Der Geselle des Knochenhauers

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»Herr Vater, so dürft Ihr nicht reden«, sagte Peter leise.

»Nein? Ich darf in meinem Haus nicht reden, wie mir der Schnabel gewachsen ist? Weil mein missratener Erstgeborener ein Martinianer ist? Dein Luther bringt doch nur Unordnung ins Reich. Ich bin Metzger, ich weide Tiere aus und verkaufe das Fleisch, und mit Gott bin ich im Reinen.« Heinrich von Alfeld klopfte sich auf die Schulter. »Wirst du Magdalena Klingenbiel heiraten?«

»Wenn Ihr es wünscht.«

»O ja, das tue ich.«

»Dann heirate ich sie.«

»Brav, Peter.« Alfeld nahm den Schürhaken und stocherte in der Glut. »Im Sommer soll die Hochzeit sein. Und nun kannst du gehen. Gute Nacht!«

Die Brüder sangen. Sie lobpreisten den Herrn, was bei Predigerbrüdern nicht weiter verwunderlich war. Eusebius konnte zwar den Text nicht verstehen, aber er erkannte die Melodie. Eigentlich hatte er vorgehabt, am Stundengebet teilzunehmen. Durch das kleine, mit Sackleinen verhängte Fenster drang nicht viel Licht in die Zelle, aber Eusebius war klar, dass es längst tagte.

Er konnte nicht aufstehen. Mors est quies viatoris – finis est omnis laboris, dachte er: Der Tod ist die Ruhe des Wanderers – er ist das Ende aller Mühsal. Nicht, dass er sich prinzipiell den Tod wünschte; trotz seiner apokalyptischen Visionen lebte er gern. An diesem Morgen allerdings hätte er lieber die Ruhe des Wanderers genossen. Tote mussten nicht aufstehen. Sie konnten einfach liegen bleiben, und das für immer. Genauer gesagt, bis zum Jüngsten Gericht.

Eusebius hatte nicht nur Kopfschmerzen, vor allem peinigte ihn ein flaues Gefühl im Magen. Natürlich würde ihm der Bruder Arzt helfen können: ein Kräutertrank, und alles Übel war beseitigt. Die Frage war nur, wie es ihm gelingen sollte, zum Bruder Arzt zu kommen.

Unmöglich, dachte Eusebius und schloss die Augen, heute tue ich keinen Schritt.

»Ehrwürdiger Vater?«, fragte jemand. Es musste ein Mensch sein, denn nur Menschen waren der Sprache mächtig. Dieser Mensch war in Eusebius’ Zelle eingedrungen, ohne dass er es bemerkt hatte. Der Dominikanerpater öffnete die Augen und linste zur Tür. Dort stand ein blutjunger Novize.

»Nein«, sagte Eusebius.

»Nein, Ehrwürdiger Vater?«

»Nein, nein und nochmals nein.«

»Der ehrwürdige Prior meinte, ich solle mich um Euch kümmern.«

»So, meinte er das?« Eusebius ließ den Kopf auf das dünne Kissen sinken. Vermutlich hatte sich im Konvent längst herumgesprochen, dass er am vergangenen Abend mit dem Hildesheimer Weihbischof gesoffen hatte. Seiner Reputation war das offenbar nicht abträglich, denn immerhin hatte ihm der Prior einen hübschen Novizen geschickt.

»Ich habe hier einen Kräutertrank vom Bruder Arzt«, sagte der Knabe. »Trinkt ihn, und alle Eure Leiden sind … Der Bruder Arzt hat so ein komisches französisches Wort benutzt, als er mir den Trank gab. Ich bin doch nur ein Bauernsohn, Ehrwürdiger Vater!«

»Perdu?«

»Ja, so sagte er. Per dü!« Der Novize setzte sich zu Eusebius aufs Bett und lächelte. Aus dem Becher in seiner Hand dampfte es, und es roch nach Minze und Kamille.

Pater noster qui es in coelis, betete Eusebius still vor sich hin. Et ne nos inducas in tentationem – und führe uns nicht in Versuchung. »Wie heißt du?«, fragte er.

»Johannes, Ehrwürdiger Vater«, sagte der Novize stolz. Das war ein schöner Name. Der Täufer hieß so und der Lieblingsjünger Jesu ebenfalls. Aber andererseits ist es nichts Besonderes, dachte Eusebius, die Welt ist voll von Johannessen, und sie wird dennoch bald untergehen.

»Und du bist der Sohn eines Bauern?«, fragte Eusebius. »Warum hat dich dein Vater in den Konvent geschickt?«

»Ihr wart in Rom, Vater?«, erkundigte sich der Novize rasch. Eusebius horchte auf; die Frage nach seiner Herkunft war dem Jungen offenbar unangenehm.

»Ja, ja«, Eusebius machte eine abwehrende Handbewegung, »aber es ist sehr unhöflich, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten. Also noch einmal: Warum hat dich dein Vater in den Konvent geschickt?«

»Ich weiß nicht, Herr. Es hat etwas mit der Stiftsfehde zu tun. Habt Ihr von der Stiftsfehde gehört? Ich verstehe das ja alles nicht. Ich bin viel zu jung. Und ich kann noch nicht mal richtig lesen. Aber das Land meines Vaters … also, das hat alles irgendwie mit dem Bischof zu tun. Und mit dem Herrn von Calenberg. Aber das müsst Ihr den Prior fragen, Heiliger Vater. Der weiß Bescheid.«

»Johannes!«, sagte Eusebius streng. Allmählich fühlte er sich ein wenig besser, obwohl er den Tee noch nicht angerührt hatte. »Ich bin kein Heiliger Vater. So nennt man nur den Papst.«

»Habt Ihr den Heiligen Vater gesehen?«, fragte der Knabe. Er stellte den Becher mit dem Heiltrank auf den Fußboden und schaute Eusebius in einer Weise an, die den Mönch sofort den Blick abwenden ließ. Es war nicht nur kindliche Wissbegier und ein ebenso kindlicher Eifer, die Eusebius in den Augen des Novizen gesehen zu haben glaubte. Eusebius galt als weit gereister Mann, und bei einem Knaben, den man in einen Konvent eingesperrt hatte, erregte ein solcher Mann natürlich ein gewaltiges Interesse. Aber Johannes schien noch etwas anderes von Eusebius zu erwarten, etwas, was er bei den anderen Männern im Konvent nicht fand – und was Eusebius beunruhigte. »Wie ist er?«, fuhr der Junge fort. »Was hat er gesagt? Vater, bitte erzählt mir vom Papst.«

»Ich habe nicht mit ihm gesprochen«, Eusebius schmunzelte. »Aber er mit mir.«

»Und?«, fragte der Knabe atemlos. »Was hat er gesagt?« »Benedicamus Patrem et Filium cum Sancto Spiritu«, sagte Eusebius.

»Vater, Latein kann ich auch nicht.« Johannes rang die Hände. »Ich will ja … Ich will lernen! Könnt Ihr mir nicht alles beibringen? Ihr kennt doch die Welt.«

Kenne ich sie?, fragte sich Eusebius. Ja, ich kenne sie. Und sie ist schmutzig. Habgier und Laster beherrschen sie, mordende und plündernde Landsknechte machen sie unsicher, Päpste, Könige, Kaiser streiten bis aufs Blut noch um das kleinste Stück Land. Sie sprechen vom Glauben und meinen doch immer nur Macht und Besitz.

»Lasset uns preisen den Vater und den Sohn samt dem Heiligen Geist«, murmelte er.

»Ja, das ist das Tedeum«, sagte Johannes eifrig. »Das kenne ich. Aber der Heilige Vater muss doch … Hat er denn nichts anderes zu Euch gesagt?«

»Nein.«

»Was? Ihr habt Euch mit dem Stellvertreter Gottes auf Erden getroffen, und er hat nur das Tedeum gesprochen?« Johannes schaute den Frater verständnislos an.

»Ja, mein Junge. Ecco, wie die Italiener sagen: So ist es! Es war während einer Generalaudienz. Paul III. nahm mich in der Menge nicht einmal wahr. Und die Audienz fand außerdem in der neuen Peterskirche statt, die ja noch eine Baustelle ist. Um nicht zu sagen ein Trümmerfeld. Ob sie wohl jemals fertig wird?«

»Dafür erhebt der Heilige Vater ja den Peterspfennig«, sagte der Novize.

Eusebius schmunzelte angesichts des Eifers, mit dem der Junge sein Wissen unter Beweis stellen wollte. »Ecco.« Er richtete sich mühsam auf. Es war möglich, ohne dass ihn Übelkeit überkam. »Wie alt bist du, Junge?«

»Fünfzehn.«

»Und wie lange im Konvent?«

»Seit sechs Jahren, Ehrwürdiger Vater.«

»Dann kennst du dich aus in der Stadt?«

»Ich verlasse das Kloster nur selten, Vater.« Johannes ging auf die Knie und zog Eusebius die Sandalen an. »Es gibt so viel zu tun. Ich muss vor jedem Stundengebet neue Kerzen aufstecken, ich muss die Kirche kehren und den Kreuzgang und den Klosterhof, ich muss dem Bruder Arzt im Kräutergarten zur Hand gehen und auch dem Bruder Koch. Na ja, und ich muss noch sehr viel lernen. Die vielen gelehrten Bücher im Armarium, die will ich irgendwann alle lesen. Wenn ich richtig lesen kann. Und Latein beherrsche. Aber der Bruder Kantor bringt es mir bei. Ich kann meinen Namen schreiben, und wenn ich mir sehr viel Mühe gebe, schaffe ich die erste Seite der Summa theologica.« Johannes schnürte die Sandalen zu und schaute Eusebius von unten traurig an. »Ich verstehe sie aber nicht«, gab er zu.

»Nicht mal die erste Seite?«

Der Novize schüttelte den Kopf.

»Ich werde dir alles erklären.« Eusebius entsann sich wieder des Auftrags, den Weihbischof Fannemann ihm erteilt hatte – bevor der Wein so reichlich geflossen war. »Aber du musst mir auch helfen, Johannes.«

»Gern, Vater.«

»Von dem Mord in der Badestube hast du gehört?«

»Ich war heute schon auf dem Markt. Die ganze Stadt spricht davon.«

»Und was sagt man?«

»Dass es eine abscheuliche Untat ist.« Johannes richtete sich auf.

»Sicher. Aber haben die Leute auch Mutmaßungen? Wen halten sie für den Täter?«

»Darüber reden sie doch nicht mit mir, Vater«, entgegnete Johannes. »Ich bin für sie ein Mönchlein. Die Leute mögen uns nicht. Sie glauben, dass wir uns auf ihre Kosten bereichern. Dabei besitze ich nichts. Nicht mal meine Kutte gehört mir.«

»Schau auf den Tisch«, verlangte Eusebius. Johannes tat es. »Dort siehst du eine Geldbörse. Nimm ein paar Groschen und beschaffe uns unauffällige Kleider.«

»Aber das darf ich nicht, Vater!«

»Johannes, kannst du schweigen?«

»Das jedenfalls hab ich hier gelernt.«

»Ich habe für den Weihbischof einen geheimen Auftrag zu erledigen«, sagte Eusebius. Das war ein wenig übertrieben, denn Geheimhaltung hatte Balthazar nicht verlangt. Aber es wirkte: Johannes machte große Augen, und seine Wangen röteten sich.

»Wir unterstehen aber nicht der Diözese, sondern direkt dem Papst«, sagte der Junge. »Der Weihbischof kann uns doch gar keinen Auftrag erteilen?«

»Einen geheimen schon«, behauptete Eusebius und ließ Johannes nicht aus den Augen. Es sollte doch mit dem Teufel zugehen, wenn ein bisschen Geheimniskrämerei bei einem neugierigen Jüngling nicht auf fruchtbaren Boden fiel. »Außerdem möchte der Prior doch, dass du mir zur Seite stehst?«

 

»Das möchte er.«

»Also tust du, was ich dir befehle. Und du schweigst!«

»An welche Art von Kleidung dachtet Ihr, Ehrwürdiger Vater?«

»An bürgerliche«, sagte Eusebius. »Aber schlicht.«

»Nun langt doch zu, lieber Waldemar!« Heinrich von Alfeld deutete auf den Rinderbraten mit Oliven und Senf. »Nicht dass Ihr hinterher sagt, Ihr hättet beim künftigen Schwiegervater Eurer Tochter Hunger leiden müssen.«

»Aber mein lieber Heinrich, ich bin satt.« Waldemar Klingenbiel lehnte sich erschöpft zurück. Nach der Biersuppe mit Brot hatte er Biber, Schwanenfleisch und Schweinskopf gegessen, alles erlesene Speisen. Heinrich von Alfeld wollte offensichtlich beweisen, wie gut es ihm ging. Klingenbiel, der Knochenhauer war wie Alfeld, sah mit nur einem Blick auf den Rinderbraten, dass das Fleisch ganz frisch war. Er zögerte. Erst einmal nahm er einen Schluck von dem guten Einbecker Bier.

»Wir könnten auch Wein trinken«, sagte von Alfeld.

»Ich bin zufrieden«, entgegnete Klingenbiel.

»Aber Ihr esst doch noch? Halb verhungert lasse ich Euch nicht gehen.«

»Nun denn.« Klingenbiel zückte sein Messer, schnitt eine dicke Scheibe vom Rinderbraten, bestrich sie mit Senf und belegte sie mit Oliven. Völlerei war eine Sünde, aber es wäre auch Sünde, den Braten kalt werden zu lassen.

»So gefallt Ihr mir«, meinte von Alfeld. »Es gibt dann auch noch Konfekt und Nüsse.«

»Und wir sind uns einig?«, fragte Klingenbiel, um sich noch einmal zu vergewissern, dass alles Wichtige verhandelt worden war; immerhin ging es um die baldige Hochzeit seiner Tochter.

»Wie besprochen. Peter und Magdalena heiraten zu Sankt Johannes Baptista.«

»Das ist gut. Bis zum vierundzwanzigsten Juli bleibt uns noch genug Zeit, die Hochzeit vorzubereiten.« Klingenbiel biss ein Stück vom Braten ab. Das Fleisch war zart und saftig, und das gelang bei Rind nicht immer.

Auch Heinrich von Alfeld bediente sich.

»Damit sich Magdalena an Peter gewöhnt, könnte sie schon heute bei uns einziehen«, schlug er vor.

Um nicht gleich antworten zu müssen, spülte Waldemar Klingenbiel das Fleisch mit Bier hinunter. Alfelds Vorschlag gefiel ihm nicht. Es gab gewisse Gerüchte, dass sich sein Gegenüber gern mit sehr jungen Mädchen vergnügte. Vielleicht war an den Gerüchten nichts dran – Klingenbiel versuchte, sich selbst davon zu überzeugen. Im Hause von Alfelds wäre Magdalena aufs Beste versorgt. Ihr würde es an nichts fehlen. Heinrich von Alfeld war reich, viel reicher als er selbst. Und immerhin zählte auch Klingenbiel zu den wohlhabenden Bürgern. Fast nichts war ihm wichtiger, als seiner Tochter ein gutes Auskommen zu verschaffen. Vielleicht musste sie dafür das eine oder andere Opfer bringen.

Klingenbiel seufzte. »Ein ungewöhnlicher Gedanke«, murmelte er.

»Wir sind handelseinig?«

»Heinrich, das wisst Ihr doch.« Klingenbiel reichte seinem Gegenüber nach kurzem Zögern die Hand. »Es ist immer ein Vergnügen, mit Euch Geschäfte zu machen.«

»Zwei Wünsche noch, wenn es erlaubt ist.« Heinrich von Alfeld ergriff Klingenbiels Hand.

»Selbstverständlich.«

»Erstens: Lass uns Du sagen. Und zweitens: Wir sollten uns verwöhnen. Was hältst du von ein paar Stunden in der Badestube?«

»Eigentlich viel. Aber du traust dich da noch hin?«

»Was soll schon passieren?« Heinrich von Alfeld schlug Klingenbiel auf die Schulter. »Jetzt ist die Badestube doch noch sicherer als Abrahams Schoß.«

Jacob Findling hatte sich entschieden. Er musste handeln, und ihm blieb nur ein Weg. Wieder hatte Marie den Gesellen zu sich gerufen, hatte ihn gelockt und mit ihm zärtliche Worte gewechselt, um ihn dann abrupt von sich zu stoßen. Jacob fühlte sich zutiefst gedemütigt. Aber er verstand Marie auch: Zwischen ihnen stand nun einmal sein Ziehvater, der bei Marie die Rechte eines Ehemanns beanspruchen konnte. Das wollte Jacob endlich auch.

Am späten Vormittag hatte Waldemar Klingenbiel sein Haus verlassen. Jacob hatte eigentlich mit den Lehrjungen Schinken machen sollen, aber das konnten die Jungen auch allein. Er hatte sie instruiert, und dann war er seinem Ziehvater gefolgt. Es regnete nicht mehr, und auch der Wind hatte nachgelassen. Jacob hob den Blick. Der Himmel sah aus, als könne er noch unendlich viele Unwetter verfertigen, aber noch hielt er sich zurück.

Klingenbiel war nicht weit gegangen, nur vom Andreaskirchhof zur Saustraße. Im Haus Güldener Hirsch war er verschwunden. Jacob wusste, wer in diesem Haus mit den überkragenden Obergeschossen wohnte, der Ratsherr und Knochenhauer von Alfeld nämlich. Über dem Tor prangte ein mit Goldbronze bestrichener Hirschkopf. Hier in der Saustraße lebten die reichsten Männer Hildesheims. Von Alfelds Nachbar war Consul Tile Brandis. Sein fünfgeschossiges Haus war noch prächtiger. Das Fachwerk war mit allegorischem Schnitzwerk versehen, das die Gründungslegende Hildesheims darstellte, und dort, wo Jacob die Wohnstube vermutete, gab es einen ausladenden Erker. So reich wie die Familie Brandis würde Jacob sicher nie sein. Aber er befand sich auf dem besten Weg zu einem Wohlstand, der es ihm erlauben würde, Bürger und Meister zu werden.

Jacob tastete nach dem linken Ärmel seines Mantels. Dort befand sich der Dolch.

Wenn Klingenbiel tot war, stand er ihm bei Marie nicht mehr im Wege. War die Trauerfrist verstrichen, würde Jacob um ihre Hand anhalten – zu einem Zeitpunkt, da niemand mehr einen Zusammenhang mit dem Mord vermutete. Marie genösse dann das Witwenrecht, sie konnte das Handwerk ihres Gatten weiterführen, mit einem Gesellen oder eben mit einem neuen Ehemann. Und dieser Ehemann würde Jacob heißen.

Heute noch würde Waldemar Klingenbiel sterben, sollte Jacob den Mut aufbringen, seinen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Er war fest entschlossen, hatte zugleich aber Angst. Wenn die Tat nun misslänge? Sich vorzustellen, einen Menschen zu töten, war das eine. In der Vorstellung genügte ein überraschender Stoß ins Herz. Aber Jacob hatte noch nie jemanden getötet. Vielleicht war das ja viel schwieriger, als er es sich ausmalte. Vielleicht würde Klingenbiel Widerstand leisten.

Und doch musste es sein.

»Du wirkst nachdenklich, Tile«, sagte Gesche Brandis. Da der Arzt ihr Ruhe verordnet hatte, befand sie sich noch in ihrer Schlafkammer, hatte sich aber ausgerichtet. Tile setzte sich zu ihr. Er hatte bereits gearbeitet und die ersten beiden Stunden nach der Morgenandacht in der Schreibkammer verbracht, um seine Geschäftskorrespondenz zu erledigen. Dann hatte ihn die Sehnsucht zu seiner Frau getrieben. Er streichelte ihren Bauch. Wenn er der Urinbeschau des Stadtarztes Vertrauen schenken durfte, wuchs dort ein Sohn heran.

»Ja, ich bin nachdenklich. Der Prediger der Andreaskirche meinte heute Morgen, dass Lutheraner hinter dem Mord an Peter Groper stecken. Er hat die Anhänger des Martinismus in Bausch und Bogen verdammt. Das ist ja nichts Neues. Aber wie man hört, werden sie von allen Kanzeln nicht nur eines unmoralischen Lebenswandels geziehen, sondern auch der Mordlust. Der Mord an Groper passt Weihbischof Fannemann ausgezeichnet ins Konzept.«

»Aber was hast du mit den Lutheranern zu schaffen?« Gesche nahm die rechte Hand ihres Mannes und hielt sie fest. »Als mein Vater noch Bürgermeister war, wagten sie nicht den Kopf zu heben.«

»Das stimmt nicht. Den Kopf gehoben haben sie schon …«

»Aber sie hatten nichts zu sagen.«

»Wohl wahr«, sagte Tile.

»Mein Vater hat eine Delegation nach Burgos geschickt, die Kaiser Karl ein Wappenprivileg für unsere Stadt abringen sollte, was ihr ja auch gelungen ist. Mittlerweile habe ich jedoch den Eindruck, dass seine Verdienste um unsere Stadt sehr schnell in Vergessenheit geraten sind. Das Wappen ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden, und über meinen Vater spricht man nicht mehr!«

»Ich schon, Gesche. Ich habe nicht vergessen, dass dein Vater ein verdienstvoller Mann war. Warum regst du dich auf?«

»Ich rege mich nicht auf!«

»Und ob.« Tile streichelte seiner Frau das Gesicht. Gesche musste sich sehr zusammenreißen, um ihn nicht anzulächeln, das spürte er.

»Ich frage mich nur, warum du auf Seiten der Protestanten stehst«, sagte sie.

»Dort stehe ich ja nicht«, widersprach Tile. »Was dieser Luther über Gott und die göttliche Gnade, was er von der Sünde und den Sakramenten denkt, ist mir egal. Ich bin Ratmann, Gesche, ich stehe auf Seiten meiner Stadt. Und schau dir Hildesheim an. Überall findest du geistliche Immunitäten, wo die Rechtsmacht des Rates nichts gilt. Und das betrifft nicht nur die Domfreiheit. Jedes gottverdammte Kloster verfügt über unbeweglichen Besitz, wo nur geistliches Recht gilt. Jeder Mörder braucht bloß ein paar Straßen weit zu laufen, und schon ist er der städtischen Gerichtsbarkeit entzogen.«

»Komm, Tile, die geistlichen Immunitäten achtet der Rat doch schon lange nicht mehr«, sagte Gesche.

»De facto nicht, da hast du Recht. Aber ich möchte, dass wir auch de jure nicht mehr vor den klerikalen Sonderrechten den Hut ziehen müssen. Wenn der Klerus enteignet ist, fällt auch seine ihm eigentümliche Jurisdiktion.«

»Du bist Lutheraner aus Geldgründen?« Gesche schüttelte den Kopf.

»Du willst mich einfach nicht verstehen. Seit der Stiftsfehde ist Hildesheim arm. Wenn wir das Kirchenvermögen kassieren, steht unsere Stadt viel besser da. Und sie ist endlich ein einheitliches Rechtsgebiet.«

»Und das möchtest du?«

»Das möchte ich, Gesche. Ich will mich nicht länger von Geistlichen an der Nase herumführen lassen, die das Wort Gottes, das sie verkünden, nicht einmal lesen können. Ich bin Geschäftsmann. Mein Alltag wird vom Handel und vom Geld bestimmt. Aber ich gebe es wenigstens zu. Die Kirche wird reich mit Ablässen, aber sie tut so, als gehe es ihr nur um den Glauben. Sie ist eine Mastgans, Gesche, und es wird Zeit, sie zu schlachten.«

»Aber wo bleibt Gott?« Gesche legte ihren Kopf an Tiles Schulter. »Wir dürfen Gott nicht vergessen.«

»Das tue ich auch nicht. Im Gegenteil. Aber der Papstkirche ist Gott längst gleichgültig geworden. Sie ist ein Handelsunternehmen wie die Fuggerei. Gott haben sie vergessen. Sie huldigen nur noch dem Mammon.«

»Und Martin Luther?«

»Er klärt den Glauben zu dem, was er sein sollte: eine persönliche Zwiesprache mit dem Herrn.«

»Du glaubst also nicht, dass Hildesheimer Protestanten hinter dem Mord an Groper stecken?«, fragte Gesche.

»Nein, das ist dummes Zeug. Sie haben ja kein Motiv.« Tile küsste seine Frau auf die Nasenspitze. Er hatte Gesche allein aus dem Grund geheiratet, dass sie die Tochter des nunmehr verstorbenen Bürgermeisters Hans Wildefuer war. Doch mittlerweile liebte er sie, und ihr Körper weckte seine Begierde.

»Ich liebe dich für deinen Eigensinn«, sagte Gesche. »Nur deshalb?«

»Nicht nur. Du bist ein großer, starker Mann.«

»Und du magst große, starke Männer?«

»Nicht alle. Nur einen.«

»Heißt er Tile?«

»Mhm.«

»Und welche Folgerungen soll ich daraus ziehen?«

»Die Antwort findest du unter meinem Hemd.«

Und in der Tat fand Tile dort die Antwort.

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