Eine Welt auf sechzehn Saiten

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Zu diesem pikanten Thema fehlt nur noch Stefan Fehlandts Kommentar.

SFE: Zu jener Zeit war ich in dieser Hinsicht und auch anderweitig ein klassischer Spätstarter. Ich hatte noch keine Freundin, war mit Haut und Haar dem Quartett verfallen und hatte diesbezüglich also weniger Konflikte.

Ehe wir Ihre Zeit in der DDR zurücklassen, sollten wir etwas darüber erfahren, wie Sie das Ende dieses Landes Ihrer Geburt, Kindheit und Jugend erlebt haben. Ich kann mir lebhaft vorstellen, dass das Jahr 1989 wie für Millionen Ostdeutsche zur aufregendsten Zeit Ihres bisherigen Lebens gehörte. Aber die Aufregungen dieses Jahres begannen bei Ihnen nicht erst im welthistorisch umwälzenden Herbst, sondern gleich zu Beginn des Jahres mit Ihrem ersten Aufenthalt in den Vereinigten Staaten.

SFO: Es handelte sich um eine Einladung des LaSalle Quartets zu einem Studienaufenthalt in Verbindung mit einem einjährigen Stipendium der Universität von Cincinnati. Sie erging schon 1986 unmittelbar nach Evian und war sehr ehrenvoll für uns junge Leute, denn immerhin hatten auch weltbekannte Quartette, angefangen beim Alban Berg Quartett, dieses Angebot wahrgenommen. Die Sache konnten wir erst nach dem Studienabschluss weiter verfolgen, und um dem Amtsschimmel Sporen zu geben, kam – wahrhaft sensationell – der Primarius des Quartetts, der berühmte Walter Levin, den die Nazis 1938 mit seiner Familie aus Berlin vertrieben hatten, zum ersten Mal nach Ostberlin und ging mit uns in das Kulturministerium.

FR: Es war eine köstliche Situation, wie er einem höheren Beamten des Ministeriums, einem vor Unsicherheit zitternden Herrn Domagalla, die Usancen des amerikanischen Stipendiums erklärte und um das staatliche Vertrauen in eine solche Studienreise des Quartetts warb. Er hat sich sehr um uns gekümmert; die LaSalles waren eben daran interessiert, gute Studenten zu bekommen; ihr Programm sollte natürlich glanzvoll dastehen, und wir waren eine Gruppe, die er gern dort haben wollte. Es war für den Herrn Domagalla eine eher peinliche Situation, denn der Fall war zu delikat, als dass er spontan etwas hätte entscheiden können. Wie wir später hörten, hat es intern in der Bürokratie heftige Auseinandersetzungen darüber gegeben, ob man uns fahren lassen solle – es war stets auch eine Frage der Devisen und der Angst vor Beispielen, die Schule machen könnten. Letzten Endes kam aber die Genehmigung, die wir sicher der Fürsprache des Kulturministers Hoffmann, seines Stellvertreters Dietmar Keller und auch der mächtigen Ursula Ragwitz aus der Kulturabteilung des ZK der SED zu verdanken hatten. Sie hegten Sympathie für uns, dachten langfristig an den Nutzen solcher Großzügigkeit – im Gegensatz etwa zum Gatten von Ursula Ragwitz, der als Rektor unserer Hochschule versucht hatte, uns aus Parteiräson Steine in den Weg zu legen. Raffinierterweise erhielten zwei Bedürftige unter uns im Zusammenhang mit der Reiseerlaubnis plötzlich Wohnungen, und für uns alle vier wurde eine gemeinsame Assistentenstelle an der Hochschule genehmigt. Das alles sahen wir als ein Lockmittel zur Rückbindung, einzig zu dem Zweck, unsere Heimkehr unterwegs nicht infrage zu stellen.

SFO: Nach dem Business-Flug für 16.000 DM, den das Ministerium für uns und das Cello zu bezahlen hatte, kamen wir am 8. Februar an und blieben ein Trimester bis Ende Mai. Um in Cincinnati als Studenten akzeptiert zu werden, mussten wir als Erstes einen Sprachkurs absolvieren, aber wir hatten längst in Erwartung des eventuell Kommenden zu Hause etwas Englisch trainiert, so dass uns das keine Schwierigkeiten bereitete.

Wie vollzog sich der Unterricht beim LaSalle Quartet konkret?

FR: Er wurde vom ganzen Quartett durchgeführt, von jedem Einzelnen seiner Mitglieder. Wir haben in dieser Zeit einen großen Grundstock an neuen Werken gelernt, darunter die »Lyrische Suite« von Alban Berg und das große G-Dur-Quartett von Schubert. Ich glaube, wir haben 13 Stücke erarbeitet, also wirklich intensiv studiert, jeden Tag viele Stunden geprobt. Es war insgesamt eine ganz wichtige, herrliche Zeit. Wir wohnten in privaten Häusern bei unseren großzügigen und sehr herzlichen Gastgebern, hatten einen tollen Probenraum und zwei Autos, die wir nutzen konnten, waren umgeben von einem Wohlstand, wie wir ihn bislang nicht kannten.

SFE: Wir haben wirklich viel vom Können und der Erfahrung profitiert, aber die vier Herren standen kurz vor ihrer Trennung, so dass die Atmosphäre während des Unterrichts gelegentlich etwas angespannt war. Wir hatten den Eindruck, dass sie manchmal eher respektlos miteinander umgingen. Walter Levin hatte den Hut auf und sagte uns gleich zu Beginn: »Kinderchen, alles, was ihr mit meinen Kollegen gearbeitet habt, das möchte ich am Ende auch noch einmal hören, denn die können sich manchmal ziemlich vertun!« Es kam auch vor, dass Henry Meyer, der 2. Geiger, mitten in der Lektion des Bratschers den Raum betrat, geräuschvoll seine Aktentasche auf den Flügel stellte, seine Zeitung auspackte und so lange mit lautem Umblättern darin las, bis Peter Kamnitzer mit dem Unterricht fertig war und er beginnen konnte. Er hätte sich ja auch beteiligen und uns oder seinen ungeliebten Kollegen kritisieren können.

Haben Sie noch andere Musiker gehört und kennengelernt?

SFO: Ja, wir haben Itzhak Perlman getroffen, den uns Henry Meyer vorstellte. Das Tokyo Quartet hatte eine Visiting Residency und hat sehr viel gespielt. Der Cellist Alban Gerhard war zur gleichen Zeit Student, mit ihm haben wir uns sehr angefreundet und eine Menge gemeinsam gemacht, Tischtennis und Billard gespielt, Pizzas gebacken and so on … Wir haben eine Menge interessanter Musiker kennengelernt, und überhaupt waren die menschlichen Kontakte mindestens so wichtig wie die fachliche Hauptaufgabe.

Den Gewinn einer solchen Zeit kann man sich wohl vorstellen – die Möglichkeit, sich ganz auf eine Sache zu konzentrieren, fern dem Alltagsstress und gebettet in ein rein künstlerisches Klima. Es war aber doch nicht so, dass Sie von den politischen Vorgängen außerhalb dieser Sphäre, namentlich den politischen Entwicklungen in Ihrer fernen Heimat, ganz abgeschnitten gelebt haben! ?

SFO: Keineswegs, in Amerika habe ich bei meiner Gastfamilie regelmäßig das Wall Street Journal gelesen, eine Zeitung, die bisweilen über europäische Angelegenheiten berichtete, über die ersten freien Wahlen der Duma in Russland, oder es wurde über die DDR bezüglich der Frage spekuliert, wie lange sich im Rahmen der Gesamtkonstellation der Ost-West-Balance der Eiserne Vorhang überhaupt noch halten würde. Als wir nach Ostberlin zurückgekehrt waren, gerieten wir mitten in die Debatten um das chinesische Massaker an demonstrierenden Studenten auf dem Tiananmen-Platz in Peking und waren empört, dass sich die DDR mit den chinesischen Machthabern solidarisierte. Aus einer Erfahrung von großer Freiheit kehrten wir zurück in eine ziemlich bittere und frostige Eiszeit, umso mehr zum Verzweifeln, als sich in Gorbatschows Sowjetunion seit längerem erfreulichstes Tauwetter etablierte, frappierende Vorgänge im Zeichen von »Perestroika« und »Glasnost« in uns neue Hoffnung auf Veränderungen im politischen System weckten.

In dieser Zeit begannen dann auch die Massenfluchten, die grotesken Pressefeldzüge, gehäufte Verhaftungen und Anfang des Herbstes schockierte Honecker seine Bürger durch die fatale Mitteilung, er weine den Tausenden, die der DDR eben wieder den Rücken kehrten, keine Träne nach. Es kam der 7. Oktober, der Feiertag zum 40. (und letzten) Jahrestag mit seiner Staatsfeier im Palast der Republik, der gleichzeitig ersten wirklichen Rebellion von frustrierten Demonstranten rund um die Berliner Zionskirche und den berühmten prophetischen Worten Gorbatschows an die Führung der SED, die damals gefallen sein sollen: »Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.« Und nun kommen auch Sie als Quartett einmal ins politische Spiel und werden – ich scherze ein wenig – von Ihrem Leben bestraft, indem man sich einfach gutsherrschaftlich Ihrer Kunst bediente.

FR: Ja, wir sind eingeladen worden, am 3. Oktober bei einer Veranstaltung im Zentralkomitee der SED für verdiente Genossen mitzuwirken, um als junges, frisches Ensemble die Leistungsfähigkeit sozialistischer Musikausbildung, wie es hieß, zu repräsentieren. Wir fanden, dass wir da in eine prekäre Lage geraten könnten, denn angesichts der Besorgnis erregenden, dramatischen Vorgänge ringsum wollten wir nicht die Letzten sein, die da sozusagen auf der Titanic noch kurz vor dem Untergang spielen.

SFO: Es war so eine hausinterne Veranstaltung. Vorn saß das ganze Politbüro mit Honecker, Krenz, Stoph, Sindermann und so weiter. Wir wurden angekündigt: »Und nun, liebe Genossen, lehnt Euch zurück, jetzt kommt das Vogler Quartett, die gerade in der Tschechoslowakei einen Preis gewonnen haben, und sie werden ein Menuett von Haydn spielen.« Das mit dem Preis stimmte, wir siegten bei einem Rundfunkwettbewerb in Prag. Wir hatten gerade zu spielen begonnen, als uns eine erste Störung irritierte. Es knirschte vorn in der ersten Reihe: Armeegeneral Keßler stand auf, er hatte ein Holzbein und schlurfte damit raus und dann wieder rein. Ich habe noch in Erinnerung, wie alt, müde und verbraucht diese ganze Polit-Riege aussah.

Ich nehme an, Sie auftreten zu lassen war dem Hirn von Frau Ragwitz entsprungen – als kleine Gegenleistung für ihre fördernde Hand, zum Beispiel das Votum für die Amerikareise.

FR: Ja, und ich wollte dazu noch sagen, dass wir uns über diese Einladung den Kopf zerbrachen, ob wir annehmen oder unter irgendeinem Vorwand ablehnen sollten. Schließlich fanden wir, dass auf jeden Fall eine kritische Stellungnahme unsere Zusage begleiten müsse, und deshalb schrieben wir einen Brief an Frau Ragwitz (die wir noch nicht persönlich kannten), weil die Einladung aus ihrem Büro gekommen war. Wir haben diesen Brief vollkommen naiv geschrieben, haben unsere Besorgnis über die politische Situation mitgeteilt, unsere Sicht auf die Dinge dargelegt und damit sagen wollen, dass wir uns eben Gedanken machen.

 

SFE: Es ging um die Wahrnehmung der Situation und wie entstellt sie in den Medien behandelt wurde, wenn man sie schon nicht ganz verschweigen konnte, und auch, wie Regierung und Volk immer deutlicher, immer schneller auseinanderdrifteten. Wir fragten, wohin das führen solle, ob wir überhaupt zur Huldigung des Staates noch auftreten könnten. Und unser abwägendes Ja war mit der illusorischen Selbsttäuschung verbunden, dass wir unseren Auftritt als Aufruf zu irgendeiner Neubesinnung, einer Korrektur, einem ehrlichen Dialog mit dem Volk verstanden wissen wollten. (siehe S. 348 f.)

SFO: Diesen Brief haben wir, ehrlich gesagt, mit feuchten Fingern zugeklebt und abgeschickt, weil man auch befürchten musste, dass eine Antwort eventuell das Ende der Quartett-Karriere hätte bedeuten können, zum Beispiel einfach dadurch, dass man die Zusagen zur Verzögerung des Armeedienstes aufhebt und uns zu Soldaten macht. Die Konsequenz des Briefes war also offen, doch wieder einmal schlug sie uns nicht zum Schaden aus.

FR: Wir wurden daraufhin nur – zusammen mit Professor Feltz – zu einer Aussprache bei Frau Ragwitz gebeten. Sie versuchte, unsere Vorbehalte zu beschwichtigen, den Anlass der bevorstehenden Veranstaltung zu erklären, und bat uns, dort keine Protest-Plakate zu entrollen, wovor sie offenbar die meiste Angst hatte. Aber zum Spielen versuchte sie uns durch einen besonderen Knüller zu überreden, der vertraulichen, dahingeflüsterten Mitteilung nämlich, dass sich in Kürze die Verhältnisse grundlegend verändern würden und nach dem Jahrestag Reformen anstünden. Pause. Und dann kam es: »Ich sage euch jetzt mal – Erich Honecker wird abgelöst.« Wir waren in der Tat vollkommen perplex: »Wer kommt denn dann?« – »Egon Krenz.« Ich wollte es nicht glauben: »Krenz? Der ist doch Alkoholiker!« Sie schaute mir ganz tief in die Augen: »Frank – das ist nicht wahr!«

Was für ein ungeheures, unfassbares Übermaß an Vertraulichkeit! Die Nachricht wäre zu diesem Zeitpunkt, Tage vor dem 3. Oktober, so etwas wie eine Weltsensation gewesen, wenn nur einer von Ihnen das einem westlichen Medium damals gesteckt hätte. Eine schöne Headline hätte das geben können: »Vogler Quartett prophezeit Honeckers Sturz«.

TV: Eine gewisse Vertrauensbasis war in der Tat gegeben, jedenfalls von unserer Seite her. Ich konnte sie neben ein paar anderen Funktionären durchaus zu jenen zählen, die unseren Erfolg wohlwollend förderten. Vielleicht sollte man letztlich auch ihren Mann, unseren Hochschulrektor, mit etwas mehr Milde betrachten, obwohl er uns genügend Knüppel vor die Beine geworfen hat – aber vermutlich weniger aus poststalinistischer Gesinnung, eher vielleicht aus Pedanterie gegenüber studentischen Laxheiten und Hochmütigkeiten.

SFO: Während dieser ganzen unruhigen Zeit haben wir natürlich auch unsere Konzertverpflichtungen erfüllt. Wir haben in einer Kirche in Berlin-Oberschöneweide sogar eine CD produziert, die aber nicht erschienen ist, weil auch VEB Deutsche Schallplatten mit seinem Klassik-Label »Eterna« schon bald zusammenbrach. Gerade dabei, aber auch anderweitig, haben wir das erhitzte Klima beobachten können, die massive Präsenz der Polizei, die Zusammenstöße mit Demonstranten, zu denen auch wir selbst gelegentlich gehörten, wenn wir zu Proben gingen oder von dort kamen.

FR: Ich kam von meinen Eltern in Neubrandenburg, wo ich im Westfernsehen mitbekommen hatte, wie die Polizei auf Demonstranten in den Straßen um die Gethsemane-Kirche einknüppelte, und fuhr aus Empörung und Wut unmittelbar zu diesem Ort. Eine Kette aus Kampfgruppen und Polizei sperrte die Straße ab, und ich fuhr direkt auf sie zu, bremste scharf. Man musterte mich in meinem nagelneuen Wartburg, hielt mich, vor allem wegen des Autos, wahrscheinlich für einen Mitarbeiter der Stasi und die Kette öffnete sich, ohne eine einzige Frage oder Kontrolle. Ich war plötzlich mittendrin in der Kampfzone und sah, wie Leute gejagt und auf die Lkws gezerrt wurden – genauso, wie es später in dem Film »Good Bye, Lenin« lebensecht zu sehen war. Am anderen Ende der Straße ließ man mich genauso unbehelligt wieder herausfahren.

SFO: Frank und ich waren auch am 4. November bei der berühmten Großdemonstration auf dem Berliner Alexanderplatz und haben mitdemonstriert für eine wirklich demokratische DDR, für einen sich erneuernden Sozialismus mit menschlichem Antlitz, wie es so hieß. Aber auch hier holten uns die Pflichten ein; wir mussten vom Platz weg ins Auto und sind nach Bayern gefahren, weil wir von dort aus eine bis Ende November dauernde, umfängliche Konzertreise zu absolvieren hatten. So haben wir den Fall der Mauer leider nur per Bildschirm aus der Ferne miterleben können. Es war aber dennoch großartig, nach der Tournee quasi ohne Kontrolle die deutsch-deutsche Grenze passieren zu können.

Mischte sich in die Freude nicht dann und wann auch die bange Frage, wie es unter den abzusehenden, eruptiven Veränderungen mit Ihnen als Quartett weitergehen würde?

SFE: Die Frage stellte sich damals für uns nicht, denn das Erlebnis der Freiheit war erst einmal überwältigend.

Haben Sie diesen vergangenen Jahren eigentlich eine Träne nachgeweint?

TV UND ALLE: Wer wagt darauf eine Antwort?


San Francisco Mai 1989

Im vereinten Deutschland (1990 – 2000)

Konzerte werden in der Regel lange vor ihren Terminen geplant und können daher auch auf die Wechselfälle des Lebens keine Rücksicht nehmen. Sie haben den Mauerfall vor Ort versäumt und die anderen wilden Monate sicher überwiegend aus der Ferne registriert. Die schockierenden Umwälzungen dieser Zeit mögen für Sie auch weniger aufregend gewesen sein als für die große Mehrheit Ihrer Mitbürger: Reisefreiheit hatten Sie, ebenso die begehrte D-Mark. Die neue Demokratie an den Runden Tischen wie die ersten freien Wahlen dürften Sie begrüßt haben, weil auch Ihnen radikale Reformen des polit-bürokratischen Systems am Herzen lagen. Es würde mich eigentlich wundern, wenn Sie den historischen Tag der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten, den 3. Oktober 1990, zu Hause verbracht hätten.

SFO: An diesem Tag haben wir ein Konzert in Tel Aviv gespielt. Wir waren einer Einladung zu zwei Konzerten in der israelischen Hauptstadt gefolgt, wohnten aber in einem Kibbuz. Dort hörten wir ein Konzert des israelischen Armeeorchesters mit Guy Braunstein als Solisten, dem späteren Konzertmeister der Berliner Philharmoniker, der in Stiefeln und Armeeuniform ein Mozart’sches Violinkonzert spielte – mit eigenen Kadenzen, unglaublich delikat und filigran, im Gegensatz zu dem martialischen Outfit des Orchesters. In dem kulturbewussten Kibbuz fand zu dieser Zeit ein kleines Festival statt, bei dem wir dann ein weiteres Konzert gaben. Die Kritik in Tel Aviv nahm kurioserweise Bezug auf den deutschen Feiertag, indem sie bemerkte, wir hätten sehr ernst gewirkt und unsere Freude nicht gezeigt, denn die sei für Deutsche wohl angemessen bei dem besonderen Ereignis der Wiedervereinigung.

SFE: Vielleicht entsprach der Ernst unserer damaligen Stimmung, denn er brachte für das Quartett eine Fülle neuer, offener Fragen.

Hat Sie das Leben im Kibbuz eventuell an etwas erinnert, das zu Hause gerade zu Grabe getragen worden war?

TV: Ja, wir hatten dort in gewisser Weise das Gefühl, in der DDR zu sein. Es herrschte der gleiche Ton, den wir kannten, stolz und euphorisch wurde uns erzählt, dass keinem etwas gehört, es also kein Eigentum gibt, dass Kinder in speziellen Einrichtungen mit Internat kollektivistisch erzogen werden – alles Grundstrukturen, die stark sozialistisch geprägt waren. Erzählt wurde mit leuchtenden Augen! Und das zu uns, die nur immer dachten: Wir wissen, dass so etwas nicht wirklich funktioniert.

FR: Andererseits waren wir insgesamt drei Mal in Israel und von vielen anderen Dingen stark beeindruckt. Dazu gehört die Spielkultur des Israel Philharmonic Orchestra, dem wir zuhören durften. Beeindruckend, wenn zu Beginn des Konzerts alle aufstehen und der schwungvollen Nationalhymne lauschen.

SFE: Sie war das Beste am ganzen Abend!

Mit Israel haben Sie nach den USA zum zweiten Mal die Grenzen Europas hinter sich gelassen. Später werden Sie noch mit Japan und Australien weitere Kontinente betreten, so dass Ihre weltweite Präsenz beinahe zu einem Gleichnis jener grenzenlosen Freiheiten und Globalisierungstendenzen auch im Bereich der Kultur taugt, von denen man sich, zumal im gewendeten Osten, zu Beginn der neunziger Jahre das »Ende der Geschichte« und den Ausbruch ewigen Friedens und Wohlstands erhoffte. Unweigerlich gehört der Zusammenbruch der Sowjetunion in dieses Szenario, und so frage ich Sie – an Amerika erinnernd – nach Ihren Eindrücken vom anderen Großreich, das vor allem den Krieg gegen Hitler gewonnen hat. Sie werden sicherlich auch beim ehemals »Großen Bruder« der DDR und später beim so außerordentlich musikliebenden Volk der Russen häufig gastiert haben.

SFO: Wir waren vor der Wende als Quartett im Rahmen eines Studentenaustauschs zu Besuch beim Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium. Das war 1985. Dann noch einmal 1988 im Dezember aus Anlass des Treffens der künstlerischen Jugend der sozialistischen Länder.

Ich nehme an, Sie reisten nicht allein, sondern als Angebotspaket mit Vertretern aller ernsten und leichten Musen.

SFO: Wir waren Teil einer großen Delegation unter Leitung des damaligen Stellvertretenden Kulturministers Dietmar Keller. Wir sollten im »Rossija« in der Nähe des Roten Platzes auftreten, im damals größten europäischen Hotel mit einem Festsaal für ca. 3000 Besucher. In staubtrockener Akustik – schlimmer als in einer Besenkammer – sollten wir den zweiten Satz, die Variationen über »Der Tod und das Mädchen«, aus dem d-moll-Streichquartett von Franz Schubert spielen, und zwar unmittelbar nach einer Balalaika-Gruppe und vor einem Tanz-Ensemble aus dem Kaukasus. Wir haben uns zu spielen geweigert, weil ein Auftritt, bei dem man uns kaum hören würde, zumal zwischen weit derberer Kost, für niemand Sinn macht. Und der Minister, statt bürokratisch zu toben, hat unseren Gründen schließlich zugestimmt, wir mussten nicht spielen, durften aber eine Woche touristisch entspannt genießen.

TV: Das Ganze war ohnehin eine Farce, weil auch Treffen mit anderen Jugendlichen gar nicht vorgesehen waren. Wir waren isoliert, haben den Kreml, Klöster, das Bolschoi und andere Highlights besichtigt, hatten aber keine einzige Begegnung mit russischen oder anderen ausländischen Künstlern. Stattdessen fanden inoffizielle Essen mit russischen Gastgebern statt, bei denen wir deren ausufernde Trinkkultur studieren konnten und lange Toasts von kaukasischer oder georgischer Seite, sogar auf Stalin und Hitler, aushalten mussten. Es war alles in allem grotesk und wohl unsere einzige Konzertreise ohne Konzert, als staatlich finanziertes Nichtstun wider Willen.

In Ihrer offiziellen Quartett-Biographie geben Sie neben Professor Feltz und dem LaSalle Quartet noch zwei ungarische Künstler als Mentoren an: Der eine ist der legendäre Dirigent und Geiger Sándor Végh, ein Schüler Jenő Hubays und Freund Béla Bartóks, der ein nach ihm benanntes, berühmtes Streichquartett gegründet hat und mit ihm als Emigrant ab 1946 von Paris aus international konzertierte. Es galt rasch als eines der weltbesten Ensembles, das, romantische Attitüden hinter sich lassend, empathische Musikalität mit höchster, sachlicher Werktreue verband.

SFO: Wir hatten eine Einladung zur Teilnahme am Internationalen Meisterkurs »Prussia Cove« in Cornwall (England). Sándor Végh war dessen Begründer und veranstaltete dort bis ins hohe Alter Meisterklassen für Kammermusikspiel. Eine Einladung dorthin zu erhalten bedeutete eine wirkliche Auszeichnung, und ihr zu folgen war Ehrensache. Die Teilnahme am Kurs war für uns eine äußerst spannende Erfahrung – nicht nur durch das Erlebnis der Aura einer legendären Berühmtheit für unser Fach, sondern mehr noch durch die Befriedigung, authentische Überlieferungen aus einem riesigen Erfahrungsschatz vermittelt zu bekommen. Wie er uns namentlich in Bartóks 6. Streichquartett unterrichtet hat, ist mir unvergesslich. Übrigens saß hinter Végh wie ein Eleve stets der junge András Schiff und folgte jeder Regung des Meisters. Ich glaube, dass er eine Art Protokoll geführt hat – wie man sagt, eine sehr ungarische Tradition der Wissensvermittlung, die viel für sich hat.

 

TV: Auf Sándor Végh müssen wir offensichtlich – wir schrieben 1988 – wie verschüchterte Mäuschen aus dem Osten gewirkt haben (was wir damals sicherlich auch waren), denn als Resumee des Kurses hat er uns, natürlich neben anderem, eindrücklich ans Herz gelegt: »Ihr seid ein gutes Quartett, aber ihr müsst viel und gut reisen und die Welt kennenlernen.«

SFO: Ich glaube, eine ganz andersartige, jedoch ebenfalls unvergessliche Erinnerung ist noch mit dem Seminar verknüpft. Ein ziemlicher Schock. Wir waren gebeten worden, in einem der Konzerte in der Umgebung ein Haydn-Quartett zu spielen. Wir fuhren etwa eine Stunde mit dem Bus, zuvor aber hatte ich meine Noten in Franks Geigenkasten gelegt, ohne ihm das zu sagen. Bevor wir losfuhren, sah er flüchtig in den Kasten, Haydn war da, nur eben nicht seine, sondern meine Stimme. Als wir auf das Podium wollten, stellte er mit Erschrecken fest, dass seine Noten fehlten. Es gab keine Chance, sie zu beschaffen – der Weg war zu weit, es gab noch kein Internet. Was hat er gemacht? Er hat zum Schein für das Publikum andere Noten aufgelegt und das gesamte Haydn-Quartett von vorn bis hinten ohne einen Fehler auswendig gespielt.

TV: Ich war furchtbar aufgeregt. Er sah käsebleich aus, war jedoch relativ ruhig. Ich merkte, dass er etwas zurückhaltender, ein wenig fragiler als sonst spielte, obwohl er musikalisch alles mitmachte, was interpretatorisch anstand. Ich dachte immer, wenn er jetzt aufhört …, also es war unvorstellbar, was so alles hätte passieren können! Aber es ging gut.

Eine kolossale Gedächtnisleistung, von der er offenbar selbst nichts geahnt hat. Würden Sie anderen das auch können?

SFO: Ich glaube, keiner von uns, ausgeschlossen! Ich hätte diese Nerven nicht gehabt, aber Frank hat in einem ähnlichen späteren Fall in England, bei einem anderen Haydn-Quartett, noch einmal auswendig spielen müssen. Ich habe für so etwas große Bewunderung. Chapeau!

Der andere für Sie wichtige Ungar war der Komponist György Kurtág, der zusammen mit Béla Bartók und György Ligeti die berühmte magyarische Trias in der Geschichte der neuen, avancierten Musik bildet. Ihnen ist er jedoch nicht in erster Linie komponierend nahegekommen, sondern auf einem zweiten Tätigkeitsfeld, das mit seiner langjährigen Professur für Klavier und Kammermusik an der Budapester Musikakademie verbunden ist – bei seinen sommerlichen Meisterkursen für Kammermusik in Szombathely, einer mittleren Stadt in Westungarn nahe Österreich.

SFO: Meine Frau kannte Kurtág von diesem Sommerkurs und hat immer schon von ihm geschwärmt. Als wir 1992 zum Kammermusikfestival ins finnische Kuhmo kamen, war auch Kurtág dort, und ich habe ihn angesprochen. Er war bereit, sich Schuberts G-Dur-Quartett anzuhören. Nach einigen Schwierigkeiten gab es einen Termin mit ihm als einzigem Hörer, und zu unserer Verblüffung (es ging die Fama, dass man über 2, 3, 4 Takte gar nicht hinauskommt) ließ er sich das ganze Werk vorspielen – mit der Bemerkung, er hätte es eben das erste Mal live gehört, obwohl er es kannte wie seine Westentasche.

TV: Er hat sich höflichst bedankt für die Darbietung, so dass wir der Meinung waren, er findet unser Spiel sehr gut. Wir fanden uns gar nicht so großartig, wussten aber noch nicht, dass er das Stück sehr gut kannte. Wir haben ihn unterschätzt und waren dann erstaunt, dass er intensiv mit uns zu arbeiten begann.

SFO: Interessant fand ich, dass er auch aus der Perspektive des Komponisten Kurtág den Komponisten Schubert analysierte und uns das, am Klavier spielend, in gedrängter, aber packender Form demonstrierte.

TV: Ihm ging es darum, dass wir erst einmal genau hinhören, dann das Gehörte durchleben und schließlich das Gehörte und Durchlebte instrumental so umsetzen, dass die komponierten Absichten deutlich werden. Er arbeitet ganz intensiv am Klang. Wenn er am Klavier einen Akkord vorspielt, kann der etwas ganz anderes sein, als wenn wir selbst drei Tasten gleichzeitig drücken, um ihn hervorzubringen: irgendwie – in Anführungsstrichen – ein erfüllter, lebendiger, atmender Klang … Bei Schubert gibt es lange Pianissimo-Passagen, etwa beim zweiten Thema im ersten Satz mit kleinsten Akzenten, wo er uns abverlangte, sie trotzdem mit voller Intensität und Wärme zu gestalten. Dass dieser schmale, eher etwas durchscheinende und ein bisschen nervöse Mann keinen akademischen, sondern einen extrem lustvollen Ansatz zum Musizieren hat – und auch uns diesen sinnlichen Zugang körperlich abverlangte, fand ich besonders frappierend und beeindruckend.

Gab es mit Kurtág nur diese eine Begegnung?

TV: Nein, er kam wenig später, 1993/94, für zwei Jahre nach Berlin zum Wissenschaftskolleg, um als »Composer in Residence« bei den Berliner Philharmonikern zu arbeiten. Da haben wir ihn regelmäßig aufgesucht und eine ganze Menge Stücke mit ihm studiert, vor allem große Literatur wie Beethovens op. 127, Quartette von Schumann, das Klarinetten-Quintett von Brahms und anderes – unentgeltlich, weil er meinte, wir gehören doch »zur Familie«, also zu denen, die sich um ihn scharen, um die Geheimnisse großer Kammermusik von ihm zu erfahren und mit ihm zu teilen.

FR: Er war im Übrigen kein großer Kommunikator, immer ins Komponieren versunken, deshalb war es nicht leicht, außerhalb der professionellen Stunden des Unterrichts Kontakt mit ihm zu knüpfen. Als ich ihn einmal mit dem Auto zu seiner Wohnung mitnahm, war es kaum zu glauben, dass der gleiche Mensch, der uns eben noch lebhaft belehrt hat, in totales Schweigen verfiel. Ich wollte es mit etwas Smalltalk versuchen und fragte, ob er Kinder habe. »Ja«, und damit war Schluss.

Um auf Sándor Véghs Reiseempfehlung zurückzukommen, so trat er ja gerade bei Ihnen offene Türen ein. Durch die Welt sind Sie vor wie nach der Wende eigentlich immer gekommen, aber es fragt sich jetzt, ob Sie im Ausland nun anders wahrgenommen wurden als zuvor, zum Beispiel ohne den gewissen Exotenstatus, der uns Ostdeutschen als gutgemeinte Attitüde zugedacht wurde.

TV: Natürlich bestand bei vielen Kollegen und Veranstaltern in der Regel ein lebhaftes Interesse an authentischen Berichten aus jener anderen Welt, die vielen Westdeutschen als sehr befremdlich erschien. Diese Neugier nahm enorm zu, als die Mauer gefallen war und sich in der anschließenden turbulenten Zeit abzeichnete, dass die DDR historisch abdanken und sich beide deutsche Staaten vereinigen würden. In gleicher Weise verschwand allmählich aber auch dieser besondere Bonus, den wir aufgrund unserer Herkunft einige Jahre hatten. In Frankreich sind wir immer auf ein starkes Interesse an den Vorgängen hinter dem Eisernen Vorhang gestoßen, vielleicht auch deswegen, weil aus der DDR ganz selten Gäste aus der Kunstszene kamen – im Gegensatz zu jungen russischen, polnischen, ungarischen oder sogar chinesischen Musikern, die dort schon früher und häufiger anzutreffen waren.

FR: Die Exotenrolle als DDR-Bürger konnte durchaus auch groteske Situationen hervorrufen. Betuchte Frauen aus Konzertvereinen, in Neuss zum Beispiel, luden uns nach dem Auftritt in ihre schicken Häuser ein und wollten uns zeigen, wie das gute, freie Leben so läuft. Obwohl wir auch mal ausschlafen wollten, standen sie am nächsten Morgen um 9 Uhr bereit, um nach Düsseldorf zu fahren und uns auf der Kö ihr Konsumparadies vorzuführen. »Und wenn ihr nach Hause fahrt, geben wir euch Schokolade und Kaffee mit!« Eine Bonner Familie kam nach der Wende immer wieder in den Osten und bot mir sogar an, die Renovierung meiner Wohnung zu bezahlen – aus reiner Euphorie über die kommende Wiedervereinigung. Sie begrüßten auch im Gegensatz zu vielen Bonnern den Beschluss über Berlin als Hauptstadt: »Berlin liegt ja genau in der Mitte«. Für die gehörten Ostpreußen, Ostpommern und Schlesien immer noch zu Deutschland!