Lüneburger Totentanz

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»Allerdings«, sagte Gregorius. »Ich gehöre zwar nicht zu den geladenen Gästen, aber ein solches Ereignis lässt man sich nicht entgehen.«







2. KAPITEL





Die Trauung



Die Lüneburger, die sich vor der Kirche St. Johannis versammelt hatten, bekamen fast den gesamten Rat zu sehen. Die Bürgermeister Hogeherte, Schelleper und Gronehagen erschienen in ihren Festgewändern, und ihnen folgten die regierenden Ratsherren Ludolf Tobing, Johannes von Ollensen, Johannes Schermbeke, Erich Ghise und Heinrich Hoyeman. Auch Johannes Springintgut tauchte auf, Johannes Garlop und Heinrich Lange. Sie alle kamen mit ihren Frauen, die nach der flämischen Mode gekleidet waren und bei den Zuschauern Hochrufe auslösten, aber auch neidische Blicke. Die Hochzeit von Tidemann Stolzfuß und Margarete Grüneberg war ein willkommener Anlass, um zu zeigen, was man hatte.



Die Zaungäste trugen ebenfalls ihren Sonntagsstaat, und es sah aus, als hätten selbst die Armen, die auf dem Kirchhof zwischen den Gräbern hausten, ihre Lumpen gesäubert. Die Stadtmusikanten spielten auf, dann sah man das Brautpaar. Es kam zu Fuß aus der Straße Am Berge, wo Reyner Stolzfuß ein großes Haus besaß, und begab sich unter dem Beifall aller Anwesenden zur Kirche. Am Kirchtor nahm sie der Pfarrer in Empfang. Die Eltern von Braut und Bräutigam verteilten Geldgeschenke, dann verschwanden auch sie im Gotteshaus. Das Tor wurde geschlossen, doch die festliche Musik drang bis auf den Platz Am Sande, wo sich das Publikum in Geduld übte. Niemand wollte sich entgehen lassen, die Frischvermählten wieder aus der Kirche treten zu sehen.



Die Stundenglocke von St. Johannis schlug zehn. Alle wussten, nun wurde die Braut von ihrem Vater an den Bräutigam übergeben, und das Paar legte die rechten Hände ineinander. Der Mann steckte seinen Ring nacheinander an drei Finger der Braut, der Geistliche sprach einen Segen. Nun schlug die Viertelstundenglocke oben in dem etwas schiefen Turm der Pfarrkirche. Gewiss hatte Tidemann Stolzfuß die dreizehn Pfennige hinterlegt, die bereits das Salische Gesetz vorschrieb. Viele im Publikum murmelten die Worte, die der Bräutigam zu sprechen hatte: »Mit diesem Ringe heirate ich dich, mit diesem Golde ehre ich dich, mit diesem Schatze beschenke ich dich.« Mancher hatte Tränen in den Augen.



Die Stundenglocke verkündete die elfte Stunde, die Viertelstundenglocke schlug noch zweimal, dann wurde das Tor geöffnet. Zuerst erschienen die jungen Eheleute und winkten den Lüneburgern, die zurückwinkten, dann kamen Martin und Elisabeth Grüneberg, gefolgt von Reyner Stolzfuß, seiner Frau und Sebastian Vrocklage. Auch Lüdeke Peters verließ die Kirche, am Arm seine Frau und hinter ihm Sohn Piet. Die Ratsherren und Bürgermeister ließen sich blicken, die Kirchenleute, unter ihnen Bruder Anselm, und der Herr von Baerck als Abgesandter des Landesherrn; der Herzog selbst hatte nicht kommen können. In der Hoffnung, noch einmal der Freigebigkeit der Eltern teilhaftig zu werden, umdrängten die Bürger und Einwohner die hohen Herrschaften. Martin Grüneberg und Reyner Stolzfuß griffen bereits nach ihren Geldbörsen. Dann sahen sie den Wagen.



Es war ein Zweispänner, hoch beladen mit Fässern, den ein Knabe lenkte. Der Knabe trug einen grauen Kittel mit einem Strick als Gürtel und an den Füßen Bastschuhe. Plötzlich erfüllte Geschrei den Platz Am Sande. Offenbar waren dem Knaben die Pferde durchgegangen, denn der Wagen raste mit unverminderter Geschwindigkeit auf die Hochzeitsgesellschaft zu. Martin Grüneberg griff geistesgegenwärtig nach seiner Tochter und zog sie zur Seite, Tidemann Stolzfuß sprang zwischen die Zuschauer. Der Junge, der den Wagen lenkte, schrie verzweifelt, hilfsbereite Lüneburger versuchten, in die Zügel zu fassen. Kurz vor dem Kirchtor stürzte der Wagen um. Die Fässer rollten über den Platz und brachten manchen Zuschauer zu Fall, alles brüllte durcheinander, und zwei junge Männer beugten sich über Lüdeke Peters, der ebenfalls gestürzt war. Er schien ernsthaft verletzt zu sein, denn eine Blutpfütze breitete sich unter ihm aus.



Die jungen Männer versuchten, ihn aufzurichten. Auch Martin Grüneberg sprang hinzu. Maria Peters schrie in hohem Diskant, Bruder Anselm kniete sich neben den Verletzten und öffnete ihm das Wams, der Herr von Baerck hatte, warum auch immer, sein Schwert gezogen. Der Junge, der den Unfall verursacht hatte, floh über den Kirchhof nach dem Altenbrücker Tor, die zwei jungen Männer, die seine Flucht beobachteten, setzten ihm nach. Dann erst sah man, was geschehen war.



In Lüdeke Peters’ Rücken steckte ein Messer.



Aus dem fröhlichen war ein Trauertag geworden. Man hatte nach dem Ratsmedicus geschickt, der dem Opfer des Anschlags nicht mehr helfen konnte, und auch der Gerichtsvogt hatte sich am Tatort eingefunden. Reyner Stolzfuß erbot sich, die Frauen nach Hause zu geleiten, und sowohl Braut als auch Bräutigam schlossen sich ihm an. Bruder Anselm ging ebenfalls mit, um die Hinterbliebenen zu trösten, während vor der Kirche die gerichtliche Untersuchung begann. Martin Grüneberg, selbst einer der Weddeherren Rostocks und damit für die Gerichtsbarkeit zuständig, unterstützte die Richteherren, so gut er konnte. Viel war nicht zu tun.



Lüdeke Peters war aus der Menge heraus getötet worden, allerdings konnte wegen des Tohuwabohus nicht mehr festgestellt werden, wer sich in der Nähe des Ermordeten aufgehalten hatte, von seiner Frau und seinem Sohn einmal abgesehen. Im Grunde kamen mehrere hundert Menschen als mögliche Täter in Frage.



Nicht gefunden wurde der Junge, dem die Pferde durchgegangen waren, und auch die beiden ersten Helfer tauchten nicht wieder auf. Von den Befragten schien sie keiner zu kennen, vermutlich waren es Fremde. Nachdem der Gerichtsvogt seine Büttel ausgeschickt hatte, um alle Gasthöfe zu überprüfen, stellte sich heraus, dass sie in einer Herberge von schlechtem Ruf eine Nacht verbracht hatten. Der Unterschlupf befand sich im Budenviertel an der Bardowicker Mauer, und wer dort abstieg, nannte nicht unbedingt seinen Namen.



Auch das umgestürzte Fuhrwerk und die Fässer, die es geladen hatte, wurden untersucht. Der Wagen war durch den Unfall beschädigt worden, aber ansonsten fand sich nichts, was darauf hindeutete, dass er präpariert worden war. Die Fässer allerdings waren leer. Nur am Geruch konnte man erkennen, dass in ihnen Bier transportiert worden war.



Als Martin Grüneberg am Nachmittag in das Haus von Reyner Stolzfuß zurückkehrte, fand er dort nur das Dienstpersonal vor. Maria Peters hatte Schlafmohn genommen und sich zurückgezogen, ihre Schwiegertochter Geseke, Hildegard Stolzfuß und Elisabeth Grüneberg weilten bei ihr und versuchten, ihren Schmerz zu lindern. Margarete betete in der Familienkapelle für das Seelenheil des Verstorbenen, ein Benediktiner des Michaelisklosters leistete ihr Gesellschaft. Er war der Beichtvater der Familie Stolzfuß und hatte sich unmittelbar nach dem Verbrechen eingefunden.



Margarete mochte nicht mit ihrem Vater sprechen. Sie war zu sehr erschüttert von dem Mord, den sie hatte mit ansehen müssen, und suchte Trost bei Gott. An der Seite des Benediktiners war sie gut aufgehoben.



Von diesem erfuhr Martin Grüneberg, dass sich die Männer in den Ratsweinkeller begeben hatten. Wein zu trinken und sich aneinander aufzurichten schien im Moment das Einzige zu sein, was man tun konnte, also ließ sich Grüneberg den Weg beschreiben. Er war nicht schwer zu finden. Der Ratsweinkeller befand sich im Rathaus am Markt, Grüneberg musste nur die Straße Am Berge bis zu ihrem nördlichen Ende abschreiten und dann nach links in die Rosenstraße biegen. In der Rosenstraße, so hörte er von dem Mönch, hatte der Lüneburger Henker sein Domizil. Sie war nur kurz, und aus ihr ging die Straße An den Brodbänken hervor, die unmittelbar auf den Markt führte. Der Rostocker Ratsherr brauchte keine zehn Minuten, um den Ratsweinkeller zu erreichen.



Dort waren alle versammelt, die eigentlich ein Fest hatten feiern wollen und nun unversehens mit einem Todesfall konfrontiert waren: Reyner und Tidemann Stolzfuß, Piet Peters, der Sohn des Ermordeten, und sogar Bruder Anselm. Jeder hatte einen Becher Wein vor sich, und sie nickten bedrückt, als Grüneberg an ihren Tisch trat und Platz nahm. Augenblicklich erhielt auch er vom Gastwirt einen Becher. Reyner Stolzfuß füllte ihn.



»Was für ein schrecklicher Tag«, meinte der Sülfmeister. »Hat man schon einen Anhaltspunkt?«



Martin Grüneberg schüttelte den Kopf.



»Ich versteh das nicht.« Piet Peters fuhr sich über die Augen. »Was hat mein Vater denn getan?«



»Ich weiß es nicht«, entgegnete Grüneberg.



»Offenbar handelt es sich um eine planvolle Tat«, sagte Bruder Anselm. »Wir rätseln schon eine Zeit lang … Feinde hat er in Lüneburg nicht gehabt.«



»Die Mörder müssen keine Lüneburger sein«, sagte Grüneberg.



»Aber auch in Lübeck …« Piet zuckte ratlos die Schultern.



»Dein Vater war ein wohlhabender Salzherr.« Grüneberg griff nach dem Becher, roch an der Blume, trank aber noch nicht. »Er hatte womöglich Neider oder Konkurrenten.«



»Aber doch niemand, der so etwas tut«, sagte Piet.



»Und in Auftrag gibt?«



»Niemand, ich bin ganz sicher.«



»Es ist aber geschehen«, sagte Grüneberg, »also hatte auch jemand einen Grund.«



Der Ritter von Ritzerow erfuhr von dem Verbrechen, als er um die zweite Nachmittagsstunde aus tiefer Trunkenheit erwachte und im Gastraum seiner Unterkunft zu essen verlangte. Die Magd brachte ihm eine Schüssel mit Rindfleisch und eine Schüssel Schweinebraten, und natürlich wollte der Ritter auch Wein. Während er aß, belauschte er eine Unterhaltung am Nebentisch, wo zwei gut gekleidete Bürger saßen und ebenfalls mit Appetit Rind und Schwein verschlangen. Einen der ihren hatte es getroffen, einen Lübecker allerdings, also einen Gast der Stadt.

 



Der Ritter von Ritzerow mochte die Bürgerlichen nicht besonders. Sie hielten sich viel auf ihre Bildung zugute und konnten lesen und schreiben, was der Ritter nie gelernt hatte und auch nicht brauchte. Er war von seinem Gut in Mecklenburg nach Lüneburg gekommen, um Holz und eine Koppel Pferde zu verkaufen; Holz wurde benötigt, um die Siedepfannen der Saline zu beheizen, und auch die Pferde hatte er verkaufen können. Nun hatte er Geld im Beutel, das er mit ein paar losen Frauen durchbringen wollte. Der Mord an irgendeinem Lüdeke Soundso interessierte ihn nicht.



Als der Ritter die Schüsseln und auch den Krug geleert hatte, kam die Magd zu ihm und erkundigte sich, ob er noch mehr zu essen oder trinken wünsche. Der Ritzerow schüttelte den Kopf. Die Magd hätte er gern vernascht, aber sie war nicht wohlfeil zu bekommen, also ließ er ein paar Pfennige springen und verließ das Gasthaus auf der Suche nach einem kleinen Abenteuer.



Wie überall waren auch in Lüneburg die Frauenhäuser an den Stadtrand verbannt worden. Der Rat profitierte von ihnen, und so mancher Ratsherr gehörte sicher auch zur Kundschaft, aber das bedeutete nicht, dass man sie guthieß. Der Ritter von Ritzerow hatte gegen Frauenhäuser nichts einzuwenden. Würde es nach ihm gehen, hätte man sie auch am Marktplatz errichten können. Das hätte ihm einen weiten Weg erspart.



Das Gasthaus

Zu den vier trunkenen Sonnen

befand sich beim Kloster zum Heiligen Geist, das beste Frauenhaus, so hatte er in Erfahrung gebracht, an der nördlichen Stadtmauer. Um dorthin zu gelangen, musste der Ritter beinahe die ganze Stadt durchqueren. Als er den Markt erreichte, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Wahrscheinlich irrte er sich, aber ihm kam es vor, als hätte er den Rostocker Ratsherrn Grüneberg im Rathaus verschwinden sehen.



Ein Junge, der eine Kiepe mit Holz auf dem Rücken trug, lief dem Ritter vor die Füße. Der Ritzerow ergriff dessen Kittel, hinderte den Knaben auf diese Weise am Weitergehen und wies auf die Tür, durch die der Ratmann gegangen war.



»Was ist dort?«, wollte er wissen.



»Der Ratsweinkeller, Herr.«



Der Ritter ließ den Jungen los und überlegte. Ratsweinkeller, das klang nach einer ausgedehnten Zechtour. Auch für Zechtouren war der Ritter zu haben. Die Frauen konnten warten.



»Nein!«, rief Martin Grüneberg und schüttelte heftig den Kopf. »Das glaube ich nicht. Was treibt denn Euch nach Lüneburg?«



»Begrüßt man so einen Ritter?«, fragte der Ritzerow. »Und was ist das hier für eine Versammlung von Trauerklößen? Wenn man trinkt, ist man doch lustig.«



»Wir nicht, Herr Ritter. Wir haben den Tod eines der unseren zu beklagen.«



»Ach, davon hörte ich.« Unaufgefordert setzte sich Heinrich von Ritzerow auf einen freien Platz neben Bruder Anselm. »Ein Mord, heißt es.«



»Ein Mord«, bestätigte Grüneberg. »Darf ich Euch mit unserer Tafel bekannt machen?«



Martin stellte die Anwesenden vor, und da der Ritter nun einmal da war, berichtete er auch, was vorgefallen war.



»Aus der Menge heraus?«, fragte Ritzerow nach. »Wie geschickt.«



»Also ich muss doch sehr bitten«, schimpfte Reyner Stolzfuß. »Lüdeke Peters war der Schwiegervater meiner Tochter.«



»Wein!«, befahl Ritter Heinrich, als ihm der Ratskellermeister ins Blickfeld geriet. »Für den ganzen Tisch.«



»Ich möchte nicht unhöflich erscheinen«, sagte Bruder Anselm, »aber ich muss mich verabschieden. Ich habe bereits die Gebete zur Tertia und zur Sexta versäumt, ich muss zumindest zur Non meine geistlichen Pflichten erfüllen.«



»Ach, Unfug!«, meinte der Ritter. »Ich habe noch nie mit einem Mönch gesoffen. Haltet Ihr mit?«



»Ihr kennt die Regel, Ritter.«



»Einen Becher Wein könnt Ihr mir nicht abschlagen, Ehrwürdiger Vater.«



»Einen, Herr Ritter«, sagte Anselm und blieb sitzen.







3. KAPITEL





Kopfweh



Im Kloster Sankt Katharinen riefen die Glocken zum Morgenlob, aber Bruder Anselm war nicht in der Lage, sich zu erheben. All seine Glieder schmerzten, aber am schlimmsten litt sein Kopf. Ihm war, als hätte man seine Hirnschale mit kochendem Öl gefüllt, das nun hin und her schwappte, wenn er sich nur ein wenig rührte. Mit einem solchen Kopf war man kein Mensch.



Mit äußerster Anstrengung gelang es dem Mönch, die Augen zu öffnen. Das Dormitorium war leer. Alle Brüder waren jetzt in der Kirche, doch ihn hatte man in Ruhe gelassen; vermutlich konnte man riechen, wie es um Anselm bestellt war. Er hatte sich zu übermäßigem Alkoholgenuss verführen lassen. Das war eine große Sünde, und auch sein Ruf war vermutlich dahin.



Bruder Anselm hob den Kopf. Die Decke des Dormitoriums begann zu kreiseln.



»Wie entsetzlich«, stöhnte der Mönch. Aber er war ein disziplinierter Mann, und nach mehreren Anläufen gelang es ihm, die Pritsche zu verlassen. Er schlüpfte in die Sandalen, und mit kurzen, behutsamen Schritten trippelte er aus dem Schlafsaal. Nur einer konnte ihm jetzt helfen: der Bruder Arzt.



Während er den Kreuzgang entlangging, hörte Anselm den Gesang der Mönche. Sie priesen Gott in den höchsten Tönen, doch er selbst haderte mit dem Herrn, schließlich musste auch der Wein Gottes Werk sein. Anselm hätte sehr viel darum gegeben, wenn der Herr den Menschen das Keltern der Traube nicht gezeigt hätte. Allerdings tat die frische Luft ihm wohl. Der Kopf schmerzte noch, aber die Glieder ließen sich schon wieder etwas besser bewegen.



Im Domus Medicorum, dem Spital des Klosters, musste Anselm noch eine Zeit lang warten, denn auch der Bruder Spittler musste am Gottesdienst teilnehmen. Als er den Rostocker sah, wusste er sofort Bescheid.



»Ich werde dich mit ein paar heilkräftigen Kräutern aus meinem Garten traktieren, und du wirst sehen, rasch ist dir wieder wohl«, sagte er.



»Tausend Dank, Bruder.« Frater Anselm massierte sich die Stirn.



»Wir alle haben Verständnis«, sagte der Spittler. »Du hast wohl gestern einen Freund verloren?«



»So gut kannte ich Peters nicht«, meinte Anselm.



»Erzähl mir, was geschehen ist«, bat der Spittler. Er öffnete ein paar Schubladen, entnahm ihnen getrocknete Blüten, Pflanzenstängel und Wurzeln und zerstieß sie in einem Mörser. Anselm erstattete Bericht.



»Das kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte der Bruder Arzt, als er die Kräuter in Wasser rührte.



»Was kommt dir bekannt vor?«, wollte Anselm wissen.



»Schon als die ersten Gerüchte zu uns drangen, hatte ich so ein Gefühl. Aber jetzt, nachdem du mir noch einmal den Hergang erzählt hast … Kennst du Josephus Flavius?«



»Natürlich«, sagte Anselm. Der Spittler füllte den Kräutersud in einen Becher und reichte ihn dem Rostocker. »Ihr denkt an die Geschichte des Judäischen Krieges? Aber was hat das mit dem Mord an Lüdeke Peters zu tun?«



»Die Sikarier«, sagte der Spittler. Anselm kam das reichlich verschwommen vor.



»Die Sikarier?«



»Warte. Ich rufe einen Novizen und lasse mir das Buch aus der Bibliothek beschaffen.«



Der Spittler verließ die Krankenstation, Bruder Anselm trank langsam den Sud. Er schmeckte gallebitter, und als der Bruder Arzt nach fünf Minuten zurückkehrte, waren die Kopfschmerzen noch immer nicht kuriert. Allerdings regte sich Anselms Magen; plötzlich bekam der Mönch einen Bärenhunger.



»Wie geht’s?«, erkundigte sich der Spittler.



»Aufwärts«, log Anselm. Dann brachte der Novize das Buch.



Der Spittler brauchte fast eine halbe Stunde, um die Textstelle zu finden, auf die er es abgesehen hatte. Bruder Anselm starb währenddessen tausend Tode. Sein Hunger war unmäßig geworden, und in seinem Hirn spielten noch immer Dutzende Posaunisten. Vermutlich hätte er statt des Kräutersuds lieber einen Becher Wein leeren sollen.



»Hier!« Der Bruder Spittler reichte Anselm das aufgeschlagene Buch. Der Rostocker Mönch las laut, was Josephus Flavius über die Sikarier geschrieben hatte.



»Sie begingen am hellen Tage und mitten in der Stadt Morde, mischten sich besonders an Festtagen unter das Volk und erstachen ihre Gegner mit kleinen Dolchen, die sie unter der Kleidung versteckt trugen. Stürzten ihre Opfer zu Boden, so beteiligten sich die Mörder an den Kundgebungen des Unwillens und waren durch dieses unbefangene Benehmen gar nicht zu fassen.«



»Und?«, fragte der Spittler.



»Der Dolch war eher lang«, erwiderte Anselm.



»Du verstehst nicht, was ich meine?« Der Spittler war enttäuscht.



»Doch, Bruder, sehr gut sogar«, sagte Anselm und sprang auf.



»Ihr seht schlecht aus, Ehrwürdiger Vater«, stellte Martin Grüneberg fest. Der Mönch hatte ihn wie erwartet im Haus des Reyner Stolzfuß angetroffen. Dort war man gerade vom Speisetisch aufgestanden, was dem Mönch wieder seinen Heißhunger in Erinnerung brachte: Das Schlimme war, dass er ihn nicht stillen konnte, denn sein Magen bohrte zwar, Anselm brachte aber keinen Bissen hinunter. Die Wirkung des Kräutersuds ließ immer noch auf sich warten.



»Der Ritter hat mich geschafft«, bekannte Bruder Anselm.



»Uns alle«, sagte Grüneberg. »Mit dem kann keiner mithalten.«



Die Stimmung im Haus war immer noch gedrückt. Vor allem die Frauen und hier wiederum die am Tag zuvor unerwartet zur Witwe gewordene Maria Peters machten einen leidenden, verhuschten Eindruck. Offenbar war viel geweint worden in der letzten Nacht.



Reyner Stolzfuß unterbreitete den Vorschlag, seinen Gästen aus der Fremde die Saline zu zeigen. Er hatte dort ohnehin zu tun und meinte, ein wenig Ablenkung könnten wohl alle gebrauchen. Wenig später rüstete man zum Aufbruch und befahl den Dienstboten, die Pferde zu satteln. Bruder Anselm schloss sich an. Er war ein schlechter Reiter, aber den Weg zur Saline auf dem Pferderücken zurückzulegen, traute er sich zu.



Der Sülfmeister Stolzfuß lenkte die kleine Gesellschaft so, dass er den großen Platz Am Sande umging. Dort wurde ein Teil des Salzes zum Verkauf angeboten, dort belud man die Fuhrwerke der Kaufleute, die nach Osten reisten und die Stadt durch das Altenbrücker Tor verließen. Die Johanniskirche schloss den Platz im Osten ab. Reyner Stolzfuß wollte der Witwe den Anblick des Ortes ersparen, an dem ihr Mann Meuchelmördern zum Opfer gefallen war.



Alle folgten ihm durch die Glocken- und die Untere Schrangenstraße, bis er nach Süden in die Kuhstraße bog. Die Glockengießerstraße wurde gekreuzt, dann die Heiliggeiststraße in Angriff genommen; sie führte direkt auf den Platz, auf dem sich die Lambertikirche erhob, und hinter der Kirche befand sich das Tor zur Sülte.



Zu spät fiel Reyner Stolzfuß ein, dass der Ritter von Ritzerow im Gasthof

Zu den vier trunkenen Sonnen

 neben dem Heilig-Geist-Spital Quartier bezogen hatte. Nach der Zecherei vom Vorabend mochte ihm niemand begegnen, und unwillkürlich dämpften die Männer ihre Stimmen, als sie an der Herberge vorbeiritten. Jeder nahm offenbar an, der Ritzerow schlafe noch und könne durch zu lautes Sprechen auf der Straße geweckt werden.



Sie hatten sich geirrt. Der Ritter, der in der Gaststube beim ersten Schoppen Wein gesessen und aus dem Fenster geschaut hatte, war rascher bei seinen neuen Freunden, als diesen lieb war. Natürlich war es nicht möglich, ihn abzuwimmeln, ohne die Höflichkeit zu verletzen. Da auch der Ritter gern die Saline sehen wollte, wurde er von Reyner Stolzfuß kurzerhand aufgefordert, sich anzuschließen.



»Der Mann ist ja wie der Teufel«, flüsterte Anselm, der sich mit Martin Grüneberg ein paar Pferdelängen hatte zurückfallen lassen. Gerade hatte er dazu angesetzt, dem Rostocker Weddeherrn den Verdacht des Spittlers auseinander zu setzen. »Man muss nur an ihn denken, dann erscheint er schon.«



»Unser Ritter ist einfach unverwüstlich«, stellte Grüneberg fest. »Aber Ihr wolltet etwas anderes sagen, Ehrwürdiger Vater.«



»Ja.« Anselm berichtete von dem Einfall des Bruders Arzt, der im

Bellum Iudaicum

 des Josephus Flavius einen Hinweis auf die Täter gefunden haben wollte.



»Dann muss ein kluger, belesener Kopf hinter dem Anschlag stecken«, meinte Martin Grüneberg nachdenklich. »Schließlich ist die

Geschichte des Judäischen Krieges

 kein Erbauungsbuch, das jeder kennen sollte. Und die beiden Ausführenden, die wir unter uns ja getrost die Sikarier nennen können, sie schienen mir eher grobschlächtig und bäurisch zu sein.«

 



»Das mag sein. Aber Ihr sagt es selbst: Es waren nur die Ausführenden. Der Plan muss von einem anderen stammen.«



Am Ende der Heiliggeiststraße wurde wieder die Rauchwolke sichtbar, die sich über der Saline erhob. Da der Wind aus Norden wehte, trieb der Qualm nach Süden aus der Stadt.



»Das sieht ja wie die Hölle aus«, sagte Bruder Anselm.



»Wir haben schließlich auch einen Teufel im Gefolge«, sagte Martin Grüneberg und lächelte unwillkürlich, obgleich ihm nicht danach zumute war.



Vor dem Tor zur Sülte brach Maria Peters zusammen. Hinter Tor und Mauern, die das Salzbergwerk auch zur Stadt hin abschlossen, wurde der Stoff gewonnen, mit dem ihr Mann gehandelt hatte und reich geworden war. Maria Peters fürchtete nicht um den Verlust des Wohlstands, schließlich würde Sohn Piet das väterliche Geschäft fortführen. Doch alles, was mit dem Salz zu tun hatte, erinnerte an Lüdeke. Nachdem alle von den Pferden abgesessen waren, konnte Maria Peters keinen Schritt vorwärts setzen. Sie schien einer Ohnmacht nahe zu sein, also blieben ihr Sohn und die Schwiegertochter Geseke zurück, um sich um sie zu kümmern und sie notfalls zurück in das Haus Am Berge zu begleiten.



Die übrige Gesellschaft machte sich auf den Weg durch das Tor. Eigentlich war es Fremden nicht gestattet, die Saline zu betreten, aber der Begleitung eines Bürgermeisters verweigerte die Wache den Zutritt nicht. Jeder fühlte sich nach dem Zusammenbruch der gebeutelten Frau beklommen, und man hatte wohl auch ein schlechtes Gewissen, weil man seiner Neugierde nachgab; allerdings wusste man Maria Peters in guten Händen.



Nach dem Betreten der Sülte fielen sofort die riesigen Stapel von Holz ins Auge, das zum Betrieb der Siedepfannen benötigt wurde. Mittlerweile hatten die Salinenpächter alles Holz in der Umgebung Lüneburgs aufgekauft und verbraucht, so dass eine Heidelandschaft entstanden war. Der Brennstoff kam nun aus Mecklenburg, wo noch riesige Wälder zur Verfügung standen, aber auch an den Ufern des Stecknitzkanals wurde Holz geschlagen. Die Holzschiffer brachten es bis Lauenburg, wo es dann über Elbe und Ilmenau nach Lüneburg geflößt wurde. Hier verbrannte man es.



Ärmlich gekleidete Frauen füllten Holzeimer mit dem Brennstoff und trugen sie auf dem Kopf zu den Siedehütten. Vierundfünfzig dieser Hütten umgaben den Solebrunnen. Sie waren in Senken errichtet oder in die Erde eingegraben worden, so dass man nur ihre strohgedeckten Dächer sehen konnte. Aus dem Sod schöpften mehrere Sodeskumpane die Sole und gossen sie in Rinnen, die mit den Siedehütten verbunden waren. Aus deren Essen rauchte es heftig.



»Kennt Ihr die Sage von der Salzsau?«, wollte Reyner Stolzfuß wissen. Frau Hildegard, Tidemann und Margarete nickten, die anderen schüttelten den Kopf.



»Du kennst sie?«, wandte sich Elisabeth Grüneberg an ihre Tochter.



»Tidemann hat sie mir erzählt, Mutter«, entgegnete Margarete. »Uns war in der Hochzeitsnacht nur danach, miteinander zu sprechen.«



»Das sollte aber nicht sein«, meinte Elisabeth.



»Aber Mutter, nach diesem Todesfall … Wer kann denn überhaupt noch an etwas anderes denken?«



»Als es die Stadt noch gar nicht gab und die Gegend mit Wald bedeckt war«, erzählte Stolzfuß, »da sollen mehrere Jäger Wildschweine gejagt haben. Sie folgten der Spur eines Tieres und drangen dabei tief in eine hügelige Gegend an der Ilmenau vor. Und was sahen sie dort? Eine große Wildsau schlief in der Sonne, und ihre Borsten waren weiß. Das Tier wurde erlegt, die Männer untersuchten es und stellten fest, dass Salz an den Borsten klebte. Als sie nun die Spuren der Sau rückwärts verfolgten, stießen sie schließlich auf einen Tümpel, in dem sie sich gesuhlt hatte. Das Wasser dieses Tümpels schmeckte salzig. Die Saline war entdeckt.«



»Verehrt man nicht einen Schinkenknochen der Salzsau?«, fragte Margarete.



»Ja, er wird im Rathaus aufbewahrt. Immerhin verdanken wir der Sau unseren Reichtum. Der Sau und vor allem natürlich dem Salz.«



Vor einer der Siedehütten angekommen, wies Reyner Stolzfuß auf eine Figur auf dem Dach über dem Eingang. Es handelte sich um einen Fuß, und man konnte sagen, dass er sich tatsächlich stolz in die Höhe reckte. Damit war die Hütte als Pachtgut des Sülfmeisters bezeichnet. Das sülzbegüterte Michaeliskloster kassierte die Pacht, Stadt und