Mythos Mensch

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Hundecharakter. – Seinen Herrn auch dann noch verteidigen, wenn man von diesem, vielleicht ohne Not, geschlagen und misshandelt worden ist; sich aber sogleich dem neuen Herrn unterordnen, sobald dieser sich als solcher zu erkennen gibt. – Das ist auch etwas Menschlich-Deutsches.

Entscheidung. – Allein dort, wo der Mensch vom Menschen spricht, wird er vom Menschen verstanden. Doch wo er über den Menschen spricht, kann er nicht mehr zu ihnen sprechen. So sagte einer: Ich suchte nach Menschen und fand überall nur – Natur.

Selbstbild. – Der Mensch bildet in allen seinen Werken stets nur den Menschen ab. Aus diesem Zirkel gibt es kein Entkommen. Deshalb bleibt der Mensch dem Menschen das größte Unglück. Die Welt an sich ist dem Menschen freilich nicht feindlich; sie lässt sich bearbeiten – nicht aber das Wesen des Menschen, dessen Lebensbegriff und Grundnatur die Zerstörung der Welt impliziert.

Menschenwerk. – Das derzeit anbrechende, neue Weltalter wird nicht zuletzt über seinen technischen Charakter zu der trivialen, aber so lange vertuschten Einsicht führen, dass alles, was das Leben mit Sinn und Bedeutung erfüllt, Menschenwerk ist: Gott, Staat, Moral, überhaupt alles Politische wie Glaube, Liebe, Hoffnung; ja, es wird nicht ausbleiben können, endlich zugeben zu müssen, dass der Mensch selber Menschenwerk ist! Diese so lange verleugnete Tatsache machte zuletzt alles möglich und entband den Menschen seit jeher von jeder Verantwortung gegenüber der außermenschlichen Welt, der übrigen Natur, die nicht von ihm geschaffen worden ist. Wo immer der Mensch nach einer Instanz suchte, die ihm Regeln auferlegte, hatte er sie sich zuvor selber geschaffen; nichts befahl ihm je irgendetwas, das nicht seiner eigenen Phantasie entsprungen wäre. – Und diese Haltung, diese Verfahrensweise geht nun auf die Maschinen über, wird an sie vererbt. Hieraus erklärt sich die Formbarkeit des Menschen, sowie die Beständigkeit des Unbeständigen: das ewige Werden durch andauernde Veränderung des Gleichen. In der frühen Leugnung jener Evidenz, dass der Mensch dem Menschen alles ist, es kein Davor und kein Danach, kein Darüber, sondern nur ein Darunter gibt, hat jeder Offenbarungsglaube seine Wurzel. Deshalb umringt sich der Mensch mit lauter Selbstgeschaffenem, das ihn in Gesellschaft setzt und ihm suggerieren soll, dass er nicht autochthon und in diesem Sinne nicht allein auf der Welt, sondern das Kind oder Werk einer höheren Ordnung ist, die schützend über ihn wacht.

Gattungsnatur. – Das Schicksal jeder Gattung liegt in ihren Eigenschaften. Und jeder Einzelne bedient sich solcher Eigenschaften, um vor den jeweiligen Anforderungen herrschender Wirklichkeiten zu bestehen. Was wir Wille zu nennen gewohnt sind, findet eben nicht als autonome Leistung im Einzelnen statt, sondern ist das Ergebnis verschiedener Begabungen, jene Eigenschaften am vorteilhaftesten zu nutzen. Der Erfolg eines Menschen, andere Menschen für sich zu gewinnen, resultiert aus der Fähigkeit zur richtigen Handhabung jener Eigenschaften, die dem Willen zur Gattung unterliegen. Und aus eben diesem Willen zur Gattung ergibt sich die große Rechtfertigung des Menschen, der zugleich die Bildung eines echten Einzelwillens verhindert. Jeder soziale Erfolg unter Menschen ist mit dem Verzicht auf den Einzelwillen erkauft. Denn die Bereitschaft, sich am Gattungswillen zu beteiligen, setzt den Willen zur Gattung voraus.

Willens-Freiheit. – Gibt es einen menschlichen Willen in der Welt, also einen Willen, der allein dem Menschen zukommt? Was unterschiede dann den »Willen in der Natur« von einem solchen menschlichen Willen? Oder ist nicht jeder Wille, den Begriff beim Wort genommen, von vornherein etwas rein Humanes? Folglich ist Willensfreiheit ein Widerspruch in sich; ein Wille kann niemals »frei« sein, denn sobald er in mir wirkt, hat er bereits Gewalt über mich. Und zu behaupten, die Freiheit bestünde darin, einen Willen über einen anderen zu erheben, schmeichelt bloß dem Verstand. Denn das Leben selber zwingt uns zur Wandlung – wodurch jede höhere Freiheit zur Selbstgestaltung aufgehoben ist. Der Einzelne kann den Zeitläuften so wenig entgehen oder sich der ihn umgebenden Welt entziehen wie dem eigenen Tod. Er bleibt Material seiner Gattungsnatur, ein Stück Wegstrecke, auf der sich die Evolution seiner Art vollzieht. Denn die Natur gewährt niemandem das Recht auf Eigenentwicklung, die nicht im Rahmen des Gattungsprogramms verliefe.

Wille zur Belastung. – Warum gründen Menschen auch dann noch Familien, wenn dies für den eigenen Schutz und das eigene Überleben nicht mehr nötig ist? Zunächst wirken hier natürlich älteste Atavismen nach; darüber hinaus scheint es aber auch ein menschliches Bedürfnis zu sein, sich über die Zeugung von Nachkommen etwas Eigenes zu schaffen: als Ergänzung und Fortführung, aber auch als Belastung des eigenen Ich. Denn erst diese Belastung schafft das nötige Schwergewicht des eigenen Lebens, ohne das vielen tatsächlich etwas fehlen würde. – Vielleicht ist der Wille zur Belastung, die Freude daran, sogar das entscheidende, wenngleich verdeckte Motiv, weshalb Menschen sich auch heute noch, also in Zeiten der Übermoderne und Zivilisation, mit dem Ziel zusammenfinden, bewusst zu zeugen, obwohl das Programm der Zeugung von seinem alten, ursprünglichen Sinn doch längst abgekoppelt ist.

Wille zur Ökumene. – Seitdem Menschen ihre Verschiedenheit bemerkten, versuchten sie, diese aufzuheben, zu überwinden, rückgängig zu machen, so als stamme die Menschheit von einem Ur-Paare ab und entwickelte sich aus einer Ur-Gesellschaft heraus, in der alle gleich gewesen seien – und in die man instinktiv zurückwolle. Nachdem der biblische Mythos, der Glaube an den universalen Gott Israels, diese offenbar urmenschliche Sehnsucht nach Einheit aller Dinge theologisch autorisiert hatte, war der Wunsch nach Verwirklichung totaler Egalisierung nicht mehr aus der Welt zu schaffen, und das Abendland hat seinen großen Anteil an der Verbreitung dieser Vorstellung einer ursprünglichen Ökumene. Zunächst versuchte man im Abendland, alle Menschen unter das gemeinsame Dach einer Kirche, der Ecclesia catholica oder Ecclesia universalis zu zwingen, dann die fremden, »niederen« Rassen, die sich vom Europäer unterschieden, sowie alle anderen »Ungläubigen« zu bekehren, zu assimilieren oder auszurotten, und schließlich begann man sogar, sämtliche Unterschiede zwischen den Menschen an sich, den Geschlechtern und Ethnien zu leugnen. Die Kontinuität im Bestreben des Europäers und seiner Kolonisten, die Menschheit zu vereinheitlichen, ist unübersehbar. Denn alle diese Maßnahmen gingen und gehen vom Abendland aus. Und doch scheint damit ein zutiefst menschliches Verlangen berührt zu sein. Denn wenn es einen Gattungsdrang gibt, der unabhängig von allen politischen Machtverhältnissen und lokalen Prägungen waltet, dann ist es offenbar der nach Vereinheitlichung. Der Mensch strebt von sich aus nach Aufhebung aller Grenzen und natürlichen Unterschiede – sobald ihn keine kulturellen Gebote mehr daran hindern. Einst war schon der andere Verband oder die andere Ortschaft das Fremde. Aus einer ursprünglich hochdifferenten Welt, die lauter verschiedene Sprachen, Sitten, Gebräuche, Maße, Gewichte, Währungen hervorgebracht hatte, wurde eine vereinheitlichte. Denn Vereinheitlichung bedeutet Vereinfachung und erlaubt eine bessere Organisation – nicht zuletzt im wirtschaftlichen Interesse. Hätte die Welt also eine gänzlich andere werden können als die heute erreichte? Wäre es möglich gewesen, dass die Menschheit einen wesentlich anderen Verlauf genommen hätte, oder liegen nicht alle Entwicklungen und Erfindungen des Menschen in seiner Art, also in seinem genetischen Programm, mithin in seiner Evolution begründet? Demnach musste das Feuer kontrolliert, mussten Erze gewonnen und verarbeitet, mussten Staaten gegründet, Finanzsysteme entworfen und das digitale Weltalter erreicht werden. Wo eine Sache entdeckt oder begonnen wird, ergeben sich beinahe zwangsläufig diejenigen Folgewirkungen, die jene Sache impliziert, und die wiederum jene Eigendynamiken auslösen, welche für den sogenannten Fortschritt sorgen. Hüten wir uns also davor, die Weltwirklichkeit allein als das Werk politischer Mächte anzunehmen in dem Glauben, die Dinge hätten bei entsprechender Konstellation auch einen ganz anderen Verlauf nehmen können. Wenn alle Menschen, die je gelebt haben, nie geboren worden wären, und stattdessen diejenigen, die verhindert worden sind, ins Leben gefunden hätten, wäre die Welt keine andere als die heutige! Darin liegt der Beweis, wie wenig es auf jeden Einzelnen ankommt, und dass Leben immer nur sich selber über die verschiedenen Arten, niemals aber echte Individuen hervorbringt. Heute wachsen weltweit Generationen heran, die ein Vermischungs- und Nivellierungswunsch antreibt, der sich vielleicht nur mit dem Willen zur Ökumene im Hellenismus vergleichen lässt, später mit dem Willen zur Weltkirche. Fast alle kulturelle Entwicklung tendiert zur Vereinheitlichung, zur Überwindung gewachsener Unterschiede. Darin scheint ein geschichtsanthropologisches Lebensprinzip zu liegen, das sich überall beobachten lässt, wo die jeweiligen Bedingungen und historischen Erfahrungen einen solchen Prozess erlaubten. – Deshalb werden schon in naher Zukunft die wirklich großen Fragen nicht mehr politischer oder soziokultureller Natur sein, die ja bereits heute bloß noch als Showgefechte stattfinden, sondern sich an die Begabung des Einzelnen zur Eigenrezeptivität und Selbstreferenz richten und dadurch eine grandiose Erweiterung in die Tiefenschichten entpersonalisierter Weltwahrnehmung erfahren, wie sie dem bisherigen Menschen kaum zu verkraften sein würden. Für die nächsten Jahrhunderte steht eine derart gründliche Selbstrevision bevor, deren Ergebnisse uns heute noch erschaudern ließen. Bald schon dürfte man dem Zeitraum vom Altertum bis zum zweiten Millennium gleich fremd und überlegen gegenüberstehen wie wir Heutigen dem prähistorischen Menschen der Eiszeit. – Der in diesem Sinne erkenntnistheoretisch erweiterte Mensch wird seiner eigenen Apparatur zunehmend ferner rücken, zu sich selber und zu allen anderen noch mehr auf Distanz gehen, sich vielleicht gar nicht mehr als Teil irgendeiner definierbaren Gruppe verstehen, sondern als das Ewige, Einzige und Ganze begreifen lernen, worin sich die Welt als solche spiegelt und erhält. Niemand gehört dann noch sich selber, ja nicht einmal einer Nation oder Kultur oder irgendeiner anderen Klassifikation an. Vielmehr ist er in der Struktur eines sich fortwährend erneuernden Netzwerkes oder Schwarmes aufgegangen, dem er überindividuell und ganz automatisch zugehört wie ein energetischer Faktor. In einem solchen Zustand der Kumpanei, mit dem Aufgehen und Heimkehren ins Gattungskollektiv, kann sich niemand mehr seiner sicher sein; und der Mensch wird vielleicht irgendwann gänzlich davon abkommen, von sich im Singular als eines klar bestimmbaren Subjekts zu sprechen. »Es könnte sein«, wie kluge Beobachter bereits am Ende des 20. Jahrhunderts bemerkten, »daß die dritte Stufe der Verarbeitung von Informationen (nach Sprache und Schrift), die wir gerade jetzt durchleben, nochmals ganz grundsätzliche Veränderungen der sozialen Interaktion bringen wird. Mit dem elektronischen Netzwerk des computerisierten Weltdorfs werden die gemeinsam zugänglichen Informationen und die entsprechenden Programme allgegenwärtig; sie lassen das Individuum definitiv hinter sich. In der Literaturwissenschaft ist der ›Verlust des Subjekts‹ oder ›des Autors‹ bereits zum Schlagwort geworden.«3 – Möglicherweise beginnt also mit dem globalen Siegeszug der Digitalisierung des Lebens sowie der One-World-Verbraucher-Ideologie eine geistig-materielle Erneuerung der Menschheit von Grund aus, wie sie zuletzt nach der epidemischen Verbreitung der christlichen Erlöserreligion stattgefunden hat.

 

Unterschätzte Natur. – Dass wir uns nicht vorstellen können, wie etwas so Komplexes und Kompliziertes wie menschliches Leben aus der Natur hervorgegangen sein kann, sondern eines »Schöpfers«bedurft haben müsse, liegt freilich an unserer eigenen Beschränkung, die uns unsere Art auferlegt. Jedes andere Wesen, auch das primitivste, müsste, wenn es denken könnte, ebenso reagieren. Diese Kurzsichtigkeit, sich außerhalb des Spektrums von Pflanzen, Insekten, Fischen oder Säugetieren zu wähnen und von seiner »Ebenbildlichkeit Gottes« überzeugt zu sein, wäre vielleicht noch hinnehmbar, wenn der Mensch das einzige Lebewesen auf Erden verkörperte. Doch da es so viele Stufen und Entwicklungsgrade des Lebens gibt, verwundert die Behauptung, Leben könne nicht aus der Natur selber hervorgegangen sein, obwohl sich doch überall beobachten lässt, welche verschlungenen und verzweigten Wege der Artenbildung die Natur einzuschlagen fähig ist.

Zum Irren veranlagt. – Müssten nicht all jene, die vorgeben, »selber zu denken«, zu den gleichen Ergebnissen kommen? Denn was hätte »Selberdenken« für einen Sinn, wenn darin doch bloß die Rechtfertigung zur Verteidigung der eigenen Torheiten läge? Wie bilden und entwickeln sich verschiedene Anschauungen von der Welt, da doch allen Menschen stets die gleichen Wahrheiten, bloß hinter verschiedenen Wirklichkeiten verborgen, zur Verfügung stehen? Verschiedene philosophische Modelle können nur dort zustande kommen, wo unzureichend gedacht wird. Wie hätte es je Fraktionen geben können, wenn nicht alle Anhänger der verschiedenen Schulen auf ihre Weise irrten? Ein fehlerhaftes System weist einem anderen fehlerhaften System Fehler nach. Das war die Leistung des deutschen Idealismus, der sich für oder wider Kant definierte. Und darum ähneln sich die Verläufe kultureller Entwicklungen so sehr. Jeder kann leicht an sich selber beobachten, dass er zu denjenigen Einsichten, Urteilen, Qualitäten, die ihn jetzt bestimmen, einst noch nicht fähig war. Wo das gleiche oder gleich gedacht wird – wie in den sogenannten philosophischen Schulen –, haben wir es selten mit Überzeugungen aufgrund logischer Beweisführung zu tun, sondern mit mentaler Verwandtschaft: ähnliche Voraussetzungen oder Anlagen führen zu ähnlichen Ergebnissen. – Daher ist Philosophie vor allem eine Charakterfrage.

Worauf beruht Übereinstimmung? – Man stimmt überein heißt: man hängt der gleichen Stimmung an, teilt das gleiche Wollen, ist ähnlich veranlagt, verfolgt die gleichen Ziele, trägt sich mit den gleichen Absichten. Diese entstehen infolge ähnlicher Ausrichtungen und Erfahrungen, also aus rein subjektiver Prägung, über die niemand Gewalt hat. So ist der Mensch das Abbild der Reaktion seiner Instinkte auf bestimmte Ereignisse, woraus seine Anschauungen und Gesinnungen erwachsen, die ihn fortan steuern und die Menschen verschieden sein lassen. Denn die Welt ist das, was sich ereignet. Die Verhältnisse oder Beziehungen zwischen den Ereignissen ergeben das, was jede Generation als »Zeitgeist« erfährt. – Aus solchen, unseren inneren Erfahrungen schließen wir auf die Welt, denn wir suchen überall nach Analogien zu uns selber, also zu unseren Regungen. Wir mögen und bevorzugen, womit wir uns selber identifizieren können, worin wir uns erkennen, da wir die Welt nach uns selber absuchen. Worin wir uns wiederfinden, darin stimmen wir überein – notfalls auch gegen die Tatsachen objektiver Erfahrung.

Vom Mythos zum Logarithmus. – Alle Systeme – von Platon über Schopenhauer bis Marx – unterliegen dem Grundmakel, dass sie naturgemäß Menschenwerk sind und also unter den Bedingungen menschlicher Ausrichtung gleichsam mythologisch funktionieren, nicht aber an und für sich Geltung haben können. Alle Systeme spiegeln, wie der Mythos, nur die Möglichkeiten unseres Denkens, nicht aber die Welt oder die Dinge, wie sie für sich, also unabhängig vom Menschen bestehen. Denn Mensch und Welt bilden zwei in sich geschlossene Räume, die nur über die menschliche Empfindung miteinander verbunden sind. Deshalb ist uns die Welt »an sich« nicht zugänglich; wir gehören dort nicht hinein, sondern nur in jene, die das Bild ist, das wir uns von ihr machen. Die Denkfähigkeit, Perzeption etc., die den Menschen von allen anderen Lebensformen so wesentlich unterscheidet, schließt ihn eben deshalb von jener Welt aus, die alle anderen bewohnen. Eine Ahnung davon schlich bereits durch das Altertum, als sich Philosophen wie Thales, Anaximander oder Heraklit erstmals entschieden gegen die Macht der Mythen wandten; Hekataios von Milet versuchte nachweisbar vielleicht als erster, den Mythos zu rationalisieren… – Nun nehmen allmählich Maschinen den Platz der frühen Mythen ein; Geschöpfe, die freilich den Vorteil gegenüber den alten Göttern haben, tatsächlich greifbar zu sein, wo sie gebraucht werden.

Verweigerung. – Gewisse Tatsachen sind der menschlichen Eitelkeit und Naivität so zuwider, dass sie von jeder nachwachsenden Generation neu geleugnet werden; so die längst bekannte, völlig evidente und immer wieder ausgesprochene4 Wahrheit, dass »Seele« und »Geist« nicht für sich bestehen, nicht vom Organismus losgelöst zu denken sind, sondern bloß poetische Bezeichnungen für Genfunktionen darstellen, dass sie gar nichts anderes sein können als eben dieses, folglich mit der menschlichen Natur entstehen und vergehen. – Alle politisch-religiösen Anschauungen entsprechen menschlichen Eigenschaften. Es gibt keine »Kultur«, deren Motive nicht in der Natur des Menschen lägen. Der Einzelne hat darauf keinen Einfluss; jeder ist bloß Abglanz von Motivpaletten, deren verschiedene Farbtöne nach und nach zur Geltung gelangen.

Grundnatur. – Gibt es ein intellektuales Recht auf moralischen Widerstand gegen die Grundnatur menschlicher Verhaltensweisen, oder gibt es womöglich eine biologische Pflicht zum Erdulden, ja zum Genuss, trotz allen Unbehagens, das von eben dieser Grundnatur ausgeht und deshalb auch nur diejenigen Menschen um den Verstand bringt, deren Weltwahrnehmung auf eine bestimmte Weise »fehlerhaft«, weil vom Üblichen abweichend verläuft? Ein gesunder Organismus scheint nur wenig Skepsis gegenüber der eigenen Art zu dulden. So verliert der Mensch die Scheu vor sich und seinen Programmen. Dagegen blickte man in den alten Kulturen noch entschieden misstrauischer auf die menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse. Erst die Zivilisation ließ dem Menschen und seinen Möglichkeiten freien Lauf.

Homo mensura. – Zehn Jahre euphorisch betriebene Neurowissenschaften haben bei der Beantwortung der Frage: was ist das Gehirn? kaum einen Schritt über den tradierten Kenntnisstand hinausgeführt. Den Aufbau eines Organs beschreiben zu können, bedeutet noch nicht, über sein Was, Wie und Warum Klarheit zu gewinnen. Tatsächlich befinden wir uns heute, trotz zahlloser Einzeluntersuchungen in den verschiedensten Disziplinen, noch immer mehr oder weniger am gleichen Erkenntnisort, den bereits die Alten besiedelten. Und es scheint, als haben die Neurowissenschaften die Frage nach dem Wesen des Menschen wieder zurück an die Philosophie gegeben. Nun gilt es, die simple Tatsache des Protagoras, also jenen evident-hellsichtigen Homo-mensura-Satz: ἄνϑϱωπος μέτϱον ἁπάντων5 erneut zum Ausgangspunkt des Erkennens zu machen. Das besagt: es gibt für den Menschen keine Wahrheit, die er nicht selber erschaffen hätte! Die Konsequenzen daraus – so man sie denn einmal genauer besehen wollte – sind drastisch, aber sie bilden bis heute unsere Wirklichkeit subjektiver Weltverwertung; und damit die Wurzel der täglich zu erlebenden und deshalb als normal hingenommenen menschlichen Rücksichtslosigkeit.

Was denkt in uns? – Das Gehirn prüft als natürliches Frühwarnsystem die Welt auf Bekanntes, bereits Berechnetes. Denn die Menschen mussten Gefahren voraussehen können, um zu überleben, da sie über keine anderen geeigneten Fähigkeiten verfügten, sich spontan zu verteidigen. Ihr Spezifisches wurde so das Gehirn. Was bei anderen Tieren die Fluchtgeschwindigkeit, Tarnung, Panzerung oder das Totstellen war, ersetzte beim Menschen das Antizipieren von Gefahren durch Denken. Daraus wird deutlich, wie das Denken als organische Funktion entstand und nach welchen Erfordernissen es bis heute im Menschen »arbeitet«. – Denken also wir oder denkt das Denken uns? Wodurch können wir Gleiches denken wie andere – und doch von ihnen verschieden sein? Ferner: worin besteht der Unterschied zwischen Gefühlen und Gedanken? Sind doch beides Äußerungen desselben Organs, des Gehirns, sie befinden sich also in interaktiver Verbindung mit dem gesamten Körper. Wahrscheinlich ist Denken eine höhere Form des Fühlens, und aus dem Sensitiven einst hervorgegangen. Unser ganzer Körper »denkt«, sobald er etwas empfindet, denn jedes Gefühl ist ein »Gedanke« desjenigen Organs, das es hervorgerufen hat. Immerhin muss jedes Gefühl empfunden werden, um zu sein, also vom Gehirn registriert, und so gehen die Gefühle von den verschiedensten Organen aus, nämlich von allen, die dazu geeignet sind. – Fühlen, Denken, Wollen sind daher die verschiedenen Akzente ein und desselben Vorgangs. Keine dieser Regungen lässt sich von einer anderen gänzliche isolieren, und in allen Lebewesen sind alle drei angelegt, nur freilich in unterschiedlichen Graden und Qualitätsstufen.

Weltnatur. – Des Menschen Geist und Sinne haben sich der »Weltnatur« gemäß entwickelt – und nicht willkürlich oder eigenständig. Was wir vermögen, dient unserer spezifischen Natur dazu, uns in der übrigen Natur zurechtzufinden, um überleben zu können. Folglich ähnelt die eine Natur der anderen, und es stehen beide in einem engen Verwandtschaftsverhältnis zueinander, da unsere spezifische Natur aus der »Weltnatur« hervorgegangen ist. Deshalb ist alle Metaphysik höherer Unsinn, denn es kann nichts über diese beiden Naturen hinaus geben bzw. erkannt werden. Metaphysische Modelle dienen der Vereinfachung, den Menschen nicht allein aus der »Weltnatur« heraus erklären zu müssen.

Wille zur Kausalität. – Nicht ausgeschlossen, dass man in fünfzig oder hundert Jahren über die Urknalltheorie genauso schmunzeln wird wie wir Heutigen über das physikalische Weltbild der Menschen im sogenannten Mittelalter lächeln. Denn wir haben allen Grund, uns auch der modernen Physik gegenüber eine gehörige Portion Skepsis zu bewahren. Vielleicht ist das Sein der Welt mit menschlichen Maßstäben gar nicht zu erfassen, und alle Theorien und Formeln sind nur unzureichende Hilfsmittel bei dem Versuch, die Welt »menschlich« zu denken.

Mythos Menschwerdung. – Nirgendwo zeigen sich heute die Lust am Mythos und die daraus erwachsende Macht des Mythos deutlicher als in der sogenannten Out-of-Africa-Theorie, wonach die rezente Menschheit von einer einzigen Hominiden-Linie abstamme, deren Ursprung im südöstlichen Afrika liege. Nur durch die Wirkung jener beiden Kräfte, Lust und Macht, wird plausibel, wieso abermals niemand widerspricht, wo eine wissenschaftlich und logisch völlig haltlose Konstruktion für kanonisch erklärt wird, weil die gerade gültige Ideologie danach verlangt. Denn die These, dass sich »der« moderne Mensch von Afrika aus über die Welt verteilt habe und alle späteren Menschen aus diesem einen Stamm hervorgingen, erklärt anthropologisch gar nichts, fördert und stärkt aber das politische Dogma von der »One-World«, in der lauter »gleiche« Menschen »derselben Art« lebten, deren Unterschiede – und treten diese auch noch so deutlich hervor – genetisch minimal und als »kulturell erzeugte Konstrukte« zu verstehen seien, die es nunmehr, im Globalisierungszeitalter totaler Nivellierung, abzuschaffen gelte. Obwohl wir heute zu wissen meinen, dass sich etwa die Landwirtschaft eben nicht monokausal von Mesopotamien aus über die Erde verbreitet hat, wie lange angenommen worden war, sondern an mindestens sieben Orten der Welt relativ gleichzeitig und unabhängig voneinander entstanden ist, gestattet man sich bei der Frage nach dem Ursprung des Menschen keinerlei Zweifel. – Man traut der Menschwerdung eine solche »Gleichzeitigkeit« (noch) nicht zu, weil derlei Relativierungen heute, da wir alle »Afrikaner« sein sollen, moralpolitisch nicht wünschenswert wären. Obwohl viel zu wenige Funde frühmenschlicher Fossilien vorliegen, um gen-analytisch gesicherte Ergebnisse erzielen zu können, scheint dennoch niemand unter den tonangebenden Wissenschaftlern das derzeit für gültig erklärte, monokausale Entstehungsmodell zu beanstanden, und so arbeitet man – wie in allen Fragen von politisch-ideologischer Brisanz – auf das gewünschte Resultat hin. Eben dieses Resultat aber, das die »richtige Gesinnung« dem Forscher heute befiehlt, hätte sie ihm noch vor hundert Jahren verboten. Und wer wäre vor dreihundert Jahren kühn genug gewesen, den »wahren Kern« der biblischen Schöpfungsgeschichte anzuzweifeln? Im Grunde also lebt der symbolisch hochaufgeladene Mythos vom menschlichen Ur-Paar im ideologischen Zeitalter fort. – Wie aber sollten sich die verschiedenen Rassen gebildet haben, wenn alle Menschen, die wir heute unter dem Begriff Homo sapiens zusammenfassen, eines genetischen Ursprungs gewesen sind und es nicht zu Vermischungen unter den zahlreichen Hominiden gekommen ist, aus denen sich eigene Menschenarten entwickelt haben, die unabhängig voneinander an unterschiedlichen Orten aus diversen Zweigen hervorgegangen waren? Wissen wir doch bis heute nicht, woraus sich etwa Homo sapiens oder Homo neanderthalensis entwickelt haben – die plötzlich einfach »da« gewesen sein und daraufhin bestimmte Gebiete bevölkert haben sollen. Ebenso wenig wissen wir, wie viele Hominiden es überhaupt je gegeben hat; fast jährlich trägt die Archäologie irgendwo eine neue Art ans Licht. Daher zweifelt inzwischen niemand mehr daran, dass kein Stammbaum, sondern ein Stammbusch rekonstruiert werden müsste, wollte man der hochkomplexen Entwicklungsgeschichte des Menschen auf die Spur kommen. Wir blicken also auf ein Geflecht zurück, dessen arabeske Verzweigungen gesicherte Herkunftslinien gar nicht zulassen, so dass es die eine, in sich geschlossene Spezies, die wir Homo sapiens nennen, vielleicht nie gegeben hat. Vielmehr dürfte die heutige Menschheit das genetische Produkt zahlreicher Verbindungen zwischen verschiedenen Hominiden sein, die zu einer »Art« zusammengeschmolzen sind, weshalb von der »Ur-Gleichheit« aller Menschen auch ethnologisch keine Rede sein kann. – Doch wo immer Forschung und Wissenschaft von der Gunst religiöser oder politischer Auftraggeber und Meinungsmoden abhängen, das heißt: wo sich persönliche Karrieren über die »richtige Haltung« zum jeweiligen Gegenstand entscheiden, haben wir es mit den gleichen Denkbegradigungen und sophistischen Lavierungskünsten zu tun. Oder mit dem echten Glauben an das zu Meinende aus vielleicht unbewusster Gehorsamspflicht, weil ein Automatismus der Instinkte im Menschen waltet, der ihn an das Vorteilhafte bindet. Denn die Aussichten auf eine Dozentenstelle lösen ganz ähnliche Verhaltensmechanismen aus wie die Androhung des Scheiterhaufens. Und so bleibt es erstaunlich, dass selbst im 21. Jahrhundert manche Forschungszweige immer noch neue Mythen erzeugen und fortspinnen, weil den Zeitgeistgewissheiten und Gesinnungszwängen weiterhin größere Wirkungskräfte innewohnen als dem Willen zur Logik und zur Plausibilität.

 

Neuer Umgang mit der Wirklichkeit. – Wie haben wir uns den Realitäten und damit der menschlichen Natur gegenüber als Menschen zu verhalten? Das Wachstum der Menschheit sorgt für deren Formung und Wandlung. Wie ein Organismus, der sich seinen Lebensraum erobert und entsprechend gestaltet, indem er sich nach Maßgabe seines Wachstums dort einbringt. Kulturelle Wandlungen erklären sich nicht aus dem Bedürfnis nach Kultur – genauso wenig wie das Kind erklären könnte, warum es spielt oder spielen will. Wo die Natur des Menschen nicht mehr außerhalb der Gesamtnatur, sondern als streng von dieser abhängig, ja auf ihre Weise identisch mit ihr gedacht wird, erlischt jeder Anthropomorphismus, und Kultur muss fürderhin ganz anders betrachtet und begriffen werden als bisher. Die Genese seiner Art nennt der Mensch Kultur, die der Tiere Natur. Doch ist Kultur nur eine höhere Form von Natur für diejenigen, die ihren Werdegang, ihre Evolution selber zu gestalten meinen. In beiden aber wirken die gleichen Kräfte, nur auf verschiedenen Ebenen. – Wenn es also je einen echten Fortschritt in der Philosophie geben sollte, dann bestünde der im Abschied vom Anthropomorphismus.

Große Zeit des Menschen. – Die Welt der letzten dreitausend Jahre, die uns kulturell geformt und erfüllt hat, wird mit ihrem Vergehen verabschiedet und ins Museum gestellt. Und so lässt das 21. Jahrhundert den Menschen wenigstens drei ganz neue Erfahrungen machen: die der Digitalisierung des Lebens, also die der totalen Abhängigkeit des Einzelnen von elektronischen Geräten; daraus folgend die der technischen Vernetzung aller mit allem; und zuletzt die der praktizierten Selbstauslöschung der alten europäischen Kulturvölker unter Missachtung der Tatsache, dass Menschheitsgeschichte Verdrängungsgeschichte ist. – Die bisherige Entwicklung bestand darin, dass das Empirische eine neue Qualität bekam. Was sich dagegen im 21. Jahrhundert an Veränderungen ereignet, ist in der gesamten Weltgeschichte ohne Beispiel und trifft die aus historischen Erfahrungen erwachsene Gattung völlig unvorbereitet. Die bisher größte und schönste Idee, welche Menschen je erdacht haben, die des freien, schönen Individuums, weicht einer neuen, völlig anderen Praxis, deren Entwicklung wir nicht vorhersagen können. Wir wissen nur, dass sie von einer ganz neuen Art sein wird, die zu der alten Welt keine Verbindungen oder Übergänge mehr zulässt – außer die durch nostalgische Wunschvorstellungen imaginierten. Die Welt des bisherigen Menschen geht von nun an verloren, und zwar in vielerlei Hinsicht: der Mensch verliert sein tradiertes Selbstverständnis als Mensch, und damit den gesamten kulturgeschichtlichen Horizont, der hinter ihm liegt. Langsam beginnt er zu ahnen, dass alles, was er seine Geschichte nennt, bloß Episoden unterentwickelter Stadien waren, denen noch eine ganz andere Menschheitsgeschichte folgen wird. Vielleicht beginnt erst jetzt, mit dem postkulturellen Weltalter, die große Zeit des Menschen, der in zweihundert oder fünfhundert Jahren mit Hilfe grandioser Technik einen Entwicklungsgrad erreicht haben dürfte, welcher uns heute noch völlig phantastisch, unverständlich und fremd erscheinen muss, und ihn dazu berechtigte, mit dem gleichen geistigen Abstand auf uns Heutige herabzublicken, wie wir auf den prähistorischen Menschen sehen. – Man kann es überall beobachten und spüren, dass die bisherige Welt mit etwas schwanger geht, das zwar aus ihr entspringt, aber so wenig mit seinen Erzeugern verwandt sein wird, dass diese in ihrer bisherigen Form dort ihr Ende finden müssen.

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