Revierkampf

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»Passiert das öfters?«, fragte Uhlmann mitten in die halbstündige Stille. »So ein Unfall?«

Flieger zuckte zusammen, als wäre er beinahe eingeschlafen. »Wenn man solche großen Tiere hält, muss man damit rechnen.«

»Das ist keine Antwort«, beschwerte sich Uhlmann.

»Es passiert. Jeden Tag passiert etwas irgendwo. Man hört immer nur von den ganz schlimmen Dingen. Dann kommen immer gleich die Tierschützer.«

Uhlmann grunzte, und Tauner wusste, dass sein Kollege eine konkretere Antwort wollte.

Flieger schien das nun selbst zu bemerken. »Ich kann es nicht genau sagen. Einmal pro Jahr in Europa vielleicht …«

»Gibt es einen Toten?« Jetzt war Uhlmann verblüfft.

»Nein, einen Angriff. Normalerweise hätte man intervenieren können. Die Stern hätte Theo mit dem Wasserschlauch abspritzen sollen, das mögen die Affen gar nicht. Aber erstens war ich nicht dabei und zweitens ist sie nicht lange genug da, sie war bestimmt panisch. Vielleicht dachte sie so ähnlich wie Ihre Kollegin. Dass solche sanften Tiere nicht so sein können. Soviel ich gehört habe, hat sie ein Faible für Theo und umgekehrt auch.«

»Wie ist das denn gemeint?«, mischte Tauner sich ein.

Jetzt lebte Flieger ein wenig auf. »Bei Primaten ist das nicht einfach. Die Pfleger und die Affen müssen sich mögen. Da kann man nicht irgendjemanden hineinstecken. Man kann nur testen, ob die Affen gut mit dem neuen Pfleger können, und wenn nicht, hat es keinen Sinn, ihn da erst einzuarbeiten. Nora Stern hat offenbar einen guten Draht zu ihm. Ich schätze, wenn ihre Umschulung zu Ende ist, werden sie sie zu den Orang-Utans stecken.«

»Vorher macht sie eine Art Zoorunde? Eine Woche in jedem Revier?«

»Nicht nur eine Woche, aber im Prinzip ist es so. Im Primatenhaus ist sie wohl seit drei Wochen.«

»Kann man sich einfach so bewerben?«, fragte Tauner.

»Ich glaub schon, bin mir nicht sicher, fragen Sie da lieber mal den Wittstock. Der stellt die Leute ein und entscheidet, wer nach der Lehre übernommen wird. Martina hat damals auch …« Flieger verstummte abrupt, und Tauner, der sogleich vermutete, ihm würde etwas verschwiegen, erkannte im Spiegel, dass Flieger wohl gerade eben von der Realität eingeholt worden war.

»Warum hat Wittstock so energisch darauf bestanden, dass Sie Ihre Differenzen mit Bormann vor mir zurückhalten?«, fragte er, um Flieger gar nicht erst in zu tiefe Trauer fallen zu lassen.

»Das liegt doch auf der Hand, der Fall ist offensichtlich, und Sie mussten doch gleich die falschen Schlüsse ziehen!« Flieger verzog gequält das Gesicht.

Tauner musste erst einmal nachdenken, wie er das verstehen sollte. »Sie haben jetzt etwas gesagt, von dem Sie glauben, Wittstock sieht das so? Der Fall ist für Sie nicht wirklich offensichtlich. Sie selbst haben ja gleich vermutet, Bormann hätte seine Hände im Spiel!«

»Ja, das habe ich im ersten Affekt gesagt«, flüsterte Flieger.

Uhlmann war auch noch wach. »Nun sind Sie aber zu uns gekommen! War das der zweite Affekt?«

»Ich hab Ihnen doch gesagt, ich will nicht behaupten, Bormann hätte etwas damit zu tun. Mir kam der ganze Unfall seltsam vor und je länger ich darüber rede, desto dümmer fühle ich mich.«

»Viele Menschen brauchen nach dem Tod von einem geliebten Menschen jemanden, dem sie die Schuld geben können. Offenbar hilft das ein wenig über den ersten Schmerz. Jedoch passieren Dinge manchmal einfach, und es gibt nichts zu hinterfragen. Müssen wir da nicht raus?« Uhlmann zeigte auf ein Abfahrtsschild, Tauner bremste ab und wechselte die Spur.

Die Eltern der toten Tierpflegerin wohnten in einem kleinen Häuschen am Waldrand in der Nähe von Neschwitz. Das Grundstück sah gepflegt aus, das Häuschen selbst schien sich unter den Tannen zu ducken. Als Tauner den BMW auf das Grundstück lenkte, kam hinter dem Haus ein älterer weißhaariger Mann gelaufen, an der Hausecke blieb er stehen. Er hielt eine Schaufel wie ein Gewehr quer vor der Brust, als sei er bereit zuzuschlagen, machte jedoch einen eher lächerlichen als einen gefährlichen Eindruck.

»Ihr Vater«, flüsterte Flieger und fühlte sich offensichtlich nicht wohl. Ganz im Gegenteil, auf Tauner machte er den Eindruck, als müsste er sich gleich erbrechen. Deshalb kletterte er schnell aus dem Wagen und öffnete Flieger die Tür.

Als der Vater von Martina Weigelt Flieger erkannte, stellte er die Schaufel auf dem Boden ab. So wie er sie jetzt hielt, konnte man meinen, er brauchte sie als Stütze. »Du kommst zu spät!«, rief er aus und drehte sich um.

Flieger stand hilflos neben dem Auto, Schweiß perlte auf seiner Stirn.

»Wie meint er das?«, fragte Uhlmann, nachdem er sich ächzend aus dem Wagen gestemmt hatte.

»Sie wissen es wahrscheinlich schon«, sagte Flieger leise. »Ich sag es ja, die können mich nicht ausstehen.«

Mussten sie auch nicht mehr, dachte Tauner leicht erzürnt, denn nun waren sie völlig sinnlos eine Stunde lang gefahren. »Herr Weigelt, warten Sie!«, rief er. Er wollte nicht einfach stehen gelassen werden, auch wenn der Alte nicht wissen konnte, dass er Polizist war.

»Die heißen nicht Weigelt, die heißen Ambach, Rudolf und Helene Ambach.«

Besten Dank, dachte Tauner. »Herr Ambach!«, rief er und lief dem Alten nach. Er fand ihn in einem Gärtchen hinter dem Haus. Dort jätete er im Beet Unkraut, die Schaufel stand an die Hauswand gelehnt.

Der Alte richtete sich auf. Aus der Nähe schätzte Tauner ihn auf Mitte 70. »Wer sind Sie denn? Wir brauchen kein Bestattungsunternehmen! Ihr seid ja wie die Scheißfliegen!«

»Mag sein, dass ich Ihnen so vorkomme, aber ich bin Polizist!« Tauner zwang sich ein halbes Lächeln auf, den Rest wollte er sich für Frau Ambach aufheben.

»Und was wollen Sie schon wieder?« Der Alte sah zum Haus.

Tauner folgte seinem Blick, konnte allerdings nichts erkennen, das für ihn von Belang war. »Wieso wieder, waren schon die Kollegen da?«

Der Alte wurde ungehalten. »Ich meinte, was wollen Sie?«

Ja was, dachte Tauner in einem leichten Anflug von Panik. »Wir sind hierher gefahren, um Sie vom Tod Ihrer Tochter zu unterrichten. Anscheinend wissen Sie schon davon.« Zu kümmern schien es sie wenig, dachte Tauner.

»Natürlich!«

»Wer hat es Ihnen erzählt?«

»Es hat sich herumgesprochen. Wenn dieser Scheißkerl es nicht über sich bringt, uns wenigstens anzurufen. Wir haben es beim Bäcker erfahren, vorgestern. Es stand in der Zeitung, und viele kommen nicht infrage, wenn bei den Orang-Utans eine 50-jährige Frau ums Leben kommt. Ich hab ihr gesagt, sie soll sich etwas anderes suchen. Diese hinterhältigen Mistviecher, es musste ja so kommen.«

»Es war ein Unfall!«

»Ein Unfall, ist klar!« Der Alte lachte auf und winkte ab. »Der hat sie umbringen wollen. Die sind schlau! Haben Sie die mal beobachtet? Ihnen mal in die Augen gesehen? Die wissen, was Sie denken! Die wissen das besser als Sie selbst! Ich lasse mich nicht von denen täuschen. Der Drecksack sollte eingeschläfert werden!«

»Rudolf«, rief vom Haus eine Frau.

Ambach wandte sich von Tauner ab und setzte seine Gartenarbeit fort. Tauner ging zu Frau Ambach, die aus dem Fenster sah. »Mein herzliches Beileid. Ich bin von der Kriminalpolizei Dresden. Ich soll den Unfall untersuchen.«

»Und was machen Sie dann hier?«, fragte die alte Frau entrüstet. Sie hatte schmutziggraue Haare und ihr Mund schien versteinert.

Das war keine nette Omi, dachte Tauner alarmiert und investierte ein ganzes Lächeln. »Vielleicht können Sie ein paar Aussagen über die persönlichen Verhältnisse Ihrer Tochter machen.«

Die Ambach beugte sich aus dem Fenster und verengte ihre Augen zu Schlitzen. »Glauben Sie, der Flieger hat sie umgebracht?«, flüsterte sie.

Tauner beugte sich ebenso vertraulich nach vorn. »Er hätte den geringsten Grund dazu, oder? Vielleicht hatte der Herr Bormann seine Hände im Spiel?«

Ambach schüttelte bedächtig und doch bestimmt den Kopf. »Das glaub ich nicht, der hätte eher dem Flieger den Hals umgedreht.«

Tauner speicherte diese Aussage als nutzlos ab, er hatte sich nicht wirklich etwas erhofft. Was auch immer der Flieger zu sagen gehabt hatte, es war eine Art Schockreaktion, da hatte der dicke Uhlmann schon recht. »Ich habe gehört, Ihre Enkel stehen Ihnen nicht sehr nahe? Hatten Sie einen guten Kontakt zu Ihrer Tochter?«

Frau Ambach wich ein paar Zentimeter zurück. »Sie stellen hier recht persönliche Fragen!«

»Ich frage mich nur, ob die Kinder von Frau Weigelt es schon wissen.«

»Bestimmt, der Zoodirektor wird es ihnen schon gesagt haben.« Frau Ambach sah an Tauner vorbei, und Tauner folgte dem Blick mit einer halben Drehung. Wie zufällig war ihm Herr Ambach näher gekommen, hielt seine kleine Unkrautharke in der rechten Hand.

Tauner trat ein wenig zurück, einfach nur, um beide im Blick zu haben. »Es ist kein Geheimnis, Sie können Flieger nicht ausstehen.«

Das war das richtige Thema für Herrn Ambach. »Er ist ein Feigling, ein Schleicher, er kommt sogar mit Polizeischutz zu uns.« Ambach lachte böse. »Der soll sich trauen, zur Beerdigung zu kommen.«

Nun hielt es Tauner für angemessen, sich einzumischen, schließlich wollte er von Pia nicht genötigt werden, zur Beerdigung zu gehen, um Flieger zu beschützen. »Immerhin hat Ihre Tochter sich den Mann ausgesucht.«

»Meine Tochter hat schon viele seltsame Entscheidungen getroffen«, sagte Frau Ambach leise, dann zog sie sich zurück und schloss das Fenster.

»Da geht’s zum Tor!«, sagte Ambach und deutete in die entsprechende Richtung.

Frau Diekmann-Wachte seufzte leise und schob ein paar Papiere auf ihrem Schreibtisch zurecht. Tauner wartete geduldig, es war angenehm kühl im staatsanwaltlichen Büro, eine Wohltat nach der staubigen Hitze der Autobahn. Der Tag war schon sehr fortgeschritten, es roch nach Feierabend. Uhlmann sah aus, als wäre er in seinem Stuhl eingeschlafen, doch das täuschte. Es war die Spezialität von Tauners Kollegen, völlig regungslos dazusitzen und durch schmale Augenschlitze alles zu beobachten.

 

»Was stellen wir jetzt damit an?«, fragte die Staatsanwältin ein wenig ungehalten. Tauner konnte sie sogar verstehen. Für sie, wie für ihn und alle anderen, schien der Fall abgeschlossen, noch ehe er begonnen hatte. Und nun kam plötzlich dieser schmale Mann, der seinen Verlust nicht verarbeiten konnte, und machte eine solche Aussage. Eine solche vage Aussage, mit der niemand etwas anfangen konnte, der nicht täglich mit den Tieren etwas zu tun hatte.

Die Staatsanwältin legte die Unterarme auf den Tisch und sah Tauner fragend an. »Nun?«

Tauner hob die Schultern. Ab und an dürften auch andere etwas entscheiden. Und einfach so dazusitzen und die Diekmann-Wachte zu betrachten, war auch ganz nett. Heute hatte sie sich für den Schneewittchen-Look entschieden. Ihre Haare waren seit einigen Monaten schwarz, wodurch ihr Gesicht fast weiß wirkte. Sie trug einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse. Der knallrote Lippenstift hätte wohl an jeder anderen Frau ein wenig aufdringlich oder gar nuttig gewirkt, bei der Staatsanwältin war jedoch die Farbe ein gezielter Akzent mitten im schwarz-weißen Ensemble. Tauner fragte sich, in welches Fitnessstudio sie ging und ob die Männer dort ab zu etwas von dem sahen, was die Diekmann-Wachte unter ihrer Kleidung verbarg, in der Sauna vielleicht.

»Wenn Sie fertig sind mit Starren, erzählen Sie mir, welchen Eindruck Sie von den Eltern der Toten haben«, meinte die Staatsanwältin. »Mich macht Ihre Aussage stutzig, die hätte das scheinbar gar nicht richtig interessiert.«

Hätte er nur nichts davon gesagt, dachte Tauner und richtete sich in seinem Stuhl auf. »Der Flieger meinte, es gäbe da wohl einen Disput in der Familie, offenbar zieht der sich durch alle Generationen. Der Tod ihrer Tochter hat sie anscheinend nicht sehr getroffen.«

»Wissen denn die Kinder von Frau Weigelt davon?«

»Woher soll ich das denn wissen?«, fragte Tauner. Und was sollte die Frage, war er jetzt zum Boten für schlechte Neuigkeiten degradiert?

»Sie waren doch bei den Eltern, haben Sie sich nicht mit denen unterhalten?« Diekmann-Wachte blickte ihn ehrlich an. Jeder andere Mensch hätte ihr das abgenommen, Tauner nicht, dazu kannte er die junge Frau zu gut. Der Lippenstift war bezeichnend für sie. Er verhieß das Paradies, entpuppte sich jedoch schnell als das Gegenteil, und zwar als Jüngstes Gericht.

Tauner beschloss, es auf eine andere Weise zu probieren, anstatt direkt auf Konfrontationskurs zu gehen. »Die Ambach nahm an, der Zoodirektor hätte die Kinder der Weigelt informiert. Dem bin ich nicht weiter nachgegangen. Und bestimmt habe ich 20 andere Fragen vergessen. Morgen fahren wir noch einmal dahin!«

Uhlmanns Stuhl drehte sich ihm ein paar Zentimeter zu, so weit, bis der Dicke seinem Kollegen aus dem Augenwinkel einen Blick zuwerfen konnte.

»Ich sage Ihnen, was Sie beide morgen machen! Zuerst gehen Sie in den Zoo und führen ein paar Gespräche. Drohen Sie ruhig mit Vorladungen, falls jemand nicht dazu bereit ist. Versuchen Sie der Aussage auf den Grund zu gehen. Außerdem können Sie ein wenig Recherche betreiben, über Unfälle in Zoos. Sie haben nicht zufällig ein paar Zeugen vom Unfall aufgenommen?« Diese Frage ging an Tauner.

Der schüttelte den Kopf. »Ich bin meinen Kindern nachgelaufen.«

»Sind die nicht schon groß?«, fragte die Staatsanwältin.

»Ja, sind sie, aber deshalb nicht weniger beleidigt, weil meine Arbeit mir wieder einmal wichtiger war.«

»Das war ja nun wirklich akut, da hätten Sie nicht einfach untätig bleiben dürfen!«

Tauner setzte ein Lächeln auf, eines, mit dem er eine seiner harmloseren Sarkasmen ankündigte. »Ich gebe Ihnen die Telefonnummer, dann können Sie es ihnen erklären.«

Der Staatsanwältin schien die Ironie jedoch nicht zu bemerken. »Na immer her damit!«

»Ach was, das war nur Spaß!« Tauner winkte ab und erhob sich. »Wir sind doch fertig für heute, oder?«

»Nein, ich wollte Sie noch fragen, ob Sie heute Abend mit mir Essen gehen?«

Uhlmann verschluckte sich fast an dem Gehörten, und Tauner wusste nicht, wie er die Frau ansehen sollte.

»War nur Spaß!« Diekmann-Wachte schüttelte den Kopf über so viel Naivität. »Wenn Sie mit dem Zoobesuch fertig sind, würde ich Sie bitten, die Kinder der Verstorbenen aufzusuchen. Sollte es keine weiteren Auffälligkeiten geben, werde ich den Fall übermorgen abschließen und den Leichnam freigeben. Schönen Abend noch!«

»Ich finde das nur fair!«, hatte Pia eine halbe Stunde später dazu zu sagen.

»Fair? Wem oder was gegenüber?«, fragte Uhlmann. Was ihm jetzt zum Glück fehlte, war Ruhe und eine Flasche Bier, alles andere hatte sich auf morgen verschoben.

Pia tat, als wäre es offensichtlich und die Frage völlig überflüssig. »Fair dem Affen gegenüber«, sagte sie, während sich Tauner Aktennotizen machte und fest entschlossen war, sich heute auf keinerlei Verbalgeplänkel einzulassen.

»Dem ist das doch egal«, grunzte Uhlmann.

»Er wird in der Presse als Mörder gehandelt. Hier!« Pia hob eine Boulevardzeitung in die Luft und klopfte auf das Titelblatt. ›Mörderaffe‹, stand da geschrieben. Tauner hatte schon schlechtere Schlagzeilen gelesen.

Uhlmann ließ seinem Mund ein unflätiges Geräusch entweichen. »Na, wenn der Affe einer ist.«

»Es ist kein Mord, der Mörderaffe ist immer noch ein Tier. Es war ein Unfall! Die Folge davon, dass er eingesperrt ist und schlecht behandelt wird. Bestimmt war es einfach eine Instinkthandlung und niemand hat das Recht, ihn als Mörder zu bezeichnen. Außerdem kommen jetzt jeden Tag ein paar Tausend Leute in den Zoo und starren ihn an und können es offenbar kaum erwarten, dass er noch jemanden umbringt. So ein Primat ist nicht einfach nur ein Tier, er hat Gefühle, er nimmt die Stimmung wahr, und bestimmt schlägt sich diese auf seinen Gemütszustand nieder. Das ist wie beim Menschen. Ein Mensch merkt es doch auch gleich, wenn niemand ihn leiden kann.«

Uhlmann grinste breit. »Du widersprichst dich fast im selben Satz. Wenn er ein so sensibles Wesen ist und Gefühle hat wie ein Mensch, dann hat er vielleicht auch aus Mordlust gehandelt, auch ein sehr menschliches Gefühl.«

Zum Glück hatte er das nicht gesagt, dachte Tauner.

»Du bist genauso blöd wie du dick bist!«, fauchte Pia.

»Ich hab schon sechs Kilo abgenommen!«, freute sich der Beleidigte ungerührt.

Pia nahm ihre Tasche. »Tschüss«, sagte sie knapp und verschwand aus der Tür, die ein wenig lauter zufiel als nötig.

Uhlmann drehte sich zu Tauner. »Ich habe geschwindelt, es sind nur zwei!«

5

»Wer sind denn Sie?«, fragte Tauner am nächsten Morgen verblüfft. Der Zoo hatte noch nicht für das Publikum geöffnet, die Sonne schien schon warm und verhieß einen schönen Tag. Gegen Mittag würde er anders darüber denken, wusste Tauner. Er war mit Uhlmann seinen Ausweis zeigend am Wachdienst vorbeimarschiert und zum Primatenhaus gelaufen. Eine Frau kam aus dem Orang-Utan-Haus, mit einem Eimer in der Hand. Sie schien so alt zu sein wie Nora Stern, vielleicht ein paar Jahre älter, wirkte trainiert und doch sehr fraulich und hatte eine blondierte Kurzhaarfrisur.

»Wer sind denn Sie?«, fragte die Frau zurück und erinnerte ihn mit dieser Gegenfrage an sein erstes Zusammentreffen mit Wittstock. Jetzt lächelte sie ihn auffordernd an. Tauner mochte das, auch den herausfordernden Blick der grauen Augen.

»Ich bin der Herr Hauptkommissar Tauner und der Schattenspender neben mir ist Hauptkommissar Uhlmann!«

»Ich bin Frau Kerstin Müller und ich mag Schatten.« Müller hob die Hand und reichte sie zuerst Uhlmann, der sie nahm, als wäre sie aus Porzellan.

»Sind Sie hier Tierpflegerin?«, fragte Tauner.

»Ja, bei den Orang-Utans, ich hatte in den letzten drei Tagen keinen Dienst.«

»Warum hat mir Wittstock nichts von Ihnen erzählt?«

Müller lächelte ausgesprochen nett, und Uhlmann strahlte sie an, wie er sonst nur die Weihnachtsgans anstrahlte. »Vermutlich haben Sie ihn nicht gefragt!«

Tauner konnte dem nur Unmut entgegenbringen. »Darf ich Sie gleich hineinbitten, ich hätte ein paar Fragen an Sie!«

Die Tierpflegerin nickte, doch erhob Einwände. »Ich muss jetzt erst mal eine kleine Revierrunde machen, die Flamingos gehören nämlich auch mit zu meiner Arbeit. Außerdem weiß ich nicht, ob ich Ihnen hier einfach so irgendetwas erzählen darf.«

»Ich bin mir sicher, Sie dürfen das«, sagte Uhlmann und nahm die Frau sanft am Handgelenk, um sie ebenso sanft eine 180-Grad-Drehung vollführen zu lassen.

Müller sah ihn bewundernd an, und Tauner konnte nur die Augen verdrehen. Solange ein Mann tanzen konnte, schien einer Frau alles andere egal zu sein, und zu allem Übel konnte Uhlmann tanzen, trotz steifem Genick, Übergewicht und Schuhgröße 48.

Nun fanden sie sich wieder in der Futterküche ein, am für Uhlmann viel zu kleinen Tisch. Es roch nach frischem Obst und im Hintergrund hörte man die leisen Geräusche der Orang-Utans.

»Wissen Sie, wie Herr Bormann, Frau Weigelt und Herr Flieger zueinander standen?«, fragte Uhlmann, denn Tauner hatte ihm das Geschäft überlassen.

»Das wusste jeder.« Kerstin Müller winkte ab, schien ein bisschen beleidigt darüber, nichts Neues erzählen zu können.

»Wussten Sie, dass die Beziehungen sich zeitlich ein wenig überlappten?«

»Ich wusste es schon lang. Frauen unterhalten sich ab und an über so etwas.« Müller zwinkerte Uhlmann zu.

»Hatten Sie ein gutes Verhältnis zu Frau Weigelt?«

»Sie war eine gute Kollegin, immer höflich und freundlich. Unser Verhältnis war nicht immer das beste. Es schwankte manchmal ein wenig. Ich wurde nicht immer schlau aus ihr, vermutlich lag das an ihren Familienverhältnissen.«

»Was wissen Sie über die?«

»Wahrscheinlich nicht viel. Alles ziemlich kaputt, glaube ich. Darüber sprach sie kaum. Und wenn sie mal darüber sprach, hatte man die nächsten Tage das Gefühl, sie bereute schon wieder, sich ein wenig geöffnet zu haben.«

Uhlmann sah zu Tauner. Der tat ihm keinen Gefallen und hob ganz leicht die Schultern. Was sollte man noch fragen?, dachte er bei sich.

»Wie viele Leute arbeiten hier?«, fragte Uhlmann.

»Immer zwei. Sicherheitsvorschrift. Damit nichts passiert. Wenn einen erst mal ein Affe gepackt hat, lässt er nicht mehr los.«

»Nun ist es ja doch passiert.«

Frau Müller seufzte und hob die Schultern. »Man kann nicht immer überall zu zweit sein. Martina ist vielleicht gestolpert und gegen das Gitter gefallen. Außerdem war Nora da, sie hat nur leider falsch reagiert. Sie hätte den Wasserschlauch nehmen sollen.«

»Wurde sie denn nicht geschult?«, fragte Tauner dazwischen, alle schienen gewusst zu haben, was zu tun war, nur die Stern nicht.

»Natürlich wurde sie das, aber wenn man unter Schock steht, handelt man eben manchmal falsch. Das werden Sie wahrscheinlich öfter erleben als ich.«

Tauner nickte. »Kann schon sein. Der Tod Ihrer Kollegin scheint Ihnen auch nicht so viel auszumachen.«

Müller wandte sich an Uhlmann. »Er ist wirklich sehr sensibel, oder?«, fragte sie. Uhlmann schnaubte und die Tierpflegerin widmete sich wieder Tauner. »Haben Sie schon einmal davon gehört, dass manche Menschen ihre wahren Gefühle verbergen, vor allem vor wildfremden Menschen? Natürlich bin ich sehr betroffen, doch ich muss hart sein, denn in einer halben Stunde rücken hier ein paar Hundert, wenn nicht sogar Tausend Menschen an und die Hälfte von denen ist der Meinung, dass wir Tierquäler sind und nichts Besseres verdient hätten. Da darf man nicht in der Ecke sitzen und flennen. Und außerdem haben wir ein sehr profanes Problem. Da wir nämlich jetzt nur noch zu dritt sind mit Frau Stern, müssen wir Überstunden schieben. Unser Urlaub wurde fürs Erste gestrichen.« Ein ›Basta‹ hing unausgesprochen in der Luft.

»Okay«, sagte Tauner, dann mag sie mich eben nicht, sondern den Dicken. Da muss ich mich nicht in Zurückhaltung üben. Er versuchte, den leicht belehrenden Ton der Müller zu treffen. »Und wer erfüllt jetzt die Sicherheitsvorschriften? Ich sehe nämlich nur Sie und niemand anderen.« Irgendwie hörte sich Tauners Frage wie das höhnische Bäh-bäbäbä-bäh im Kindergarten an.

 

Kerstin Müller erhob sich. »Nora sollte da sein, ist jedoch ausgerechnet heute zu spät.«

Tauner erhob sich ebenfalls. Wittstock mochte mittlerweile eingetroffen sein, seine Befragung schien Tauner vielversprechender. Als er die Futterküche verließ, hörte er Müller fragen, ob er immer so grob sei, was Uhlmann umgehend bejahte.

Als er durch die Personaltür nach draußen trat, fuhr ihn beinahe Nora Stern mit dem Fahrrad um. Erschrocken und abgehetzt sprang sie vom Rad. »Oh Mann!«, keuchte sie, nahm den Helm ab und hängte ihn an den Lenker. Haare klebten an ihrer verschwitzten Stirn. »Können Sie mal die Tür ranmachen, sonst komm ich nicht vorbei.« Ihr Rad blieb an der Tür hängen und Nora Stern zerrte unwirsch an ihrem Gefährt.

Tauner wunderte sich und zog die Tür zu sich heran. Stern schob ihr Rad weiter, und jetzt erst konnte Tauner den Kinderanhänger am Rad sehen.

»Ich fahr heute zum ersten Mal mit dem Anhänger und hätte ich gewusst, wie blöd das geht, hätte ich es gelassen. Bin dreimal hängen geblieben und fast gestürzt.« Sie schob das Rad ein Stück bis hinter das Gebäude und lehnte es dort ein wenig lieblos an die Wand. Der Anhänger verhinderte, dass es umfiel. »Ich hole manchmal die Kinder meiner Freundin aus der Kita. Ab morgen fahr ich wieder mit der Bahn. Was machen Sie denn hier?«

Tauner hob die Schultern. »Einfach ein paar Fragen stellen. Gehört zur Polizeiarbeit.«

Die junge Frau nickte und starrte Tauner dabei wütend an. »Die wollen mir das jetzt anhängen, hab ich recht?«

»Was denn?«, fragte Tauner misstrauisch.

»Die suchen jetzt eine Dumme, stimmt’s? Bestimmt hat die Müller Ihnen erzählt, ich hätte mich falsch verhalten, stimmt’s?« Stern wollte an ihm vorbei ins Haus huschen.

Tauner hielt sie fest. »Nun machen Sie mal halblang. Frau Müller hat nichts dergleichen gesagt.«

»Die Müller denkt, ich kann das alles nicht. Die kann mich nicht leiden, weil ich eine Umschülerin bin, die behauptet, ich nehme den richtigen Lehrlingen die Ausbildungsplätze weg. Aber erstens ist das nicht mein Problem, denn ich habe mich beworben, weil die Arbeitsagentur mir den Tipp gegeben hat, und bin angenommen worden. Und zweitens bin ich doch nicht weniger wert, weil ich eine Umschülerin bin, oder?« Stern sah Tauner fordernd an.

Tauner wusste einen Moment lang nicht, wohin mit seiner Gestik und Mimik. Wer mochte das schon wissen, konnte man aus diesen Bewegungen deuten.

»Na, ich seh schon«, murrte sie unwillig und wollte an Tauner vorbei.

»Warten Sie doch mal, können wir uns nicht in Ruhe unterhalten? Letztens waren Sie so aufgelöst, vielleicht können Sie mir noch etwas erzählen?«

»Soll das jetzt ein Date werden?«, fragte Nora Stern erstaunt, und ehe Tauner verneinen konnte, kam Uhlmann heraus.

»Komm mal kurz!«, sagte er zu Tauner.

Falk sah sich zu der Umschülerin um. »Ich komme wieder.«

Uhlmann war ein paar Meter weiter gelaufen. »Also es muss wohl einen heftigen Disput gegeben haben vor dem Unfall«, sagte er, als Tauner bei ihm angekommen war. »Frau Müller weiß nichts Konkretes. Sie selbst war ja nicht da. Ihr wurde gesagt, dass jemand gehört hätte, wie sich zwei Personen angeschrien haben.«

Tauner ließ Luft entweichen wie ein kaputter Schwimmreifen. »Also ich war selbst hier, kurz bevor es passiert ist, und ich hab nur Leute schreien hören, kleine Kinder, die geschrien haben; andere Kinder, die Kinder angeschrien haben; Erwachsene, die Kinder angeschrien haben. Wer soll denn das gewesen sein, wer hat das gehört?«

»Das weiß die Müller nicht!« Uhlmann wischte sich den Schweiß von der Stirn, sie standen in der prallen Sonne, und auch Tauner war zu warm im Jackett.

Am liebsten hätte er sich Eis essend vor irgendein Gehege gesetzt, in dem nur harmlose Tiere zu sehen waren. Kamele vielleicht, von denen hatte er noch nie Schlechtes gehört. »Frau Müller will sich doch nur wichtigmachen. Die weiß nichts!«

»Warum soll sie das?«, fragte Uhlmann und wusste warum. Er hatte nur gefragt, um zu hören, was Tauner jetzt sagte.

»Weil sie auf den dicken Herrn Uhlmann steht! Hans, wenn das die Diekmann-Wachte hört, lässt die uns hier alles noch einmal abgrasen mit Spurensicherung und Pipapo. Die will das Sommerloch füllen, und wir sind der Gips!«

»Wenn es wirklich ein lautstarker Streit war, hat vielleicht jemand im Affekt gehandelt und aus dem Unfall wird Totschlag! Vielleicht hat jemand die Weigelt gestoßen und sie ist dem Affen quasi in die Arme gefallen.«

Tauner winkte ab, hatte sich doch schon geschlagen gegeben. »Ja, nur weil du die angenehm gerundete Frau Müller noch ein paar Mal bei der Arbeit sehen möchtest, nicht wahr?«

»Nu klor!«, sagte Uhlmann und tat so, als wäre es nicht so. »Und die …« Er deutete auf Nora Stern, die gerade ein Fahrradschloss durch die Speichen ihres Hinterrades schob. »… ist viel zu jung für dich!«

»Die ist 27. Ob du es glaubst oder nicht! Das wäre nicht zu jung.«

»Ich glaube es, denn ich hab es gelesen. Somit ist sie optisch fast 30 Jahre jünger als du.«

Tauner winkte ab und wollte wieder zur Stern.

»He, warte!«, rief Uhlmann. »Ich hab mich verrechnet. 40 Jahre!«

»Du Rundvieh«, murmelte Tauner.

Müller hatte zu tun, Tauner hörte sie mit den Tieren sprechen. Er betrat die Futterküche und wich leicht peinlich berührt zurück. Nora Stern stand vor dem alten Spind, entledigte sich ihres verschwitzten T-Shirts und schien gerade im Begriff, ihren BH zu öffnen. Sie hätte ihn warnen können, dachte Tauner, während er die gegenüberliegende Wand anstarrte. Schließlich hatte sie ihn gerade hereingelassen.

»Jetzt dürfen Sie gucken!«, sagte die junge Frau, was nur bedeuten konnte, sie hatte seinen kleinen Fauxpas bemerkt, oder sogar …, dachte Tauner und brach den Gedanken sogleich ab, weil er zu dumm war.

Tauner betrat nun die Futterküche. »Wie verhält sich der Affe?«

»Wie soll er sich denn verhalten?« Stern sah Tauner fragend an, und er schalt sich einen Idioten, schließlich hatte er es nicht mit einem Menschen als Täter zu tun.

»Ich weiß auch nicht«, murmelte er.

Stern lächelte unsicher, wirkte in diesem Moment wie ein kleines Mädchen. »Es fällt einem schwer, ihm keine Mordlust zu unterstellen. Sie hätten ihn sehen sollen, er war gar nicht wütend. Er war ganz ruhig.«

Tauners Erinnerung war noch frisch. »Ich hab ihn gesehen!«

»Wissen Sie …« Stern sah sich um, ob es weitere Zuhörer gab, und war mit dem Ergebnis zufrieden, sie waren allein. »Manchmal denke ich, die sind viel schlauer als wir. Die halten sich einfach nur zurück. Die Eingeborenen in Borneo sehen das genauso. Orang-Utan heißt ja einfach nur Waldmensch. Die glauben dort, dass Orang-Utan einfach nur arbeitsscheue Menschen sind und sich deshalb zurückgezogen haben!«

»Waren Sie schon mal da?«, fragte Tauner. Nora Stern wirkte keinesfalls wie fast 30, manchmal schien sie noch etwas kindlich zu sein und weckte damit Gefühle in Tauner, die er gar nicht richtig definieren konnte.

Jetzt sah sie ihn mit großen Augen an. »Oh nein, aber ich würde so gern mal da hinfahren.«

»Was glauben Sie, wo ich überall hinfahren will«, brummte Tauner und fragte sich, warum er es nicht einfach tat. Er war frei und ungebunden, hatte genügend Geld und musste nur ein Ziel auswählen. Vielleicht sollte er das einfach tun. Patagonien wäre so ein Ziel. Tauner wusste gar nicht recht, was ihn dort erwarten würde, doch der Name verhieß kalte Winde, die einem üble Gedanken aus dem Kopf bliesen, und Wellen, die an der Steilküste brachen. ›Ich fahre nach Patagonien‹, könnte er per SMS an die Zentrale senden, sollten die selbst sehen, was sie damit anfingen.

»Herr Hauptkommissar?«, fragte Stern schüchtern, und Tauner sah erschrocken auf. »Ich müsste jetzt an die Arbeit.«

Tauner hob die Hand, noch immer halb abwesend. Dann fiel ihm etwas ein, das ihn selbst interessierte. »Wie geht man denn jetzt mit dem Tier um? Haben Sie keine Berührungsängste?«