Ich rede zu viel

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Die Kids, die damals eine Universität besuchten, gehörten zu einem bestimmten Personenkreis. Sie dürsteten nach Wissen. Anschließend wurde daraus eine Art unsichtbare Auszeichnung. Meine Kinder haben sie auch erhalten. Doch kürzlich meinte mein jüngster Sohn, der Psychologie studiert, zu uns: „Ich bin mir da nicht so sicher.“ Ich dachte nur: Meine Güte! Meiner Einstellung nach sollte man mit dem Lernen nie aufhören, egal, wie gut oder schlecht man ausgebildet ist. Allerdings stellt der Besuch einer Universität keine Garantie dar. Ich habe eine Menge dummer Leute kennengelernt, die auf einer Uni waren, und viele schlaue Menschen, die keine besuchten. Und umgekehrt! Die Regel besagt in dem Fall, dass es keine Regel gibt. Heute lassen sich die Freunde meiner Frau mit dem Völkerbund vergleichen. Es sind Australier, Amerikaner, Neuseeländer, Thailänder, Japaner und einige Inder, Iren und Iraner. Ich habe sie schon in der Vergangenheit gefragt: „Warum seid ihr so bedacht darauf, dass eure Kinder die Universität besuchen?“ Sie antworteten: „Damit sie einen guten Beruf bekommen.“ Daraufhin antwortete ich: „Sollten sie nicht einfach zufrieden sein?“ Mit einem „guten Job“ meinen sie natürlich Geld. Das bedeutet ein nettes Auto, ein schickes Haus und all das andere Zeug. Als ich noch ein Teenager war, runzelte man darüber die Stirn, genauer gesagt, über die Flagge des Kapitalismus.

Ich wünschte, all das schon als Kind gewusst zu haben. Stattdessen fühlte ich mich meist als Außenseiter, als komischer Kauz. Ich bin mir sicher, dass das auf viele während der Schulzeit zutraf. Bei mir hatte das partiell etwas mit meinem „fremden“ Akzent zu tun, teils Northern, teils Italienisch, teils Cockney. Ich weiß nicht mehr, wie oft man mich als Kind auf meine angeblich affektierte und „affige“ Aussprache angesprochen hat. Wie sie darauf kamen, ist mir immer noch ein Rätsel. Viele der anderen Kinder glaubten, wir seien reich oder zumindest wohlhabend. Das traf auch auf die Bandmitglieder zu, als wir im Teenageralter die ersten Sessions spielten. Irgendwie nahmen die Leute immer an, dass ich eine Menge Geld besäße. Doch wir lebten in keiner Villa, sondern nur in einem hübschen Haus. Mum und Dad strebten nach eigenem Immobilienbesitz, denn so denken Einzelhändler nun mal, doch wir waren niemals reich. Kinder aus meiner Schule kamen in unseren Süßwarenladen in Balham und frohlockten: „Wow! Die ganzen Süßigkeiten umsonst!“ Ich antwortete mit einem ungläubigen: „Wo?“, da ich wirklich nicht wusste, was sie damit meinten. Für uns gab es keine kostenlosen Süßigkeiten. Es handelte sich um Verkaufsware, die Mum und Dad unseren Kunden anboten, um ihrerseits damit Brot und Butter zu kaufen.

Sogar die katholische Kirche dachte, Dad sei der ideale Typ für die Kollekte. Schließlich belieferte er sie mit Gratis-Eis für die sommerliche Kirchenfeier. Das eingenommene Geld behielten sie dann für ihre „guten Taten“. Man hatte uns als Katholiken erzogen, und wir verhielten uns entsprechend. Die Heilige Kommunion, die Firmung, die Beichte – wird man schon im zarten Alter von zwei oder drei Jahren indoktriniert, ist es beinahe unmöglich, den Rest des Lebens nicht in die Kirche zu gehen. Trotzdem konnte ich mich in meinen späteren Jahren davon befreien. Doch einen Großteil meines Lebens war es eine Art Wechselbad der Gefühle. Und man erlebte zahlreiche Menschen, die das Gleiche durchmachten. Sie lösten sich von der Kirche, mussten sich aber wieder geschlagen geben, als sie eigene Kinder hatten. Jungen und Mädchen feiern ihre Erstkommunion immer getrennt, doch ich musste mich wieder mal mit einer Mandelentzündung herumplagen, weshalb ich den Termin verpasste. So feierte ich meine Kommunion mit Mädchen aus einem Kloster. Freud würde möglicherweise postulieren, dass sich in dem Moment der Katholizismus und Spaß mit Mädchen in meinem Bewusstsein genussvoll verknüpft hätten. Und er hätte recht gehabt!

Den Gläubigen unter den Lesern möchte ich Folgendes sagen: Ich habe überhaupt kein Problem, an ein allwissendes, allliebendes und allmächtiges höchstes Wesen zu glauben. Ich schreibe „höchstes Wesen“, um keine bestimmte Gottheit zu nennen, da dies für einige befremdlich erscheinen mag. Mich stellt auch eine „höhere Realität“ zufrieden oder „das Universum“, „Energie“, „das Leben an sich“ – alles okay. Man kann die Wahrheit überall finden. Sogar der Katholizismus hat seine positiven Seiten – die Bedeutung der Familie, das Arbeitsethos, die Übernahme der Verantwortung für seine Taten, all das grundlegende „Gut und böse“-Zeug. Doch für was steht der Rest von dem Mist, egal, ob katholisch oder eine andere Konfession? „Berühre das nicht! Du bist ein verdorbener Junge!“ Weißt du, was – das ist falsch! Sich zu berühren, ist wunderschön. Wir belügen die Kinder von Anfang an, maßregeln sie, dass diese Taten schlecht, falsch oder gegen Gott gerichtet seien. Doch tief im Innern spüren sie, dass die Erwachsenen danebenliegen. Verlässt man den Raum, spielen sie wie eh und je weiter. Mit dem Unterschied, dass sie sich von da an schuldig fühlen.

Meine Mutter war sehr religiös, ein gutes katholisches Mädchen, und demzufolge darauf versessen, uns eine Art von Schuld einzutrichtern, wenn wir nicht in die Kirche gingen. Sie glaubte tatsächlich, ich sei eine unbefleckte Empfängnis, eine Perspektive, die sie mir oftmals mit Nachdruck aufzwang. Demzufolge benannte man mich nach Franz von Assisi. Während ich älter wurde, fand ich den Mut, sie herauszufordern. „Wenn ich also eine unbefleckte Empfängnis bin, was ist denn dann mein Bruder – der ‚Dreckige‘? Und wie fühlte sich Dad überhaupt dabei?“ Sie hasste das. Blasphemie! Doch die meiste Zeit war sie dennoch eine liebende, ziemlich normale Mum. Das änderte sich, als ich 19 war und sie einen schweren Zusammenbruch erlitt, einhergehend mit einem religiösen Wandel. Damals informierte sie mich und meinen Bruder: „Ich bin nicht eure Mutter. Ich bin Annie.“ Ich musste mich sehr beherrschen, doch regte mich im Laufe der Zeit zunehmend darüber auf, denn ich erkannte, meine Mutter verloren zu haben. Aber dieses Thema hebe ich mir für später auf.

Dad war ein unglaublich netter Mann – in London geboren, doch immer noch ein Italiener. Ein Italo-Cockney. Wenn etwas nichts funktionierte, stampfte er immer herum und fluchte „Arschlöcher“, aber mit dieser ulkigen anglo-italienischen Stimme: „Aaarschlöcher! Blöööde Aaarschlöcher!“ Ich liebte es, die Zeit mit ihm zu verbringen. Doch ärgerlicherweise musste er ständig zur Arbeit, womit ich weniger mit ihm zusammen sein konnte, als mir lieb war. Es war toll, wenn es schneite oder regnete, denn dann musste er zuhause bleiben. Mit meinen ersten drei Kindern lief das ähnlich ab, denn ich war zu der Zeit noch in den Zwanzigern und musste wie mein Vater zur Arbeit immer auf die Straße raus – mit dem Unterschied, dass ich Wochen oder Monate nicht nach Hause kommen konnte. Das trifft natürlich auf alle im Showbusiness Tätigen zu, doch in meinem Fall bestand eine Verbindung zur Kindheit. Mir war das damals egal, doch heute erkenne ich ein Muster. Es stellte auch eine Art Entschuldigung dar, rauszukommen und der täglichen Routine zu entfliehen. Später, als älterer Vater mit mehr Freizeit, war das anders. Ich liebte es, mit den Kids zusammen zu sein. In meinem mittleren Alter ließen sich Mum und Dad scheiden, und ab dem Zeitpunkt lernte ich meinen Vater ein bisschen besser kennen. Er war ein gütiger und freundlicher Mensch, liebte Musik und war sehr stolz auf mich. Ich erinnere mich, ihm einmal den Shania-Twain-Song „You’re Still The One“ vorgespielt zu haben. Er hätte beinahe sein „Ding“ rausgeholt, so ekstatisch fühlte er sich. Ich reagiere ähnlich, wenn mir eine bestimmte Musik gefällt. Blöööde Aaarschlöcher! Ha, ha!

Wegen Mutter besuchte ich als Kind jeden Sonntag die Messe. Das hörte erst in meinen frühen Zwanzigern auf, als Status Quo durchstarteten. Wenige Jahre später ging es wieder los. Dann hörte es auf und fing wieder an. Man könnte das Komponieren und Musikmachen als einen Akt der Schöpfung beschreiben und mit Gott in Zusammenhang bringen. Ich würde das allerdings nicht zwangsläufig so beschreiben. Ich kreiere keine religiösen Songs, doch empfinde manchmal eine Art von Ekstase, wenn ich großartige Musik höre. Ich kann dabei weinen.

In meinen Vierzigern fand ich mich in der Sonntagsmesse meiner lokalen Kirche John the Baptist in Purley wieder. Ich habe sogar meine Kinder dort firmen lassen, so verwirrt und unsicher war ich immer noch bezüglich der ganzen Religion. Ich befand mich also eines Sonntags mit Eileen in der Kirche, als es mich schlagartig überkam – ich glaubte nicht mehr daran. Ich schaute mich um und dachte: Falls hier tatsächlich etwas Wahrhaftiges vor sich ginge, würde es die Kinder packen und fesseln. Kids haben besondere Antennen dafür. Sie können gar nicht anders. Wenn etwas vor sich geht, wissen sie es, auch wenn sie es nicht in Worte fassen können. Sie spüren, dass etwas Interessantes geschieht. Doch die Kids zeigten keinerlei Interesse. Eher das Gegenteil. Man konnte es an ihren Gesichtern ablesen. Sie dachten: Können wir endlich gehen?

Durch meine Kindheit habe ich den Winter zu lieben gelernt, was mich heute noch berührt. Ich liebe es, wenn es grau und kalt ist, denn bei schlechtem Wetter fuhr Dad nicht mit dem Eiswagen raus. Mein Dad war der König des Augenblicks. Man nennt uns nicht „menschliche Macher“, sondern „menschliche Wesen“, die im Hier und Jetzt verwurzelt sind. Und das gelang Dad besonders gut. Ihn langweilte es nicht, einmal nichts zu tun zu haben, denn es stellte einen Luxus für ihn dar. Er konnte „sein“, einfach den Moment genießen – und das mit Brillanz. Natürlich liebte ich es als Kind, wenn er zuhause war. Wenn ich aus dem Fenster blinzelte und es schneite, fühlte ich mich glücklich, da ich wusste, dass er zufrieden und fröhlich den ganzen Tag über in der Wohnung weilte. Manchmal ging er auch im Haus herum und erledigte diese oder jene Aufgabe, doch er war wenigstens da. Meist fürchtete ich mich vor dem Sommer, da ich ihn dann kaum sah. Er war den ganzen Tag und sogar den Abend über weg und schuftete im Eiswagen. Sogar jetzt noch nervt mich der beginnende Sommer. Dazu kommt noch, dass es viel zu heiß wird, was ich auch nicht mag. Ich ziehe es vor, drinnen zu sein, mag den Regen, der gegen die Fenster prasselt – und die hochgezogene Zugbrücke.

 

Noch vor seinem Tod erzählte ich das Dad. Seine Antwort verblüffte mich. „Auch ich habe es gehasst, zur Arbeit zu fahren, mein Sohn. Ich liebte es, zuhause bei deiner Mutter zu sein.“ Sein Arbeitstag begann mit einer Fahrt zu Großmutters Haus in Catford, jeden Morgen um 6.30 Uhr. Weiter ging es mit dem Beladen des Eiswagens. Um 9.30 Uhr kehrte er zurück, wusch sich und putzte sich heraus. Dann kam er herunter und frühstückte mit Mum, wonach er sich darauf vorbereitete, seine Runden zu drehen! Die Schulen, die Spielplätze, all die Straßen, wo sich die Kinder vielleicht draußen aufhielten. Er erzählte mir, dass Mum ihn oft bei seinem Job „behinderte“, da sie plötzlich in ihrem Babydoll-Nachthemdchen vor ihm gestanden habe. „Sie war ein gutes Mädchen und wusste, wie sie sich durchsetzen konnte.“ Ich hörte mir das an, unsicher, wie ich reagieren sollte, und fragte nach: „Wirklich?“ Dann strahlte sein Gesicht: „Yeah!“

So war mein Vater, ein Ausbund an Leben. Die Leute dachten oft, er sei betrunken, weil er immer so gute Laune hatte. In Wahrheit rührte er aber nie einen Tropfen an. Es mag vereinfachend klingen, wenn ich mein Talent, auf der Bühne aus mir herauszugehen, meinem Vater zuschreibe. Die Freude daran, andere Menschen glücklich zu machen.

Meine Mutter war anders. Sie hatte viele Freunde, Menschen, die sie innig mochten. Doch ihr Charakter war mit einem Hauch irischer Melancholie eingefärbt – einer merkwürdige Ängstlichkeit, die mit zunehmendem Alter und einer stärker werdenden Religiosität immer deutlicher zum Vorschein kam. Sie erlitt einen Zusammenbruch. Heutzutage hätte man ihr unterschiedlichste Arzneimittel und Therapien angeboten. Doch dieses Problem schien nur eine Facette ihres Charakters zu sein. Vielleicht habe ich von ihr meine Neigung zur Schwermut „geerbt“? Ich bin in der einen Minute der positivste Mensch auf der ganzen Welt – und in der nächsten schon der besorgteste. Entweder leitet sich das von der Kindheit ab oder von den Drogen. Vielleicht auch von beidem …

Wenn ich heute auf meine Zeit als Jugendlicher zurückschaue, denke ich: Oh, nein, was für ein Hohlkopf! Ich versuchte, mich ständig anzupassen, an Situationen und an andere Menschen. Und dann traf ich auf Alan Lancaster. Wir waren gleichaltrig und besuchten die Sedgehill Gesamtschule in Beckenham. Sedgehill war verdammt brutal! Die ganzen Kinder aus den umliegenden Sozialwohnungen gingen auf die Schule, und es drehte sich alles darum, wie hart man war. Jeder, der seine Freude am Unterricht hatte, wurde mit einem abwertenden Blick gestraft und dementsprechend behandelt. Täglich wurden irgendwelchen Kindern die Köpfe eingeschlagen. Ich mochte das Lernen, wollte aber nicht verprügelt werden. Und so entwickelte ich eine Macker-Ausstrahlung, wobei die Freundschaft zu Alan half, denn er war der wirklich harte Bursche.

Doch hauptsächlich war ich wie besessen von Popmusik, besonders den Everly Brothers. Ich liebte den Sound, die Songs und das Aussehen der Gitarren. Alan stand eher auf Del Shannon, die Shadows und Nat King Cole. Die meisten anderen Jungs interessierten sich eher für Sport, besonders Fußball. Ich hingegen mochte Fußball nicht, eine Sportart, in der Italiener traditionell ja ziemlich gut sind. Der Sportlehrer der Schule war ein Vollidiot, der uns anbrüllte: „Grätsch dazwischen!“ oder „Mäh ihn nieder, Junge!“ Da verliert man doch die Lust. Bis zum heutigen Tag schalte ich augenblicklich ab, wenn sich der Rest der Band über Fußball unterhält. (So geht es auch Andrew Bown.) Ich versuchte mich beim Rugby, was nach hinten losging. Das komplette Spielfeld war gefroren – so wie ich auch: schockgefroren –, was damit endete, dass man mich ständig umrannte. Schrecklich.

Später fiel mir auf, dass es vielen Musikern ähnlich ging. Sie waren einfach nicht sportlich, zogen sich in ihre Zimmer zurück, saßen dort herum und übten Gitarre. Musiker wie Pete Townshend und Jimmy Page, Eric Clapton und David Bowie. Bei mir beschränkt sich das nicht nur auf eine Aversion gegen Sport. Abgesehen von der Musik, einigen wenigen Filmen und Comics, hatte ich einfach nichts anderes, was mir Spaß machte, etwas, zu dem ich eine Beziehung herstellen konnte. Wir besaßen eins dieser alten beigen Bush-Radios mit herausziehbarer Antenne. Es war immer auf Radio Luxemburg eingestellt. Das Radio hatte etwas Modernes an sich, wirkte beinahe schon futuristisch. Ich setzte mich hin und bewegte mich zum Rhythmus des Popsongs, den sie gerade spielten.

Allerdings brachten sie damals kaum Stücke über das Transistorradio, die ich mochte, doch „Red River Rock“ von Johnny and the Hurricanes und „The Young Ones“ von Cliff Richard stachen heraus. Cliffs Scheibe übte den gleichen magisch-vereinnahmenden Einfluss auf mich aus wie „Stairway To Heaven“ Jahre später bei einer ganzen Generation von Led-Zeppelin-Fans. Der Titel wirkte so profund und jugendlich-prophetisch, besonders das Fazit: „Cos we may not / Be the young ones / Very long …“ Er brachte sogar den zwölfjährigen Schuljungen, der ich nun mal war, angesichts erahnter Nostalgie zum Weinen.

Acker Bilks „Stranger On the Shore“ war hingegen ein Instrumental, das mich fast in Ohnmacht fallen ließ. Gütiger Jesus, wie Dad zu sagen pflegte … diese sinnlich tremolierende Klarinette und dann noch die an ein Strandkonzert erinnernden Streicher! Wurde das Stück an einem Sonntagmorgen gespielt, während wir vor unseren Würstchen und Schinken saßen, verfielen wir in eine Art kollektives „Erröten“ und ließen unsere Gefühlen langsam freien Lauf, die vom Tisch aus in den Raum auszustrahlen schienen. Niemand sprach, denn alle pendelten sich auf das schöne Gefühl ein.

Dann kamen die Beatles und alles – alles! – änderte sich schlagartig. Nicht nur die Musik, sondern buchstäblich alles. Hat man die Zeit nicht miterlebt, lässt es sich nur schwerlich vorstellen, welch großen Wandel die Ankunft der Beatles weltweit auslöste. Es war Anfang der Sechzigerjahre, der Beginn einer neuen Nachkriegswelt. Die Beatles standen auf der Seite der Engel, hatten aber bessere Songs als der Teufel. Jeder Musiker kurz vor oder nach den Beatles wurde von der Band grundlegend beeinflusst.

Was das Lernen eines Instruments anbelangte: Mit vier Jahren spielte ich auf einer Mundharmonika herum. Dann besaß ich ein Hohner-Mignon-Akkordeon, die italienische Marke, die so aussah, als verfüge sie über eine Klaviertastatur an der einen Seite. Allerdings musste man für das Instrument Unterricht nehmen, und ich hatte in dem Alter noch keine Geduld dafür. Ich wollte einfach raus in den Garten, um mit meinen Brüdern und Cousins zu spielen. Das Fernsehen war damals totaler Mist, denn es gab nur zwei Kanäle, die bei uns sowieso niemand schaute, da wir arbeiteten.

All das wirkte sich auf meine Einstellung zur Musik aus. Ich musste unbedingt das Gitarrenspiel erlernen, und schon von Beginn an maß ich den Erfolg an der Popularität. Ich wollte natürlich ein guter Gitarrist sein, doch es würde mir nichts bedeuten, wenn es keinem gefiele. Sind Musiker ehrlich zu sich selbst, liegt allem diese Motivation zugrunde. In der Minute, in der man versucht, einem Publikum ein Ticket zu verkaufen, das den Musiker erleben möchte, wird der Erfolg an den Zahlen gemessen, daran, wie viele Besucher einen Künstler tatsächlich sehen wollen. Ich wollte immer wissen, wie viele Fans zu den Shows kamen. Wie viele Singles man von einem bestimmten Song absetzte, und in welchem Verhältnis das zu anderen Verkaufszahlen stand. Mum und Dad redeten ständig vom „Umsatz“, und genau so habe ich den Erfolg immer gemessen. Daran, wie viele Tickets und Karten wir verkauften. Wie viel „Stück“, um auf den Sprachgebrauch meiner Eltern anzuspielen.

Ich kann mir gut vorstellen, dass einige Leser nun den Eindruck gewinnen, ich sei nur wegen des Geldes ins Musikbusiness eingestiegen. Das war allerdings nicht der einzige Grund, doch ich sah es als eine Möglichkeit, um über die Runden zu kommen. Ich würde es entweder als Musiker schaffen oder den Eiswagen durch die Straßen kutschieren. Es wäre einfach gewesen, mich dem Familiengeschäft anzuschließen, doch ich wählte den schwierigeren Weg, lernte ein Instrument und schaute mich nach einer Band um. Dann spielt man in jedem nur möglichen Drecksloch, bis etwas ganz Großes passiert – oder auch nicht. Letzteres trifft leider auf die meisten zu, die so verrückt sind und versuchen, im Musikgeschäft Fuß zu fassen.

Das bezieht sich auf den geschäftlichen Teil. Im Gegensatz dazu fällt es mir weitaus schwerer, meine musikalischen Einflüsse zu benennen. Die Everly Brothers erweckten in mir den Traum, Gitarre zu spielen und gemeinsam mit meinem Bruder Musik zu machen. Dominic war einige Jahre jünger als ich und stand in diesen zarten Zeiten unter meinem strengsten Kommando. Zumindest dachte ich das. Tatsächlich war mein geliebter Bruder aber schon ein „richtiger“ Mann. Er war netter und nachgiebiger als ich und freute sich, dass ich für uns beide bereits große Pläne schmiedete. Wohlwissend, dass er sich – wäre die Zeit für den Startschuss erst mal gekommen – überhaupt nicht mehr darum kümmern würde.

Zum Beispiel: Ich überzeugte mich im Alter von neun Jahren selbst davon, dass Dominic und ich die englische Antwort auf die Everly Brothers sein könnten, woraufhin wir uns beide zu Weihnachten eine Gitarre wünschten. In meinen Gedanken malte ich mir schon aus, wie wir zwei herumsaßen und das Gitarrenspiel sowie das Singen übten. Doch Dominic bekam im letzten Moment kalte Füße und wünschte sich stattdessen eine Spielzeugeisenbahn. Das stellte sich letztendlich als kluge Entscheidung heraus, denn er wurde Buchhalter. Mein Buchhalter! Cheers, Dom!

Das funktionierte allerdings nur bis zu seiner Entscheidung, dass er die Art und Weise, wie das Musikbusiness funktionierte, ganz und gar nicht mochte. Im Grunde genommen war Dominic in einigen Belangen das exakte Gegenteil von mir. Ich war aufgedreht, nervös und suchte ständig nach einer neuen Perspektive. Er hingegen war leiser, ruhiger, zuverlässiger und in vielerlei Hinsicht nachgiebiger. Wie ich schon sagte, einfach ein netterer und umgänglicher Mensch.

Das wirkte sich aber nicht immer vorteilhaft für ihn aus, besonders im Erwachsenenalter, als unsere Mutter unter ihrem religiösen Wahn litt. Ich war verheiratet, und die Band arbeitete unentwegt, weshalb ich nicht so oft bei ihr sein konnte, wie ich gewollt hätte. Dominic blieb in ihrer Nähe, folgte ihren wahnsinnigen Eskapaden, hielt ihre Hand und erzählte Mum aufbauende Geschichten. Ich wollte damit nichts zu tun haben. Ich ging durch die Tür hinaus, war einfach mal wieder weg, viel zu beschäftigt damit, meinen eigenen dämlichen Träumen hinterherzuhängen, als mich von Mum aufhalten zu lassen. Dom hielt zu ihr, Gott sei Dank!

Wo immer wir waren, oder dachten zu sein oder eines Tages sein würden – unsere Eltern ließen uns machen. Sie gaben sich keine große Mühe, ihre Kinder in eine bestimmte Richtung zu drängen, sondern waren auf eine ruhige Art ungemein unterstützend. Das half mir viel mehr, als ich damals erkennen konnte. Es gab mir den Antrieb, weiterzumachen. Wäre es anders gelaufen, hätte ich möglicherweise das Gitarrenspiel aufgegeben. Obwohl Dominic zu dem Entschluss kam, dass seine Spielzeugeisenbahn viel mehr Spaß machte, finde ich es interessant, Jahre später bei Status Quo eine Art brüderlicher Beziehung mit dem Gitarristen und Sänger Rick Parfitt aufgebaut zu haben. Das war keine bewusste Entscheidung meinerseits, aber wenn ich jetzt zurückblicke, sehe ich die Parallelen nur allzu deutlich. Ich kann auch die Einflüsse der Everly-Hits wie „Wake Up Little Susie“ und „Bye Bye Love“ erkennen. Diese voluminösen Rhythmusgitarren-Akkorde finden sich in Quo-Hits wie „Caroline“ und „Down Down“. Der Stil, wie Rick und ich den Gesang überblenden, bis er beinahe wie eine einzelne Stimme klingt – das ist der pure Everly-Brothers-Sound.

Weniger auffällig sind die anderen, tiefer verwurzelten musikalischen Einflüsse, die ins Spiel kamen. Ich erkenne sie erst jetzt. Da gibt es zum Beispiel ein altes italienisches Unterhaltungsstück mit humoristischem Unterton und dem Titel „Poppa Piccolino“. Es wurde schon von ganz unterschiedlichen Sängerinnen wie Petula Clark und Diana Decker und sogar dem Billy Cotton Orchestra gecovert. Erstmals hörte ich die Nummer, als Mum sie zu meiner Aufmunterung spielte, nachdem ich mal wieder die Treppe hinuntergefallen war. Ich habe immer gesagt, den Song nicht so sehr wegen seines fröhlichen und eingängigen Ausdrucks zu mögen, sondern viel mehr wegen des damaligen Trosts und der Zuneigung meiner Mutter. Ich machte mir einen Spaß daraus und „stürzte“ am nächsten Tag wieder die Treppe runter, da ich die Aufmerksamkeit so sehr genoss. Allerdings durchschaute sie meine Finte und drohte, mich eigenständig die Treppe hinunterzuwerfen, wenn ich nicht aufhörte, ihr auf die Nerven zu gehen.

 

Die Platte blieb aber in meinem Gedächtnis haften – und wesentlich länger als gedacht. Eines Tages fiel es mir wie Schuppen von den Augen und mir wurde klar, wie sehr der gesamte Quo-Sound dem italienischen Shuffle-Rhythmus von „Poppa Piccolino“ glich. Diese bestimmte Art eines trillernden Stücks, ein Ta-Da-Di-Dah-Beat. Wenn man genau hinhört, wird man den Rhythmus bei beinahe allen Quo-Hits erkennen. Meist wurde angenommen, dass er von der Faszination für die durch den Blues beeinflussten britischen Sixties-Bands stamme, die diesen speziellen „Schrubber“-Shuffle propagierten. Er lässt sich auch im Herzen des amerikanischen Country-Sounds finden, der, wenn man sich intensiv mit dem Thema beschäftigt, von der traditionellen irischen Musik abgeleitet ist. Hello Oma!

Wo auch immer die Ursprünge liegen – und wie bei allen Musikstilen lässt sich jeder letztlich weltweit nachweisen –, Tatsache war, dass ich mich in den Rhythmus verliebte. Man konnte behaupten, dass er mir im Blut lag.

Im Alter von elf Jahren trat ich dem Schulorchester bei. Nicht als Gitarrist, sondern als Trompeter. Dort begegnete ich zum ersten Mal Alan Lancaster, mit dem ich dann Status Quo gründen sollte, und einem anderen Kind namens Alan Key, einem eher zurückhaltenden Jungen, der ebenfalls Trompete spielte. Lancaster spielte hingegen Posaune.

Alan Lancaster war zwar ein Zwerg, aber der Obermacker. Das zeigte er gleich am Anfang. Er wusste ständig etwas Positives über sich zu erzählen. Eine geborene Führungsperson, könnte man meinen. Ich entwickelte mich schnell zum Anhängsel, war zwar von außen betrachtet der starke Typ, doch bei Alan handelte es sich um den tatsächlich „harten Hund“. Er sah die Gruppe wahrscheinlich als seine Formation an, und niemand wollte mit ihm darüber streiten. Um es mal so zu formulieren: Er war dafür bekannt, seine Fäuste „kunstvoll“ einzusetzen. Schließlich, als mein Selbstvertrauen zunahm, forderte ich ihn heraus und erinnerte ihn daran, dass niemand der Boss in einer Band sei, dass wir alle dazugehörten. Doch Alan war nicht der Typ, der bei einer Streitigkeit nachgab, woraufhin wir uns ständig über das Thema fetzten. Allerdings veränderte das nicht viel. Alan gab einfach niemals nach. Oftmals wird ja behauptet, dass Demokratie in einer Band nicht funktioniere. Man müsse Führungspersonen haben, denn sonst entwickle sich das Projekt nicht.

Zuerst passte mir das in den Kram, denn ich war sicherlich nicht das typische Alphamännchen. Alan als Schulfreund an meiner Seite zu wissen, bedeutete Sicherheit vor den anderen Hooligans, denjenigen, die mich damit aufzogen, dass ich einen Mädchennamen trage und gekünstelt rede. Als ich Alan das erste Mal traf, meinte sogar er: „Du sprichst aber verdammt affig, oder was?“ Doch ich hing immer öfter bei ihm ab, mochte seinen Vater und seine Mutter sehr. Es gibt da die Redewendung „salt of the earth“ (rechtschaffene Leute) – und auf die beiden traf sie exakt zu.

May, Alans Mutter, lässt sich als liebenswürdige und anständige Frau beschreiben. Ich nahm immer an, dass spanisches Blut in ihren Adern fließe, da sie einen dunklen Teint hatte und gleichzeitig leidenschaftlich sein konnte. Sie verhätschelte und verwöhnte mich. Harry, sein Vater, verhielt sich mir gegenüber immer nett. Er war ein Ex-Boxer, einer dieser Kerle, die jeden Abend von der Maloche kommen, sich das Hemd ausziehen und sich mit einem Netzunterhemd über der Küchenspüle für den Abend rasieren. Er hätte sich niemals für die Arbeit rasiert.

Eines Tages wartete ich auf Alan, der sich noch zurechtmachte. Sein Dad meinte: „Auf den Jungen kannst du lange warten, echt.“ Wir schauten also fern, sahen einen Typen, der sich recht gut ausdrücken konnte, und Harry rief: „Hier, May. Schau mal, der im Fernsehen ist wie Ross!“ Sie nannten mich immer Ross. Sie kam in den Raum, schaute auf den Bildschirm und meinte: „Nee. Er ist jetzt einer von uns.“ Ich fühlte mich so stolz, ihnen immer mehr zu ähneln, wie einer dieser Kumpel aus der Südlondoner Arbeiterklasse zu werden. Ein Typ, der den anderen gehörig Angst einjagen kann. „Versuch nicht, mich anzumachen, Junge! Ich werd’s dir so richtig zeigen!“ Allerdings wusste ich auch, niemals wirklich so werden zu können, denn ich war viel zu weich, um jemandem Angst einzujagen. Es fühlte sich aber gut an, von ihnen akzeptiert zu werden.

Auch wenn mich die anderen Kids in der Schule nicht mehr wegen meines Namens hänselten – ich hieß nun Mike oder Ross – oder wegen meines Akzents – nun voll mackermäßig –, fanden sie doch immer noch einen Weg, um mich aufzuziehen. Sie behaupteten, Italiener würden immer nach Knoblauch stinken und Würmer (Spaghetti) essen. Darum umgab ich mich auch mit der Fassade des harten Typen. Ich lernte, wie man ständig flucht, und täuschte eine Art Macho-Kumpel mit witziger Seite vor. Wie Alan Lancaster, mit der Ausnahme, dass er nicht witzig sein musste. Er war tatsächlich ein durch und durch brettharter Kerl. Ich hingegen musste immer witzig sein, denn das stellte meine beste Verteidigung dar. Doch ich fühlte mich niemals wie ich selbst, wusste, dass das alles nur eine Rolle war.

Mein ältester Sohn Simon verhielt sich ähnlich, als er aufwuchs. Unter bestimmten Umständen konnte er die Rolle des „harten Hundes“ spielen, war jedoch ein hypersensibles Kind. Simon arbeitet nun beim Musical und in der Oper – er ist ein fantastischer Sänger. Seinen Erzählungen nach fühlte er sich erst glücklich, als er in diese Welt eintrat, da er das Genre entdeckt hatte, in dem er sich wirklich ausleben und aufblühen konnte. Ich hingegen musste mir jeden einzelnen Meter meines Weges erkämpfen, um das zu erreichen, was ich mir wünschte. Was also hieß: eine Maske aufsetzen, durch die ich insgeheim blinzelte, während ich darauf wartete, dass alles sicher ist, dass ich rauskommen und ich selbst sein kann.

Unser Wohnort in Balham war in sozialer Hinsicht Welten entfernt von Forest Hill, wo wir noch bei Nonna lebten. Es war hart. Die Prostituierten warteten nicht auf die Dämmerung, sondern standen schon mitten am Nachmittag an den Straßenecken und lockten die vorbeikommenden Autofahrer, fragten, ob sie mit ihnen ein „Geschäft“ machen wollten. Mehr als einmal musste Mum nach draußen gehen, um einen Streit zwischen den „arbeitenden Damen“ zu schlichten, den sie direkt vor unserer Ladentür austrugen. Ich wusste, dass es „anrüchige Mädchen“ waren, doch auch wenn man mir genau erklärt hätte, was sie machten, hätte ich dem keine große Aufmerksamkeit geschenkt.

Ich war elf Jahre alt, als wir nach Balham zogen, und obwohl ich schon eine Weile unter der Decke „herumspielte“, hatte ich der Welt des Sex noch keine großen Gedanken gewidmet. Für mich gab es noch keine schlüssige Formel, die eine Verbindung herstellte zwischen meinem „Herumspielen“ und tatsächlichem Sex mit dem anderen Geschlecht. Als einige ältere Kids aus der Nachbarschaft mir und meinen Freunden von einem Friseur an der Hauptstraße erzählten, der den Jungs einen Fünfer zustecke, wenn er ihnen unter dem Friseurumhang einen wichsen dürfe, sprachen wir tagelang darüber. Sich einen runterzuholen, war nicht mehr, als sich einfach einen runterzuholen. Doch dafür einen Fünfer zu bekommen – das stellte damals für uns ein Vermögen dar. Wir kamen jedoch schnell zur Besinnung, denn unsere Gehirne hielten die Körper in Schach, weswegen der Friseurbesuch keine so gute Idee mehr zu sein schien.