Eine Welt auf sechzehn Saiten

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Ich gehe davon aus, dass die Künstleragentur der DDR auch Sie managte, da es ja überhaupt nur diese eine Vermittlungsstelle für Auslandsgastspiele gab, die auch die leidigen Pass- und Visa-Angelegenheiten zu regeln hatte.

TV: Sie hat die Einladungen aus dem Westen für uns bekommen, bearbeitet und mit uns abgestimmt. Ihre Arbeit unterschied sich nicht sehr von heutigen, privaten Konzertagenturen. Sie haben für uns Verträge gemacht, die im Prinzip sauber ausgehandelt waren, einschließlich der fälligen Provisionen. Es gingen 20 % an Provision ab, weitere 30 % mussten im Falle von Deviseneinkünften in Mark der DDR umgetauscht werden, den Rest hatte man in Originalwährung für sich. Nach der Wende 1989 reduzierten sich sowohl die Provision als auch der dazugehörige Zwangsumtausch auf je 12,5 %. Innerhalb des Systems der DDR konnten wir uns damit als privilegiert und sogar als reich betrachten.

SFO: Es gab die kurios-angenehme Praxis vonseiten des Innerdeutschen Ministeriums in Bonn, automatisch jedes Konzert eines ostdeutschen Musikers oder einer Musikergruppe mit 1000 DM zu bezuschussen. Ein schöner Wettbewerbsvorteil – denn uns einzuladen kam jeden Veranstalter um 1000 DM günstiger!

Für Leser, die mit den Lebens-Usancen in der DDR nicht vertraut sind, sollte einmal gesagt werden, was man dort mit diesem sogenannten Westgeld anfangen konnte, obwohl es ja keineswegs offizielles Zahlungsmittel war.

TV: Es war in der DDR außerhalb der sogenannten Intershops für Waren aus dem westlichen Ausland eigentlich nicht erlaubt, bares Westgeld als Zahlungsmittel zu verwenden. Man durfte das offiziell verdiente Westgeld nur auf einem Konto der Staatsbank der DDR haben und in Form von sogenannten Forumschecks wieder abheben. Forumschecks – das war eine Ersatzwährung, die eins zu eins zur D-Mark stand und mit der man im Intershop einkaufen konnte. Alles andere war im Prinzip illegal, aber es hat nie jemand auch wirklich kontrolliert, ob man Bares besaß und damit einkaufte, weil man es eben auch nahm. Der Staat war scharf auf jede Mark, in welcher Form auch immer! Und es war ein Widerspruch bis zum Nonsens, dass die Künstleragentur nie danach fragte, wie wir das handhabten. Natürlich brachten wir Bares über die Grenze mit nach Hause und hätten, entsprechende Summen vorausgesetzt, sogar Immobilien oder Autos en masse erwerben können – von Handwerker-Leistungen ganz zu schweigen, die man am Ende oft nur noch über bares Westgeld bekam.

Ich nehme an, dass Ihnen das Ausmaß Ihrer Privilegierung durchaus bewusst war. Das mag in vielerlei Hinsicht angenehm gewesen sein, gab es aber nicht auch Probleme, sie Ihrer Mitwelt plausibel zu machen?

SFO: Ja, das war durchaus der Fall. Wenn wir zu Hause oder im Kreis von Freunden von unseren Westreisen berichteten, gab es als Reaktion oft nur lange Gesichter. Auch meine Freundin war irgendwann erschöpft von der Begeisterung über das, was nicht sie, sondern der Partner erleben durfte. Also lernte man, seinen Überschwang zu dämpfen und zu kontrollieren, was man wie erzählt oder vielleicht gar nicht.

FR: Bei mir war das ähnlich. Natürlich freuten sich meine Familie, meine Eltern und mein Bruder ganz prinzipiell darüber, dass einer aus der Familie es geschafft hatte, die Verhältnisse sozusagen zu überlisten und mit zwei einander feindlich gesinnten Systemen zu leben. Doch wenn man in Erzählungen zu ausführlich, zu detailliert die andere Seite ins Paradiesische steigerte, verrieten die Augen eine Art Unbehagen und Missmut, die zur Rücksicht auf die Zurückgebliebenen ermahnte. Wir hatten im Dienstpass ein Dauervisum, mit dem man praktisch jeden Tag nach Westberlin fahren konnte. Ich bin aus Neugier eine Zeitlang – ohne Geige – fast jeden Abend zu einem Freund gefahren. Wir sind ins Kino, in die Philharmonie, den Tiergarten oder eine Kneipe gegangen. Solche Erlebnisse auf der falschen Seite der Mauer konnte man daheim wirklich niemandem erzählen!

TV: Wir standen permanent mit einem Bein im Osten und mit dem anderen im Westen und lebten mit zwei Währungen, die offiziell nicht kompatibel, aber in Phantasiegrößen illegal zu wechseln waren – was das Leben zu Hause noch einmal um vieles preiswerter für uns machte. Solche Privilegien (mit ungewollten Nebeneffekten) gewährte die DDR einer gewissen exklusiven Schicht von Künstlern und Wissenschaftlern, weil sie einerseits hoffte, dadurch deren Laune zu heben und den stets zu befürchtenden Weggang nach dem Westen zu minimieren. Andererseits wollte sie als ein weltoffener Kulturstaat gelten, der natürlich, wenn auch nur auf dem Papier, die Freiheit der Kunst anerkannte und die Freizügigkeit im Umgang mit den Künstlern, wenn auch strikt auf Spitzenkräfte beschränkt, damit unter Beweis stellte. Diese Art eines der Umwelt gegenüber etwas entfremdeten Lebens schweißte jedoch das ohnehin durch die Arbeit und das Reisen geförderte Gefühl von uns vieren als einer verschworenen Gemeinschaft noch enger zusammen; rückhaltlos über alles sprechen konnten wir ohnehin nur in unserem eigenen Kreis.

Gab es seitens der Agentur bei der Auswahl ihrer Engagements politisch begründete Bevorzugungen oder Vermeidungen einzelner Weltreligionen und gab es namentlich irgendeinen Proporz im Verhältnis von in- und ausländischer Präsenz?

SFO: Nicht dass ich wüsste. Wir haben überall in Europa und ab 1989 sogar in Amerika dort spielen können, wohin man uns eingeladen hatte. Für andere Sparten gab es möglicherweise Auftrittsbeschränkungen für die Bundesrepublik und noch stärker für Westberlin, aber für uns nicht. Wir haben auch in Westberlin gespielt, sogar Konzerte, die vom Sender Freies Berlin live übertragen worden sind, und wir haben in diesem Sender auch Aufnahmen produzieren können. Dort hat uns mal eine Journalistin anlässlich eines Interviews gefragt, ob wir ein freies Quartett seien. Sie meinte das im Hinblick auf den rechtlichen Status freischaffender Künstler, aber Frank hatte sofort mit süffisantem Bezug auf die politische Dimension die Gegenfrage parat: »Wie meinen Sie das – frei?«

TV: Innerhalb der DDR haben wir natürlich auch gespielt. Da gab es die Konzert- und Gastspieldirektion, das Inlands-Pendant zur staatlichen Künstleragentur. Sie vermittelte Auftritte in großen und kleinen Städten, oft hießen die Formate »Stunde der Musik«. Wir traten dort auf mit schönen, aber manchmal auch kuriosen Erlebnissen. Einmal sind wir nach Grimmen in Mecklenburg-Vorpommern gefahren, wo ein kleiner Saal mit nur 15 Plätzen so ärmlich gefüllt war, dass genau so viele Stühle besetzt waren, wie Musiker auf dem Podium saßen. Vier vereinzelt sitzende Leute gegen eine musizierende Viererbande, das hätte eine theatralische Performance à la John Cage werden können, mit gegenseitigen kommunikativen Verlautbarungen oder Verstörungen, wenn nur dieses Rumpf-Publikum nicht so total verschüchtert dagesessen hätte und wir nicht so frustriert gewesen wären.

Wie haben Sie eigentlich die oft erheblichen Strecken bewältigt, die zwischen Berlin, Ihrem Wohnort, und den Orten Ihrer Konzerte liegen? Flugzeug? Eisenbahn? Autos?

TV: Alles, aber vor allem: Wir hatten ein gemeinsames Auto! Die DDR baute zwar selbst Autos, aber man musste auf sie, je nach Typus, zehn, zwölf oder mehr Jahre warten. Bei uns sah es nach dem Studium so aus: Wir hatten alle die Fahrprüfung gemacht, aber wir besaßen, mit Ausnahme von Frank, keinen fahrbaren Untersatz. Die Lösung bestand wiederum in einem Privileg: einige Auserwählte in der Kunst und in anderen Bereichen konnten, wenn sie zahlungsfähig waren, einen Westwagen bekommen. Wir erfuhren, dass der Dresdner Startrompeter Ludwig Güttler so etwas vermitteln könne (siehe S. 350 f.). Wir nahmen Kontakt mit ihm auf, und es stellte sich heraus, dass er tatsächlich etwas Passendes in Frankfurt / Main zu stehen hatte, einen Opel Senator mit Drei-Liter-Maschine, wunderbarer Reisewagen mit Vollausstattung. Der Deal musste zunächst beim Ministerium beantragt werden, und da unsere Gründe offensichtlich stichhaltig klangen, wurde nach monatelangem Warten, wieder ausnahmsweise, die Einfuhr eines Autos aus dem sogenannten nichtsozialistischen Währungsgebiet genehmigt. Zwei Bedingungen gab es: erstens Hinterlegung des Kaufpreises auf einem Konto der Staatsbank der DDR (was die Einzahlung der Summe in D-Mark bedeutete) und zweitens Vorlage des Fahrzeugbriefes im Original.

Was ja vollkommen verquer ist, denn Westgeld gab es doch als offizielles Zahlungsmittel eigentlich gar nicht.

TV: Eben, aber das war der Knackpunkt – vielleicht von uns ein Missverständnis damals –, dass wir im Prinzip ein Konto brauchten, um den Kaufpreis zu hinterlegen, und zusätzlich die gleiche Summe ein zweites Mal in bar, um das Auto zu kaufen und den Fahrzeugbrief zu bekommen. Den Kauf für 16.000 DM besorgte uns Ludwig Güttler mit einem Vorschuss, die gleiche Summe zahlten wir aus unserem eigenen Kapital in der Staatsbank der DDR ein, zuzüglich eines Zolls für den Gebrauchtwagen in Höhe von 18.000 Mark der DDR. Ich eröffnete also ein Valuta-Konto und zählte das Westgeld in baren Tausendern von unseren mitgebrachten Gagen auf den Banktresen – umringt von neugierigen Leuten, die in der Schlange standen, um polnische Zloty oder ungarische Forint einzutauschen und sich wohl argwöhnisch wunderten, wie reich manche Leute mit fremder Währung werden konnten. Jedoch kam der wirklich schwierige Punkt erst, als ich später das Geld wieder einlösen wollte, um unsere Schuld bei Güttler abzutragen. Das aber war überraschenderweise trotz der Genehmigung zur Wageneinfuhr nur entweder eins zu eins in DDR-Mark oder in Forumschecks für die Intershops möglich. Großer Schreck und erneute Eingabe, ganz nach oben, erneutes langes Warten, endlich auch diesmal ausnahmsweise Genehmigung! Wieder in der Bank ein quasi öffentlicher Vorgang vor Publikum, und ich vergesse weder die kalte Wut des Beamten, mit der er mir den Packen Westgeld auf den Tresen knallte, noch die an Lynchjustiz grenzende aufgereizte Stimmung der zuschauenden Menge, die nach solchen Summen baren Sehnsuchtsgeldes nur mit Erbitterung lechzen konnte. Auch Güttler war not amused, so lange auf sein Geld warten zu müssen, und beschied uns mit dem Wink: »Ihr Idioten, warum habt ihr das Geld überhaupt eingezahlt!«

 

Wohin ging die erste Fahrt?

FR: Nach Roussillon in Südfrankreich. Den Wagen haben wir in Hofheim am Taunus, wo er stand, erst ausgiebig bestaunt und dann zur Jungfernfahrt bestiegen. Ich hatte mit meinem Trabant die meiste Fahrerfahrung und durfte deshalb einen ersten Streckenabschnitt bewältigen. Danach wurde in genau gleichen Zeitabständen gewechselt, und gemeinsam drehten sich bei jedem Spurenwechsel die Köpfe in die gleiche Richtung nach hinten. Wir wollten nicht schneller als 130 km/h fahren, aber es wurden in diesem neuartigen Freiheitsrausch auch schon mal 200 km/h. Es war, die Musik nicht gerechnet, eine bis heute unvergessene Geschichte, die viel über DDR-Mentalität, auch unsere damals noch jugendliche, erzählt.

Roussillon 1987

Westberlin Mai 1986, mit vom Preisgeld in Evian erstandenen Hifi-Anlagen

Ende mit Wende (1989/90)

Zu den Gaben des Staates an begabte Nachwuchskünstler gehörten besondere Stipendien mit der Absicht, herausragende Leistungen zu prämieren und zu stimulieren. Man sollte aber dazu wissen, dass jeder Student in der DDR ein Grundstipendium bekam – es belief sich auf 210 Ostmark pro Monat und garantierte angesichts spottbilliger Mieten und niedriger Lebensmittelpreise ein im Grunde sorgenfreies Auskommen. Wie verhielt es sich mit dem Leistungsstipendium, das Sie zusätzlich zum normalen erhielten?

TV: Es wurde uns als Auszeichnung für den gewonnenen Wettbewerb in Evian zugesprochen, so wie jedem Preisträger eines internationalen Wettbewerbs. Dieses »Mendelssohn-Stipendium« belief sich auf über 400 Mark im Monat und ergab zusammen mit dem Grundstipendium fast das durchschnittliche Nettoeinkommen eines normalen Arbeiters oder Angestellten. Es war mehr als genug, wenn man noch die Preisgelder selbst und die laufenden Konzertgagen in Ost und West hinzurechnete. Als wir uns nach der Verleihungs-Zeremonie zur ersten Quartett-Probe wiedersahen, meinte einer von uns, wir sollten doch alle einmal unsere Konten beschauen. Zu unserer großen Verblüffung war der monatliche Betrag doppelt überwiesen worden, einmal vom Ministerium für Kultur, ein zweites Mal von unserer Musikhochschule, offenbar ohne voneinander zu wissen. Wir warteten noch den nächsten Monat ab – wieder doppelte Zahlung –, und wahrscheinlich wäre das endlos so weitergegangen, wenn nicht protestantisch-preußisches Pflichtbewusstsein und eine anerzogene Ehrlichkeit uns dazu angehalten hätten, davon Meldung zu machen. Im Gegensatz zu einigen anderen uns damals bekannten Fällen, wo man die Sache weiterlaufen ließ. Ohne Dank oder anderen Kommentar blieb es bei uns dann bei nur einer Zahlung.

FR: Hm … wir dachten aber, dass die Stasi unsere Ehrlichkeit testen wollte, haben ausführlich darüber beraten und kamen zu dem Schluss, dass man dies als Einzelstipendiat vielleicht noch »übersehen« haben könnte, wenn es auffliegt, nicht aber zu viert. Also haben wir es gemeldet, denn das konnte ja nur ein Test sein. Wir fanden später heraus, dass es schon jahrelang bei allen Stipendiaten so gelaufen war.

In gewisser Weise waren die Vorzüge Ihres Lebens in der DDR-Hauptstadt eine kleine Kompensation für die enormen Anstrengungen, die Sie auf sich nahmen, um als Berufsquartett zu bestehen. Ich denke dabei gar nicht in erster Linie an die Strapazen des Reisens oder die unerhörte Konzentration, die ein Konzertabend abverlangt. Sie waren von Evian de facto mit vier geprobten Stücken zurückgekommen und brauchten doch erst noch ein Repertoire, mit dem Sie professionell konzertieren konnten. Also müssen Sie in den ersten Jahren eigentlich ununterbrochen neue Werke einstudiert haben. Wo ist das geschehen?

SFO: Geprobt haben wir in der Regel bei meinem Vater in Berlin-Weißensee, der als Bischof eine Dienstwohnung hatte. Sie lag in einem enggeschossigen, langgestreckten Gebäude, das eher einer Baracke ähnelte. Innen sah es aus wie ein DDR-Neubau, mit relativ niedrigen Decken, aber auch einer ganzen Menge mehr oder weniger großer Räume. Eines der Wohnzimmer bot ausreichend Platz für uns – darin konnten wir bis spätabends üben, so oft und so lange wir wollten. Direkt daneben lag das Arbeitszimmer meines Vaters, der nach dem Tod meiner Mutter 1987 diese menschlich-akustische Belebung wohl nicht ungern sah und sie sogar einmal kurioserweise quasi dienstlich zu nutzen wusste. Als er einen Routinebesuch vom Ständigen Vertreter der Bundesrepublik bekam – es war damals Hans Otto Bräutigam –, bat er uns, irgendetwas Kräftiges und Lautes zu spielen, damit eventuell mitlauschende Sicherheitsbehörden größere Schwierigkeiten hätten, die Gespräche der beiden zu verstehen.

Ist das eine Vermutung oder wart Ihr tatsächlich verwanzt?

SFO: Wir wohnten Parkstraße 21 in direkter Nachbarschaft zur Parkstraße 22, in der die SED-Kreisleitung beheimatet war. Man hätte mit einem Richtmikrofon direkt auf unsere Fenster zielen können. Aber ich bin dem niemals nachgegangen.

FR: Aber ja, ihr wart verwanzt, ich erinnere mich. Da keiner von uns ein Telefon zu Hause hatte, bat ich einmal für einen dringenden Anruf um Benutzung des Diensttelefons im Büro deines Vaters. Als ich meine Nummer gewählt hatte, knackte es kurz in der Leitung und eine Stimme sagte – sie klang wie von nebenan: »Legen Sie bitte auf und wählen Sie noch einmal neu.« Da hatte sich einer verstöpselt, und erst beim zweiten Versuch klappte die Verbindung. Ein klarer Fall.

SFO: Im Grunde hat sich an der Proben-Lokalität bis heute wenig geändert, denn ich wohne wieder in der Parkstraße, allerdings in einem anderen Haus. Dort haben wir einen Probenkeller, der sehr geräumig und perfekt ausgestattet ist. Den nutzen wir, sooft es nötig ist. Wenn es zwischenzeitlich nicht möglich war, zu Hause zu üben, konnten wir manchmal, aber nicht sehr oft, in die Musikhochschule gehen; zumeist aber haben wir dann in der Stephanus-Stiftung in Weißensee proben können und die Miete in Form eines jährlichen Konzerts entrichtet. Diese kirchliche Stiftung, ein Pflegeheim für Senioren, ist nach der Wende stark umgebaut worden; Baulärm und Presslufthämmer haben uns nicht abhalten können, sie mit Klängen neuer Musik zu kontern, aber es war für uns damals eine ganze Zeit lang eine extrem stressige Situation.

Sie mussten sich, um konzertieren zu können, die Quartett-Literatur gleichsam von null auf hundert aneignen. Was und wie haben Sie geprobt?

TV: In der Tat hat uns Evian mit vier Stücken entlassen, es kamen noch ein Mozart und ein Beethoven dazu, die wir auch geprobt und als eine Art Reserve im Gepäck hatten. Ein viel zu kleiner Grundstock für eine Konzert-Karriere! Uns ist dann aber das ein Jahr währende, schikanöse Reiseverbot während des Studiums in gewisser Weise zum Vorteil ausgeschlagen, denn in dieser Zeit konnten wir uns nun erst einmal eine Reihe neuer Werke erarbeiten. Dennoch standen wir vor der veränderten Situation, dass der Mentor, Professor Feltz, der die Stücke für Evian intensiv mit uns erarbeitet hatte, danach nicht mehr in gleicher Weise zur Verfügung stand und wir gewissermaßen allein auf uns gestellt waren. Wir empfanden das, namentlich im Hinblick auf die großen, vielgespielten, aber schwer zu realisierenden Brocken wie etwa Schuberts »Der Tod und das Mädchen«, als eine ziemlich riskante Situation für uns Neulinge. Natürlich haben wir zur Kontrolle die Stücke hin und wieder Herrn Feltz oder auch meinem Vater einmal vorgespielt, um sicher zu sein, dass wir in der Stilistik der Interpretationen nicht ganz danebengegriffen hatten. Aber die eigentliche formale, inhaltliche, dramaturgische Durchdringung der Werke, auch die technischen Festlegungen vom Tempo über Dynamik und Agogik bis zum Bogenstrich, das alles musste nun überwiegend im internen Dialog unter uns vieren überlegt und festgelegt werden. Damals war es so, dass wir gegenüber den Veranstaltern meist selbst bestimmen konnten, wie unser Konzertabend aussehen soll, das heißt, es konnten die Stücke sein, bei denen wir uns besonders wohl fühlten, weil sie hinlänglich geprobt waren. Darunter befand sich stets ein Werk der neuen Musik, für die wir uns durch den Sieg in Evian mit dem Stück von Ligeti besonders prädestiniert fühlten – eines unserer Markenzeichen eigentlich bis heute.

SFO: Ich muss hier nicht gerade widersprechen, aber so ganz ohne erfahrene Anleitung waren wir dann doch nicht, und zwar auch über Professor Feltz und deinen Vater hinaus. Zum Beispiel haben wir direkt nach Evian eine Einladung vom LaSalle Quartet zu ihrem Meisterkurs nach Basel bekommen, wo wir ganz intensiv Haydns op. 20/4 und Beethovens »Große Fuge« erarbeiteten. Sie legten uns nahe, unbedingt die Quartette der Zweiten Wiener Schule zu studieren – was wir auch getan und später mit ihnen gemeinsam geprobt haben. Wir besuchten auch andere Kurse wie etwa das Orlando Festival in Kerkrade (Holland), wo wir durch Kontakte und Fachgespräche mit András Mihály, Arnold Steinhardt oder Sándor Végh durchaus viel gelernt haben.

Wir lernen Eberhard Feltz in den biographischen Monologen ausführlich als charismatischen Hauptfachlehrer für Violine kennen, an dieser Stelle sollten wir aber noch detaillierter etwas über seine Rolle als Mentor des Quartetts erfahren.

TV: Er war auch in der Quartettarbeit eine wirkliche Koryphäe und verstand es, mit uns wie ein Dirigent Partituren zu erarbeiten. Er studierte sie so lange, bis sie in Bezug auf Architektur, Harmonik, Polyphonie und auf das Verhältnis von Haupt- und Nebenstimmen vollständig transparent wurden. Er war ein Meister in ihrer psychologischen Ausdeutung, indem er quasi jeder Stelle einen inhaltlichen Sinn gab, der auch mit der formalen Position innerhalb des Ganzen korrespondierte und übereinstimmte. Dadurch hatten wir einen Wettbewerbs-Vorteil gegenüber anderen Gruppen, die vielleicht nicht weniger gut gespielt haben, denen aber, wie soll ich sagen, ein solches visionäres Konzept fehlte, das bei uns stets auch beim Spielen durch die Zusammenarbeit mit Feltz im Hinterkopf präsent war.

Sie haben also die Stücke erst einmal für sich bis zu einer gewissen technischen Reife geübt und sie ihm dann vorgetragen, um das Resultat gemeinsam zu diskutieren und in eine definitive Klangform zu bringen.

FR: Na ja, das von uns Gespielte wurde von ihm stets mit allerhöchster Aufmerksamkeit angehört und, wenn nötig, erbarmungslos erst einmal wieder auseinandergenommen und einem neuen Probieren ausgesetzt. Dabei ging es wirklich um alle Facetten des Quartettspiels. Vor allem aber immer darum, der Musik ein unverwechselbares Profil zu geben, Geschichten zu erzählen, erfüllt zu spielen. Seine Bilder zu bestimmten Stellen habe ich bis heute im Kopf. Und ich höre bis heute sein knurrendes, forderndes »noch!« während unseres Spiels. Wir dachten, dass wir bereits ziemlich gut ausführten, was er von uns verlangte. Er aber wollte mehr. Ich erinnere mich an den 2. Satz von Brahms Streichquartett op. 51/2. Es gibt einen großen dramatischen Dialog zwischen erster Geige und Cello. Das Cello war ihm nicht charakteristisch, vor allem nicht kräftig genug, und wir spielten die Stelle so lange, bis Stephan, schon mächtig in Rage, regelrecht mutwillig forcierte für unsere Ohren. Feltz sagte dann: »Ja, so war das Cello ein bisschen besser zu hören, aber 50 % mehr musst Du schon noch geben.« Er führte uns über unsere Grenzen hinaus. Und er stellte Aufgaben – ein wichtiger Teil des Unterrichts konnte seine lapidare und für ihn ganz typische Frage zu einer musikalischen Passage sein, »Was ist das?«, ohne sie zu beantworten. Und da wir natürlich keine Antwort wussten, schleppten wir die Frage verunsichert bis zum nächsten Termin mit uns herum. Heute denke ich, dass er genau das beabsichtigte: keine Antwort, sondern Nachdenken, das zu eigenen Einsichten und damit zu neuen klanglichen Visionen führen konnte.

SFE: In dieser Hinsicht möchte ich Tims Vater erwähnen. Die Feltz’schen Sentenzen – ihr Geiger kanntet ihn ja besser – blieben mir in ihrer Abstraktheit und Lakonie doch gelegentlich etwas rätselhaft. Dann war es Michael Vogler, der – wenn er uns als Quartett ebenfalls zeitweise betreute – solche enigmatischen Verlautbarungen ein wenig ausgedeutet und in eine praktische Richtung übersetzt hat.

 

SFO: Einen Tag vor der Abreise nach Evian haben wir Feltz noch einmal das a-moll-Quartett von Brahms vorgespielt. Seine Reaktion: »Ich weiß nicht, also der letzte Satz …« Er hat unsere ganze Konzeption des Finales gleichsam noch einmal auf den Kopf gestellt, und wir dachten: Muss das jetzt so kurz vor dem Wettbewerb noch sein! Er hatte das Gefühl, dass musikalisch irgendetwas noch nicht stimmte und anders gespielt werden müsste. Wir haben das dann auch probiert und wahrscheinlich – den schließlichen Erfolg bedenkend – war es etwas, das wir noch gebraucht haben. Aber man frage nicht, was es eigentlich war! So geht es eben manchmal mit der Musik.

SFE: Mir ist aus dieser ganzen Anfangs- und Aufbruchssituation vor allem der ständige zeitliche Druck in Erinnerung, unter dem wir probten und spielten. Und wir probten und spielten sehr viel, denn wenn unser Repertoire zunächst auch relativ klein war, so wollten wir es doch in maximaler Qualität erhalten und verbreiten. Wir haben immer an der Kante gearbeitet, mussten Neues einstudieren, Bekanntes repetieren, dieses lernen, jenes aufbereiten. Es gab Anfragen nach Stücken, die wir noch nicht konnten, und es gab Wünsche von uns selbst, gewichtige Lücken im Repertoire zu füllen, wofür allerdings die Zeit zunächst fehlte. In puncto planerische Logistik vollzog sich unser Quartettleben zumeist in harten, angespannten Situationen.

SFO: Natürlich, wir hatten Konzertverpflichtungen und ein dünnes Repertoire, also mussten wir lernen, zu jeder Zeit, bei jedem Wetter. Im heißen Sommer 1986 beispielsweise probten wir in meiner Pankower Wohnung, und jeder hatte eine Schüssel mit kaltem Wasser, in das wir die Füße tauchen konnten. Wir haben so lange geprobt, bis die Nachbarn an die Wand klopften. Nachdem sie uns aber einmal in der »Tele-Illustrierten« des Westfernsehens gesehen hatten, war großes Staunen und alles gut: Wir durften danach üben, so viel und solange wir wollten. Und wir nutzten auch jede Minute, um unser schmales Repertoire zu erweitern. Aber andererseits haben wir uns auf Reisen auch die Zeit genommen, Sehenswürdigkeiten zu betrachten und Museen zu besuchen, vor allem die von uns so besonders geliebten Impressionisten zu bestaunen. Man hatte ja immer das Gefühl, sich in einer Karriere auf Abruf zu befinden, vielleicht nicht wiederkommen zu dürfen. Jeder Besuch konnte der letzte sein – diese Verunsicherung hatte man immer mit im Gepäck, sozusagen als Drohung des Staates, sich im Ausland stets nach dessen Normen (die mitgegeben wurden) bei Strafe botmäßig verhalten zu müssen.

FR: Ich war während der Geigenstudienzeit erstmalig mit dem Quartett für ein paar Tage in Paris, obwohl ich mich auf das DDRinterne Auswahlvorspiel für die Teilnahme am Carl-Nielsen-Wettbewerb in Dänemark vorbereiten musste. Das berauschende Erlebnis der Stadt, ihr einzigartiges Flair, ihre phantastischen Museen, ihr gewaltiger Reichtum an Architektur wie an Restaurants ließen mich die Geige vollständig vergessen. Erst in Berlin holte mich die Realität wieder ein, als Professor Feltz mich nach dem Stand meiner Vorbereitungen fragte. Ich hatte noch gar nicht begonnen! Er muss entsetzt gewesen sein. Aber statt verärgert zu reagieren, hat er nur gesagt: Du schaffst das, ich helfe Dir. So haben wir dann in zwei Tagen und Nächten das Violinkonzert von Carl Nielsen op. 33 und den Rest meines Programmes einstudiert. Ich fuhr zum Vorspiel nach Leipzig, spielte für meine Verhältnisse außergewöhnlich gut und wurde für die Teilnahme am Wettbewerb nominiert.

TV: So etwas konnte vorkommen, aber trotzdem ging es uns normalerweise wie zum Beispiel Tennisspielern, in deren Welt nur Leistung und Erfolge zählen. Man denkt, die haben ein tolles Leben, verdienen Millionen. Aber in Wirklichkeit leben sie nur auf dem Tennisplatz; das nächste Spiel steht bevor; sie haben den Druck, dass sie gewinnen müssen, weil im anderen Fall das Aus kommt wie das Amen in der Kirche. Sie müssen also alles andere ausblenden und sich ausschließlich auf ihr Spiel konzentrieren. Ich denke, so sehr unterscheiden wir uns davon nicht.

Wie hat solche Fixierung Ihr Verhältnis zu anderen Menschen, besonders zu Ihnen nahestehenden geprägt, zu Frauen oder Freundinnen beispielsweise?

SFO: Quartett und Frauen – das war ein schwieriges Thema. Ich hatte damals etwa zeitgleich mit der Quartettgründung eine Freundin. Es ergab sich ganz klar eine Konkurrenzsituation in zweifacher Hinsicht: Man stelle sich vor, von den 365 Tagen haben wir vielleicht 350 Tage geprobt, meistens sogar zweimal am Tag jeweils drei, dreieinhalb Stunden. Dazu kamen die langen Fahrtwege in dieser trotz Halbierung großen Stadt. Das Problem bestand aber nicht nur in der puren zeitlichen Knappheit für anderweitige Zuwendung, sondern auch in der besonderen hermetischen Vertraulichkeit der Quartettsituation mit ihrem internen kommunikativen Reichtum, der einen Außenstehenden leicht eifersüchtig machen kann.

FR: Das kann ich nur bestätigen. Es gibt sehr viele Leute, die kaum weniger intensiv arbeiten als wir, und eine Frau, die sich mit uns einlässt, weiß eigentlich, was sie zeitlich erwartet. Schlimmer ist in der Tat dieser unterschwellige Neid auf die besondere Art von Intimität, die das Quartett bietet, auf eine bestimmte Intensität des Gefühls und unbeschreibliche Erfülltheit bei der Arbeit; Investitionen also, von denen der Partner gern glaubt, dass sie ihm entzogen seien. Er muss schon besonders großzügig veranlagt sein, um solche Gefühle nicht in sich zu nähren, und dennoch drohen die Beziehungen trotz ernsthaften Bemühens oft zu scheitern. Es ist schwer zu verkraften, dass das Quartett die Nummer 1 in unserem Leben stets war und bis heute geblieben ist.

Einmal angenommen, die ersten Hürden einer Beziehung waren glücklich überwunden, so musste man doch sogleich zur Endstation der Ehe gelangen, musste sie zumindest deklarieren, um überhaupt an eine der kostbarsten Raritäten im Arbeiter- und Bauernstaat zu gelangen: eine eigene Wohnung.

TV: Als Berliner Kind habe ich lange bei meinen Eltern gelebt, während die Auswärtigen im Quartett zur Untermiete oder im Internat wohnten. Ich will nicht fragen, wer im Hinblick auf erotische Versuchungen das bessere Los gezogen hatte, ich jedenfalls hatte ein Zimmer zu Hause; meine Eltern waren, wie das wohntechnisch hieß, »endversorgt«, und somit hatten im Haushalt heranwachsende Kinder keinen Anspruch auf eigenen Wohnraum. Mit ungefähr zwanzig wächst ganz natürlich der Drang, auf eigenen Beinen zu stehen, aber meine Chancen auf eine eigene Wohnung waren gleich null. Um die Geburtenrate zu erhöhen, woran dem Staat sehr gelegen war – er brauchte Arbeiter für die sozialistische Produktion und wollte wohl auch die hohe Zahl von Westabgängen kompensieren –, wurde die Ehe sehr gefördert; aber eigentlich erst, wenn der Nachwuchs sichtbar unterwegs war, begann sich die Bürokratie zu bewegen. Kurzum, es war wieder einmal – zwecks Familiengründung – eine Eingabe an den Stadtbezirk fällig, mit dem Hauptargument, dass ein solches Unterfangen nur gelingt, wenn man sich zuvor in einer gemeinsamen Wohnung ausprobieren könne. Wider Erwarten kam eine Genehmigung, und ich zog, im Glück eines ersten Schritts zur Selbständigkeit, mit meiner damaligen Freundin in eine eigene Wohnung. Geheiratet haben wir – als der Trick gelaufen war – allerdings erst später.