO: Du meinst nicht die Lehraufträge, die wir an unserer Berliner Hochschule seit Beginn der neunziger Jahre wahrgenommen haben, sondern die Gastprofessuren, die ihr, Frank und du, ab 1996 für drei Jahre an der Musikhochschule in Detmold innehattet.

FR: Man wollte uns dort ursprünglich alle vier als »Quartet in Residence« haben, aber es waren dann nur zwei Stellen vakant, weil die beiden Geiger Christoph Poppen und Ulf Wallin nach Berlin gingen, Ersterer als Rektor unserer alten, sich gerade erneuernden Eisler-Hochschule am Gendarmenmarkt.

Zunächst wurde für uns Geiger eine Gastprofessur-Stelle geteilt. Die Absicht, das Quartett als Ganzes nach Detmold zu holen, ließ sich später aus verschiedenen Gründen nicht realisieren. Erst elf Jahre später, 2007, hat sich die interessante Idee einer Quartett-Professur verwirklichen lassen.

TV: Schon seit Mitte der neunziger Jahre bewegten wir im Kopf die Idee, irgendwo eine gemeinsame Anstellung zu finden, um pädagogisch zusammenarbeiten und uns natürlich auch finanziell absichern zu können, und begannen darauf hinzuarbeiten. So waren wir immer überzeugt von dem Modell eines »Quartet in Residence« an einer deutschen Musikhochschule, einem Modell, welches in den USA an vielen Universitäten wunderbar funktioniert, von uns selbst erlebt in Cincinnati. Ein Ensemble, das seine gebündelten Kräfte in eine Institution einbringt, kann als internationaler Magnet für die Außenwirkung einer Hochschule fungieren und gleichzeitig einen vielseitigen und wichtigen Beitrag zur künstlerischen Ausbildung der Studenten leisten. Unsere mehrjährige Residenz im irischen Sligo, über die wir noch sprechen werden, zielte in diese Richtung; wie froh waren wir aber erst, als das Angebot der Stuttgarter Musikhochschule kam, in der Nachfolge des Melos Quartetts eine gemeinsame Professur anzutreten.

Wir wurden auf vier halbe W3-Stellen berufen, befristet auf fünf Jahre. Bis fast zum Schluss glaubten wir, da uns dies am Anfang mehrfach ausdrücklich versichert wurde, dass sich die Stellen problemlos verlängern lassen würden. Als das wider Erwarten doch nicht selbstverständlich war und unsere Professuren nicht verlängert wurden, gerieten wir in eine schwierige, neu zu überdenkende Situation. Wir waren gezwungen, unsere über Jahre in Sligo und Stuttgart gewachsene Ensemblestruktur, bestehend aus einer gemeinsamen festen Bindung an eine Institution, die Hand in Hand mit unseren internationalen Konzertverpflichtungen einen sehr dichten Terminkalender bedingte, den Realitäten anzupassen, da Stefan als Einziger aus dem Quartett gebeten wurde, mit einer nunmehr ganzen Stelle in Stuttgart zu bleiben.

Wie es letztlich zu diesem doch traurigen Abschluss einer wunderbaren Initiative gekommen ist, kann man mittlerweile, im Nachhinein, wohl etwas klarer erkennen. Ich glaube, dass beide Seiten nicht genug Wert auf eine ganz eindeutige Interpretation unserer Arbeit in Stuttgart legten. Man kann ja manchmal eine gute Sache von Anfang an zerreden. Vielleicht haben wir, wie auch die Verantwortlichen von der Hochschule, diese Gefahr gespürt und wollten das Projekt, das viele Jahre lang geplant wurde, erst einmal sicher auf den Weg bringen. Wir persönlich gingen davon aus, dass wir, wie alles bis dahin, auch diese Aufgabe gut meistern würden, und übersahen, dass die Erwartungen an uns so beschaffen waren, dass wir diese, auch rückblickend, kaum besser hätten bewältigen können.

So bleibt die Erkenntnis, dass eine genaue Kommunikation wirklich existenziell sein kann, es bleibt der Rückblick auf eine schöne und reiche Zeit im gemeinsamen Quartettleben und bei dreien von uns auch eine Art Erleichterung, dass die nahezu wöchentlichen und meist mehrtägigen weiten Bahnreisen in oft vollen und verspäteten Zügen seit einiger Zeit der Vergangenheit angehören.

Lassen Sie mich noch nachfragen, wie sich der Unterricht konkret abgespielt hat.

SFE: Während das Melos Quartett wirklich gemeinsam Unterricht gab, haben wir die Ensembles – nicht nur Quartette, sondern auch die zahlenmäßig darunter oder darüber liegenden – im Wechsel einzeln, seltener (einmal auch) zu zweit und nur in Ausnahmefällen zu dritt oder zu viert unterrichtet. Der Zuspruch war enorm, im Nachhinein wird man wohl aber zugeben müssen, dass wir nicht alle unsere Wünsche bezüglich des Unterrichts optimal realisieren konnten – vor allem auch, weil die Anforderungen des jeweiligen instrumentalen Hauptfachs ein gleiches Engagement für unsere Absichten bei den Studenten erschwerten.

FR: Aber wir waren erfolgreich bei einem besonderen Konzertformat, das wir einmal pro Semester öffentlich realisierten – unseren Gesprächskonzerten.

In Erinnerung an eine Unternehmung Arnold Schönbergs in Wien im Jahre 1918, wo er dem Publikum 10 Proben seiner berühmten 1. Kammersymphonie gleichsam ohne Aufführung offerierte, um diese damals sehr neue und komplizierte Musik verständlich zu machen.

FR: Ja, aber unsere Gesprächskonzerte waren ursprünglich von Walter Levins Lecture Recitals inspiriert, die wir mit ihm als Redner zum Beispiel über Brahms op. 51/2, Beethovens »Große Fuge« oder die »Lyrische Suite« von Berg durchführten. Wir haben diese Idee modifiziert, indem wir neben den zentralen Werken unseres Repertoires Stücke aussuchten, die wir mit den Studenten erarbeitet hatten. Mit verbalen Erläuterungen und praktischen Klangbeispielen ließen wir die Musik nach und nach vor dem Publikum entstehen.

SFO: Die Gesprächskonzerte wurden vom öffentlichen Publikum sehr gut besucht, allerdings nur von wenigen Studenten, was letztlich schade war, denn sie hätten doch den spannenden Vorgang erleben können, wie man über teilweise gemeinsam erarbeitete Stücke jetzt vor Publikum immer noch einmal anders nachdenken und sie anders reflektieren kann.

Stephan, Sie waren, in den Stuttgarter Jahren durch Ihre Berliner Professur an der Eisler-Hochschule doppelt belastet. Gegenwärtig stellt sich die Situation weit entspannter dar: Mit Ausnahme von Tim Vogler hat jeder seine Einzelprofessur, aber auch er unterrichtet einmal im Monat in Dublin und managt ansonsten das Quartett in all seinen programmatischen, kommunikativen und geschäftlichen Facetten. Und damit kommen wir chronologisch zu einem Unternehmen der besonderen Art und der speziellen Freuden, das Ihnen besonders am Herzen liegt.

 

SFO: 1999 haben wir uns für eine Residence beworben, die vom irischen Arts Council in Sligo ausgeschrieben war. Sie beinhaltete in komplexer Weise die musikalische Arbeit mit Primary Schools und Secondary Schools (also hiesigen Gymnasien), schloss auch die Kooperation mit einer dort gegründeten Musikschule ein und sah die Etablierung einer Konzertreihe sowie eines neu zu gründenden Festivals vor.

FR: Die Idee haben wir eigentlich mit den Iren zusammen erst entwickelt, denn außer ein paar thematischen Stichpunkten, die sie gerne realisieren wollten, gab es anfangs nur vage Vorstellungen. Ich bekam einen Brief von einem Herrn John O’Kane, der sich an uns wendete, weil wir in Irland relativ viel gespielt hatten und uns in der europäischen Musikwelt gut auskannten. Er fragte, ob wir ein jüngeres Ensemble wüssten, gerade fertig mit dem Studium, das Interesse an einer Residency hätte – über eine längere Zeit mit einem festen und regelmäßigen Jahreseinkommen. Wir fanden das, nach einigem Überlegen, ziemlich passend für uns und recht verlockend, mit Familie dort drei Jahre zu leben. So kam es, dass wir uns den Ort an der Westküste Irlands, am Atlantik, ansahen und entzückt waren von der Attraktivität und Schönheit der Landschaft. Man war vor Ort völlig überrascht, dass wir selbst einsteigen wollten. Nach einem Vorstellungskonzert für Kinder, welches von einer Wettbewerbs-Jury beurteilt und für gut befunden wurde, führten die Gespräche rasch zur Konkretisierung der Pläne und zur Einigung, allerdings in der Form, dass wir aus privaten Gründen auf einen Komplettumzug verzichteten und für mehrere Jahre ambulant eine Woche pro Monat ohne Familie dort arbeiten würden.

TV: Der idealistische Kern war die Musikalisierung einer Stadt, einer Landschaft, das Gestalten des Musiklebens einer Community durch verschiedene Projekte, die gebündelt werden und, wenn man so will, sich wechselseitig ergänzen und erhellen sollten. Es war gedacht und wurde auch realisiert als eine Rundumzündung in diesem abgelegenen Landteil, in dem vor allem die traditionelle irische Musik eine große Rolle spielt. Die Formen, die wir dafür entwickelt haben, sind lebendig geblieben und existieren auch heute noch – trotz der zeitweilig schweren Finanzkrisen, die auch Irland in den Jahren der Eurokrise an den Rand des Abgrunds getrieben haben. Dadurch wurden wir letztlich ermutigt, diese Art von Musikvermittlung ganz zu unserer Sache zu machen und auch andernorts zu praktizieren, wenn sich dafür die Voraussetzungen ergeben und andere Wünsche uns erreichen – wie beispielsweise bei den Nordhessischen Kindermusiktagen seit 2005 oder der Konzertreihe für Kinder im Berliner Otto-Braun-Saal seit 2007. Wir haben uns damals zu eigen gemacht: Publikum auf Dauer hat auch immer mit Jugend, mit Erneuerung zu tun. Man kann nicht stets nur für die ewig gleichen, alternden Weißschöpfe spielen, sondern muss sich um den Nachwuchs kümmern und dessen Herzen und Hirne für die Musik, die großen Leistungen der europäischen Kunstmusik in Geschichte und Gegenwart, zu öffnen versuchen. Daher bilden in der formellen Vielfalt der Aktivitäten die schulischen Workshops einerseits und die konzertanten Darbietungen durch das Quartett andererseits die Eckpfeiler unseres Konzepts.

SFO: Wichtig an unserer Arbeit war auch die positive Erfahrung, dass Kinder ganz unverstellt auf unsere Angebote reagieren und spontan und direkt äußern, was ihnen gefällt oder nicht, was sie interessiert oder eben nicht. Ein Konzert für Kinder zu spielen und mit ihnen darüber zu sprechen kann weit aufschlussreicher und für uns lehrreicher sein als ganze Kompendien der Musikwissenschaft oder Musikdidaktik.

Ich nehme an, wenn Sie solche Konzerte veranstalten, geschieht dies unter Vermeidung sogenannter kindlicher Musik, dezidiert leicht spiel- und auffassbarer Stücke. Sie bieten sicher Musik aus Ihrem normalen Repertoire, aus Klassik, Romantik und Moderne?

FR: In Sligo haben wir normale Literatur dargeboten, bei der wir unsere Befähigung zur Vermittlung von Musik in physischer, psychischer und gedanklicher Form unter Beweis zu stellen hatten. Wir spielten zum Beispiel Teile aus Ligetis 2. Streichquartett oder das Menuett aus Haydns Quartett op. 76/1. Das Menuett, eigentlich ein Scherzo (die Tempobezeichnung ist Presto), fängt sehr leise an und am Ende des ersten Teils gibt es als Überraschung ein subito fortissimo. Und im Gegensatz zu jedem anderen Publikum, vor dem wir dieses präsentierten, brachen die Kinder in lautes Lachen aus. Es war wirklich ein freudiges, überraschtes und ganz spontanes Gelächter – was eigentlich bewegend ist, denn es signalisiert ein besseres Verständnis als bei manch tausendköpfigem Auditorium, wo sonst kaum jemand heute aus falschem Respekt zu lachen wagt.

SFO: Zum Beispiel haben wir auch den Pizzicato-Satz aus dem 4. Streichquartett von Bartók in Workshops an mehreren Schulen gespielt. Die Kinder hatten die Aufgabe, sich zur Musik kleine theatralische Situationen oder Szenen auszudenken. Eine Schule hatte lauter Fische ausgeschnitten und auf Stäbe montiert, um sie gleichsam im Meer schwimmen zu lassen. Mit dem ersten Bartók-Pizzicato, einer Technik, bei der die Saite geräuschvoll auf das Griffbrett aufschlägt, kam ein Hai ins Bild, der in plötzlich unruhiger Szene die anderen Fische jagt. Ich fand dies eine sehr adäquate Umsetzung der Musik, und wir freuten uns riesig an der Phantasie der Kinder. Und natürlich ergab die Visualisierung in einer anderen Schule ganz andere Resultate, worüber wir dann mit unseren Zuhörern ebenfalls reden konnten.

TV: Wir haben uns, davon ausgehend, zum Gesetz unserer täglichen Arbeit gemacht, sich bei einem Musikstück nicht nur um Formen, Techniken und Spielanweisungen zu kümmern, sondern dessen grundlegende inhaltliche Idee zu erkennen, in möglichst leicht verständliche Worte zu fassen und dann klanglich adäquat umzusetzen. Es geschah oft, dass durch die bildhaften Umsetzungen der Kinder wir selbst zu neuen Einsichten in die Stücke kamen, sie viel fasslicher fanden als zuvor und emotional tiefer ankern konnten, als wenn man sie nur als absolute Musik sieht.

2002 haben Sie ein weiteres Spielbein nach Homburg im Saarland gesetzt, um dort bei den sommerlichen Kammermusiktagen zunächst mitzuwirken und sie später künstlerisch zu leiten.

SFE: Es begann mit einer Einladung für mich persönlich durch den damaligen künstlerischen Leiter, den Cellisten Claus Kanngiesser. Die Kammermusiktage Homburg fanden damals alle zwei Jahre statt, waren ehrgeizig konzipiert und hatten einen guten Ruf in Verbindung mit dem gemütlichen Städtchen, in welchem man gut essen kann, wo aber ansonsten wenig passiert. Solche überschaubaren Rahmenbedingungen sind mir immer sympathisch, und da ich Kanngiesser durch die Sommerlichen Musiktage in Hitzacker kannte, die er ebenfalls leitete, habe ich gern zugesagt und war von der lockereren Atmosphäre, der persönlichen Betreuung, aber natürlich auch von dem Konzept mit gewissen experimentellen Zügen sehr angetan.

FR: Einerseits mischte man Werke unbekannter Komponisten mit denen von Großmeistern der Tradition, andererseits sollten sich hier hochkarätige Solisten treffen können, zusammen ein Kammermusikwerk konzertreif proben und aufführen, im Schnitt alle zwei Tage ein anderes. Zu den Proben war Publikum zugelassen, und obwohl das Ganze zunächst ein Vergnügen für die Musiker sein sollte, quittierte das Publikum die Resultate mit kaum weniger guter Laune.