Im Rhythmus des Laufens

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa
Zwischenläufe I

Meist endet das Training im Herbst, mit dem als Hauptlauf auserkorenen Marathon. Das Laufen bekommt dann eine andere Bedeutung: Es verliert an Dringlichkeit, Pointiertheit und Struktur. Es löst sich dabei nie ganz auf – es ändert bloß seinen Seinszustand.

Waldläufe in der Märkischen Schweiz, das Lichtspiel der Bäume, dunkelgraue Stämme auf dem Feldweg, das Schwirren und Klingen der Birkenblätter. Laufen auf Sandpfaden, blättergesäumte Weggabelungen, einladende Wanderschilder statt monotoner Runden im eng gewordenen Stadion. Ich laufe darüber hinweg, vermesse die Tiefe des Waldes. Es ist frühmorgens, die Sonne schlängelt sich durch die Baumreihen, kitzelt mir die Nase. Ich niese mit beiden Beinen in der Luft.

Wie laut der Wald ist, wenn man ihn lässt. Im Morast der Senke bleiben meine Füße kleben, es ploppt und platzt, wenn ich sie heraushebe. Einmal stolpere ich, weil der Körper den trägen Beinen davonprescht. Tschilpen die Vögel leiser oder lauter, wenn ich stehen bleibe? Sie interessieren sich kaum für mich. Immer wieder Wege, die an Hochsitzen, auf Lichtungen oder im Sumpfigen enden. Einmal laufe ich im Kreis, merke es erst, als ich schon mitten auf der zweiten Runde bin. Knittern und Knacken der Sandfichten. Orientierung am Sonnenstand, über bekannte und unbekannte Wege auf groben Pflastersteinen am Dorfbeginn; wie ausgespuckt.

Zwei Kraniche auf dem Weg vor mir, vertraut und stolz dicht nebeneinander. Als ich mich nähere, schnellen ihre Flügel breit zur Seite, beinahe stoßen sie sich: Absprung, Aufflattern, Segeln, Niederlassen. Hundert Meter weiter dasselbe. Sie gleiten zwischen den hohen Bäumen, ich laufe, ohne sie aus den Augen zu lassen; sie gleiten dahin, ohne mir davonzufliegen.

Auf dem fernen Feld fünf Tiere, die aussehen wie Alpakas, sich bewegen wie Füchse. Und doch müssen es Rehe sein.

-----

Den Winter im Rückspiegel, klirrend kalte Läufe durch New York. Harlem am Sonntagmorgen, Gospel und Jazzfrühstück; Familien, die eng zusammenstehen, bis zu den Kleinsten in Anzug und Kleidchen. Wandbilder, Branntweinhände, Menschen, die an dampfenden Gullys stehen. Das Leben findet auf der Straße statt. Die Kälte friert mir den Atem ein, brennt sich hindurch bis zur Lunge; Nasenluft, feine Kristalle am Oberlippenbart. Ich flüchte mich zum Aufwärmen in ein Bankgebäude, wo ich warme Aufnahme in die Gruppe der Wartenden finde.

„Damn cold, eh?“

Lauf zu den Innennähten Brooklyns. Auf den dunkelgelben, dickbereiften Schulbussen hebräische Schriftzeichen. Ich laufe auf den menschenleeren Straßen, Shabbat. Am späten Nachmittag treten die Ersten aus den Synagogen und Reihenhäusern, Männer in schwarzen Mänteln, mit dunkelbraun glänzenden Schtreimeln aus Zobelschweifen oder Grisfuchsfellen, die sie in leichter Beugung mit der linken Hand dem Wind zum Trotz festhalten. Ihre Schritte sind klar bemessen, das Ziel ihres Weges traditionell und rituell bedingt. Ich laufe, gegen den Wind, solange ich kann und suche mir dann eine Subway-Station.

-----

Während der Trainingspausen bewegen sich die Erinnerungen.

In Japan laufe ich am liebsten in der Dämmerung. Ich statte in Nara dem Daibutsu, dem großen Kosmischen Buddha, einen Besuch ab. Würde er sich in der um ihn herum gebauten Halle aufrichten, sicher stieße er sich den Kopf. Ob er die frische Luft vermisst? Ab und zu besuchen ihn Vögel, und die Nara-Hirsche schmiegen sich zahm an ihn, wärmen seinen Leib aus 450 Tonnen Kupfer.

Am Hokkedo-Tempel mache ich Treppenhüpfen, abwechselnd nehme ich jede Stufe und jede zweite Stufe mit, dann eine Schleife am Mannaoshi-Jizoson-Tempel entlang bis zur Bar am Scheitelpunkt. Ein Tanuki, ein Marderhund, steht dort auf zwei Beinen, hält mir auffordernd die Sake-Flasche hin, grüßt mich keck, zwei Finger am Strohhut.

Im Garten meines Hostels, einem traditionellen japanischen Haus, fließt das Wasser über stumme Steine. Ist es auf der Ebene angekommen, wird es über ein unsichtbares Rohr zurück zu den obersten Steinen gepumpt. Ein Kreislauf. Nach einiger Zeit des Schauens lerne ich, die Steine zu unterscheiden; vom Wasser verstehe ich nur, dass es fließt.

Abends schiebe ich die Shoji zu, die mit Papier bespannte japanische Schiebetür; matte Schatten, alles Äußere legt seine Deutlichkeit ab.

-----

Die Erinnerungen tragen nicht weit, man bricht ein mit ihnen auf dünnem Eis. Die Erinnerungsbänder müssen ständig neu belaufen werden.

Die Reiselust lässt nie lange auf sich warten, noch einmal verschiebe ich den Trainingseinstieg: Fernlauftour im Schwarzwald, über den Westweg. Zusammenstauchen der Wanderetappen, es läuft sich einfach: immer dem roten Quader auf den Holzschildern nach. Am ersten Tag 75 Kilometer, der Laufrucksack anschmiegsam, ein Schlafsack, Verpflegung und Dostojewskis Der Idiot – 900 Seiten Datscha-Gefühl, Spaziergänge und schleichender Wahnsinn. Brunnen und Waldquellen füllen mir die Wasserblase, der undurchlässige Fichtenwald bedrückt mich bis zu dem Gefühl, hier oben alles Lebendige zurückgelassen zu haben.

Als es dunkel wird, die Suche nach einem Schlafplatz, die dicht aneinandergerückten Nadelbäume, das unruhige Gehölz; es lädt mich nicht ein. Ich erreiche eine unbeleuchtete Herberge, verschlossen. Auf der Rückseite ein weiterer Eingang, ich trete ein, laufe über den Flur; hinter einer zweiten Tür höre ich einen Fernseher. Ich klopfe. Der Gastwirt, verärgert, mehr noch überrascht, nimmt sich meiner an. Er erklärt mir den Weg zu einer versteckten Hütte, unten am Karsee. Ich muss ihm versprechen, es niemandem zu verraten. Im letzten Licht des Tages komme ich an: Wie ein verloren gegangener schwarzer Knopf liegt der See da, unergründlich tief zwischen steilen Karwänden, die der Sonne nur den Mittagsbesuch gewähren. Die Hütte steht offen, weite Öffnungen für Tür und Fenster, deren Einbau nie beabsichtigt war; innen Seitenbänke aus fünf faustbreiten, runden Holzstäben, Spuren hinterlassende Druckpunkte auf dem müden Läuferkörper. Ich sitze am Tümpel und esse Pumpernickel und Räuchertofu.

Nachts läuft zweimal etwas Schweres über meinen Körper; ich schüttele es bloß ab, wische es weg wie einen Albtraum. Ich bin zu erschöpft, um schlecht zu schlafen. Später liege ich doch wach: Es kratzt und knarzt. Ich schalte meine Stirnlampe ein, schiele aus zusammengekniffenen Augen auf die fette Ratte in der Ecke der Hütte. Sie mümmelt an einem Taschentuch.

Ich versuche, die Ratte zu verscheuchen, aber sie bleibt; sie hat recht: Ich bin hier der Eindringling. Ich packe meine Sachen, esse noch im Dunkeln am Tümpel eine Portion kalter Haferflocken und mache mich im ersten Licht auf die zweite Tagestour des Westwegs; es ist dunstig.

Im Bratwurstdunst

Renn-steig. Renn-steig. Renn-steig.

Ich sitze im verwaisten Regionalexpress, drücke mir die Nase an der Scheibe platt, während ich die Silben wie magische Worte vor mich hin hauche: Beim „Renn“ sauge ich die Luft tief ein, beim „steig“ lasse ich sie langsam fahren; ein dunstig-milchiger Nebel beschlägt die Scheibe. Meine Pupillen ziehen mit den Landschaften hinter dem Fenster mit, im gleichförmigen Rhythmus eines Diaprojektors suchen sie da draußen Fixpunkte, um sich an ihnen Stück für Stück vorzuhangeln. Zarte, dunkel bewaldete Schluchten tauchen auf, alles dicht vor den Augen verschwimmend, erst die ferneren Bäume nehmen plastisch Figur an. Renn-steig. Da, irgendwo vor mir liegt er, verborgen im Dicht des Thüringer Waldes.

Der weiche Bahnsitz lädt zum Abschweifen ein. Ein Augenschließen, und schon bin ich Kind, sitze zu Hause im niedersächsischen Braunschweig am runden Esstisch aus dunkler Esche. Die Sonne scheint ungeniert durch die breiten Velux-Fenster, vorbei am zeitgegerbten Holz der Rahmen, fällt in Mosaiken auf die vertraute Kopie des Kandinsky-Bildes Jaune, Rouge, Bleu. Noch ungeduscht und in sportwarmem Jogginganzug berichte ich meinem Vater von den eben erlebten Bundesjugendspielen. Er schaut mich an; ein Lächeln huscht über sein Gesicht, die Wangen erwärmen sich daran, seine Augen, sie glimmen. Da ist etwas, eine belebende Erinnerung. Und dann folgt seine Geschichte vom Rennsteiglauf, die ich im Lauf der Jahre noch unzählige Male hören werde.

Sie handelt von einer knatternden „Schwalbe“, die sich Berge hochmüht, von viel zu viel Bieren am Vorabend, von Zu-spät-an-den-Start-Kommen; einer trotz allem noch zur Hälfte gerauchten Zigarette, einem Startritual. Sie handelt vom Überholen, Hunderte, für die der Vorbeilaufende kein Auge hat. Die Geschichte endet jedes Mal gleich: „(…) hatte ich vielleicht einen Muskelkater danach, oh, oh. Das musst du dir mal vorstellen: ohne Training. Aber irgendwie war’s klar, keine Frage, da läufste mit.“

Ich öffne die Augen. Die Orte streifen an mir vorbei wie vergehende Jahre. Ich reise nicht nur an einen Ort, ich reise in der Zeit. Reise mit der Geschichte.

-----

Auch wenn sie nicht läuft, kennt auch meine Mutter den Rennsteiglauf. Mit ihr bin ich am Nachmittag verabredet, ein gemeinsamer Ausflug wie früher. Obwohl wir beinahe ein Dreivierteljahr vor dem Lauf die Suche begonnen haben, gab es keine Unterkunft mehr in Oberhof, Schmiedefeld oder in einem der kleinen Rennsteigdörfer dazwischen, denen heute noch der Schiefer ein von anderen Mittelgebirgsgegenden unterscheidbares Aussehen verleiht. Das blaue Gold, dessen matter Schimmer auf Dächern in kaum befahrenen Gegenden wenig bewundert wird.

Nur in Ilmenau, in dem noch vor dem Ersten Weltkrieg Kurgäste – nicht selten dabei die Weimarer Prominenz – zwischen thüringischen Nadelwäldern, Bergbaubrüchen und Porzellanmanufakturen faulenzten, war online noch ein Schlafplatz verfügbar gewesen. Hier wird am nächsten Morgen ein Shuttlebus abfahren, der mich zum Startort bringt.

 

Ankunft in Ilmenau. Als der Zug vor meinen Augen ausfährt, stehe ich still in einem Gefühl der Verlassenheit; zwei Stunden zu verbringen bis zur vereinbarten Treffzeit, dabei große Anstrengungen vor dem morgigen Lauf vermeiden. Ohne Orientierung spaziere ich vom Bahnhof los, insgeheim auf der Suche nach mir Vertrautem: malerische Orte, wie ich sie von Besuchen in Weimar und Jena kenne, feudale Architektur, ein nettes Gartenhaus mit grünen Fensterläden, Büsten vergangener geistiger Größen. Oder das liebgewonnene Typikum südthüringischer Kleinstädte: aus den erdgeschössigen Fenstern lehnende, von weißen Häkelgardinen und blassrosa Orchideen umrankte Rentnerinnen, die dem Fremden mit sinistrem Blick folgen. So als wäre er die Fremde selbst.

Stattdessen finde ich: im Himmelsgrau eintönige Fassaden, herausragende Satellitenschüsseln, eine mittagsleere Stadt.

Ich gebe auf, akzeptiere das Unvertraute, setze mich auf eine öffentliche Bank und warte auf den Nachmittag.

Alle in meiner Familie haben rote Autos, das war schon immer so. Ich erkenne den roten Honda Civic meiner Mutter sofort, springe auf und hinein; kurzer Check-in in der Unterkunft, dann weiter zum Abholen der Startunterlagen nach Oberhof. Erstes Kribbeln in der Magenkuhle.

-----

Oberhof: Lotto Thüringen Arena, Biathlon, und das zum 20. Jahrestag der DDR am 7. Oktober 1969 eröffnete Panorama-Hotel, Sehnsuchtsort in Sprungschanzenform. Werbe- und Verkaufsstände, Intersport, TEAG, Thüringer Waldquell, Salomon, Läuferinnen und Läufer, die in ihren Sportinsignien, Laufschuhen und bedruckten Sportanzügen, schlendern, alle irgendetwas in der Hand, Starterbeutel, Bratwurst, Cola, so kraftsparend schlendern, dass man ihnen die Sportlichkeit kaum abnehmen will.

In mir wächst das Bedürfnis, mich aus diesem Massendruck zu entfernen. Ich spüre sie fast körperlich, die Boviscopophobie, „die Angst, als Herdentier angesehen zu werden“. Eine herausfordernde Phobie für einen Läufer. Ein Spaziergang im Wald als Erste-Hilfe-Maßnahme; barfuß über den Matsch, ab und zu kitzelt ein Kiesel.

Am Abend fahren wir zu unserer Unterkunft in Ilmenau: ein platter Bau, Garagen, die zu Ferienzimmern umgebaut wurden. Gegenüber ein Partyraum, den man mieten kann. Heute: Feier zum 50. Geburtstag, ein großes Plastikschild, „Geschlossene Gesellschaft“.

Die Zimmereinrichtung: hinter dem Bett Tapetenposter einer in der Savanne untergehenden Sonne, knallig rot-gelbe Bettdecken auf dünnen Schaumstoffmatratzen und Frotteelaken, auf den Regalen schwarze Giraffen in Groß und Klein, Krieger mit Speeren. Ein Schauer, der mir, Wirbel für Wirbel, den gebeugten Läuferrücken hinunterrinnt.

Beim Italiener in der Innenstadt üben sie sich in Improvisation: Weil der eigentliche Gastraum bereits gefüllt ist, sitzen wir auf Plastikstühlen im Flurbereich, passgenau gequetscht zwischen Eingangstür – dunkles Braun, zwei grobe Diamantkassetten, schwere Zwischenkämpfer und Wetterschenkel im TGL-Standard – und Treppe zur Anliegerwohnung. Die Unterseiten der Stufen verschwinden ins Unbekannte; ich stelle mir den unter Knarzschritten rieselnden Staub vor. Um uns kleine Grüppchen von Läufern, man erkennt einander an den Schuhen. Auf den Tischen der anderen Bier und Pizza, besonders beliebt Hawaii, Salami und Vier-Käse. Der Königsweg des Self-handicappings, der gekonnten Herbeiführung einer Ausrede für einen Leistungseinbruch am nächsten Tag: „Ihr habt ja gesehen, wie viel ich getrunken habe …“

Im Bett lese ich noch ein paar Einschlafseiten aus Max Frischs Tagebüchern. Ich finde Entspannung in den melancholischen Gedanken. Die Savanne glüht im hellen Leuchtstoffröhrenlicht. Nur langsam weicht das mulmige Gefühl, und der Herzschlag beruhigt sich.

Das alles soll das berühmte Rennsteiggefühl sein?

-----

Natürlich ist der Rennsteiglauf einzigartig. Es gibt wohl keinen weiteren Lauf, der neben einem eigenen Lied, „Ich bin ein lust’ger Wandersmann, so völlig unbeschwert“, und einer Hymne, „Hei, hei, hei, ho, der Rennsteiglauf. Hei, hei, hei, ho, wir sind gut drauf“, auch mit einem Walzer, „Doch bevor der Startschuss fällt, da singt die ganze Welt“, aufwarten kann. Rennsteiglauf, fester Termin im Jahreskalender singfreudiger Laufgruppen.

Nach zwei Jahren Testläufen wurde der Rennsteig 1973 zum ersten Mal auf annähernd offiziellen Pfaden belaufen, durch die vier Laufavantgardisten, Frischtluftfreunde und Orientierungsläufer, Hans-Georg Kremer, Hans-Joachim Römhild, Wolf-Dieter Wolfram und Jens Wötzel, alle vier damals an der Universität Jena. Der Weg bekannt – eben den Fernwanderweg Rennsteig entlang –, Länge, Dauer und konkreter Zielort ungewiss. Das heißt: Loslaufen und mal schauen, wie weit wir kommen.

Die mobile Verpflegungsstation damals, für ermüdete Entdecker: ein Wartburg, der im nahe liegenden VEB Automobilwerk Eisenach gefertigte Personenkraftwagen, den die Steigungen und Kurven ähnlich mühten wie die Läufer. Bei etwa 100 Kilometern Laufstrecke dann die gemeinsame Entscheidung der Läufer: Eigentlich reicht’s ja. Die Strecke war vermessen.

1975 gab es den ersten offiziellen Wettkampf, Taschenlampenstart um 1 Uhr nachts. Modifizierte lange Strecke, 50 Meilen, sprich 82 Kilometer: im Ziel 692 Männer, zehn Frauen. Kurze Strecke, 38 Kilometer: im Ziel 108 Frauen, ein Mann. Der Rennsteiglauf. Zunächst vom DDR-Sportverband nicht anerkannt, in der wachsenden Laufbewegung Weiterentwicklung zum Symbollauf, DDR-weites Kulturgut und Pilgerort der Hobbyläuferszene.

Ganz zeitgemäß ist der Rennsteiglauf heute, mit Angeboten für jeden: Lotto Thüringen-Supermarathon, 73,9 Kilometer, der Hauptlauf, der Mythos; Intersport-Marathon, 42,2 Kilometer, gelaufen; Intersport-Marathon, 42,2 Kilometer, gewalkt, gewandert; Thüringer Energie Halbmarathon, 21,2 Kilometer; Köstritzer Wanderung, 17 Kilometer; Thüringer Waldquell Nordic Walking Tour, 17 Kilometer; Bauerfeind Rennsteig-Junior-Cross und ein Wettbewerb „für Menschen mit geistiger und psychischer Erkrankung“. Der Rennsteiglauf. Vorzüglich platziert im Laufkalender: genügend Abstand nach den großen Frühlingsmarathons, noch ausreichend Zeit bis zu den aufreibenden Bergläufen des Sommers.

Damals wie heute Frischluftkur. Damals wie heute unter den Läufern die Vorfreude auf den Geschmacksvergleich der unterschiedlichen, meist magenverträglichen Haferschleime an den Verpflegungsstationen. Schon Monate vor dem Lauf herrscht reger Austausch in Online-Foren und sozialen Medien. Eindeutiger Konsens des letzten Jahres: der erste enttäuschend, der leicht rötliche am bekömmlichsten. Und dieses Jahr?

Als Teil der Startunterlagen erhalten die Läufer einen Gutschein für ein Köstritzer Bier nach dem Zieleinlauf.

Thüringische Foltermethode: Laufstart um 7:30 Uhr, Shuttle ab Ilmenau um 5:15 Uhr. Mein Wecker klingelt um 4:30 Uhr. Auf meinem Handy blinkt eine „Viel Glück“-WhatsApp-Nachricht von Lydia, die dieses Mal in Berlin geblieben ist. Ans gemeinsame Aufstehen gewöhnt, fehlt sie mir an diesem Morgen. Die Nachricht hat sie um 1:30 Uhr geschrieben, vor drei Stunden, als sie ins Bett gegangen ist. Wie fern unsere Welten in diesem Moment liegen.

Nach dem unfreiwilligen Miterleben des 50. Geburtstags – Chartmusik, ein paar DDR-Klassiker, Nina Hagen, Citys Am Fenster, trinkende, schwadronierende Menschen hinter dünnen Vorhängen, angestrahlt von Partyleuchtern und glimmenden Zigaretten – treffe ich in der Küche auf drei Sorben aus der Oberlausitz, die hier auf Montage sind. Man grüßt sich durch knappes Nicken. Kalte Dusche, Kaffee und dünn bestrichene Weizenbrötchen zum Mitnehmen. Nummer eins, Tomatenaufstrich, Nummer zwei, Honig. Los.

Etwa 90 bis 100 Gestalten der Dämmerung, nur das zarte Glühen gieriger Laufschuhe. Der erste Shuttlebus, die Ungeduldigen, darunter ich, drängen hinein, die Erfahrenen warten mit altklugen Sprüchen auf den nachfolgenden: „Es gibt genug Platz für alle.“

Gemütlicher Reisebus, das Uniforme der Funktionskleidung, gemeinsamer Zielort: Plötzlich bilden wir eine Reisegruppe, so etwas wie eine Gemeinschaft. Zu müde und ohne Alternativen, um meine Boviscopophobie auszuleben, ergebe ich mich in die Bustour als Teil einer Erfahrung, die weit größer ist als ich und meine Zeit.

Vereinzelt sehen wir eifrig winkende Läufer am Straßenrand, denen der Busfahrer durch einen nach hinten zeigenden Daumen cool verdeutlicht: Da kommt noch einer, nehmt doch einfach den. Die Läuferinnen und Läufer im Bus, die meisten zwischen 40 und 50, viele überausgerüstet für den Halbmarathon, für den wir uns angemeldet haben. Ich zähle neun Laufrucksäcke mit prallen Wasserblasen, die an die mit dünnem Stoff bezogenen Sitzschalen pressen, bei jedem Huckel lustig blubbern.

Manche Läufer haben die Augen geschlossen, andere tauschen Räuberpistolen der letzten Jahre aus, sprechen darüber, wer von den – anscheinend regional bekannten – Veteranen dieses Mal wieder mitläuft. Ein Typ muss so dringend pinkeln, dass er nach vorn stürmt und den Busfahrer bittet, anzuhalten. Das Murmeln der Läufer, als er aus dem Bus springt, kopfschüttelnde Blicke auf den nicht fern an einem Baum Lehnenden; Johlen, als er zurück in den Bus hüpft, erleichtert lächelnd, als hätte er nun das Schlimmste hinter sich. Beim Zurück-durch-die-Reihen-Gehen erhält er hier und da einen Schulterklopfer.

Während der Bus die Steigungen klettert, sich durch die Kurven schwingt, schält sich außerhalb des Fensters der Thüringer Wald aus der Dunkelheit. Die nahen Wiesen und Büsche dunkelgrün in der Dämmerung, die Hügel sanft, kontrastarm die Baumkronen im sich nach oben verengenden Halbrund. Über allem liegt ein Dunst, der sich mal in Schleiern an die Horizontgrenze hängt, mal sich verdichtet zu etwas ungreifbarem Schwerem, durch das nur hier und da ein alleinstehender Baum durchdringt. Ich beschwöre es nicht, doch das Wort „zauberhaft“ kommt mir in den Sinn. Märchenstimmung, das erste Mal Rennsteiggefühl.

Und wie.

Für einen Moment lehne ich mich hinein, in die Kurven, die Steigungen, in die nebelverdichtete Mystik des Thüringer Waldes.

Durch die Pinkelpause haben uns die nachfolgenden Busse überholt. Als plötzlich letzter Bus sammeln wir die Verspäteten ein, wodurch wir uns selbst verspäten: 45 Minuten vor dem Start biegen wir auf Oberhofs Betonwiese ein, das große Parkplatzareal zwischen Altstadt und Startgelände. Es ist keine Zeit mehr, sich in die jeweils 20 bis 30 Personen starken Dixi-Klo-Schlangen einzureihen. Ich suche mir ein Fleckchen am Waldesrand. Abprotzen, wie der Schriftsteller und Läufer Günter Herburger es liebevoll umschrieb und wie auch Lydia und ich es als Teil einer codierten Insidersprache verwenden.

Es geht nicht anders: Hinterher erweist mir das traditionsreiche Programmheft des Rennsteiglaufs großen Dienst.

Vor mir leuchten die gelben Posttüten, die Kleiderbeutel; im Pulk werde ich zum Start geschoben. Der Altersdurchschnitt hängt bei Mitte 40, hier und da ein jüngeres Gesicht. Frauen mit Kurzhaarfrisuren, die jüngeren mit Zopf und rötlichem Schimmer blass werdender Färbung. Tatsächlich sehe ich auch zwei mit Zigarette im Mundwinkel. Voranschieben der Versammlung, gemächlich wie ein verkaufsoffener Sonntag.

Dass es beim Rennsteiglauf weniger um eine ambitionierte Zielzeit als eine gesellschaftlich verordnete – und von den Krankenkassen begrüßte – Bewegungs- und Frischluftkur geht, wird unzweifelhaft vermittelt an den markigen Sprüchen auf einigen Läufershirts: „In der Ruhe liegt die Kraft – Rennsteiglauf, du wirst geschafft!“; sehr deutlich, und von zweifelhaftem Metrum: „Nicht die Zeit, die ich laufe, macht mir am meisten Spaß, sondern die Zeit, in der ich laufe!“; mein Favorit: „Runstig wie das wilde Schwein, muss ein Rennsteigläufer sein!“; und beinahe philosophisch: „Wir laufen, um zu leben, aber leben nicht, um zu laufen!“

Der Rennsteiglauf ist besonders. Den Rennsteig läuft man, weil es Vater, Mutter, Nachbarin, Kollege, Freundin auch schon getan haben. Den Rennsteig läuft man, um dabei zu sein, zu wissen, dass man dabei war, darüber zu sprechen. Für viele heißt Rennsteig: Loslaufen und Ankommen zugleich. Sie wollen ein Teil dieses Ganzen sein. Sie finden hier etwas, das sie sonst oft vergeblich suchen. Genau darum geht es.

Überraschend: Die Kleiderbeutel werden ungeordnet in fünf, sechs Postlieferwagen geschmissen, die am Anfang der Startblöcke bereitstehen.

 

Im Gehen tut sich eine Rechenaufgabe auf: Wie viele Freiwillige braucht es, um 10.000 Sportlerbeutel zu sortieren?

Der breite Weg am Waldrand ist durch rot-weißes Absperrband in Startblöcke unterteilt. Ein paar Helfer in leuchtenden Westen passen auf, dass sich jeder im zugeordneten Block, erkennbar durch die an der Brust befestigte Startnummer, einordnet. Der Weg nach vorn ist wie das Durchwandern eines Trainingsjahres: beinahe linear steigende Fitness der Teilnehmenden. Es wird ein wenig gedrängelt, der Startblock 1 auf der Startnummer ist wie ein VIP-Ausweis; Absperrband, das hochgehalten wird, neugierige Blicke.

Ich halte die Augen offen nach einem Bekannten von mir. Er startet trotz Muskelfaserriss, weil ihm in diesem Jahr die Ehre zukommt, im Jubiläumsclub der treuesten Rennsteigläufer zu starten. Die Traditionsläufer – ein Teil von ihnen ist hier schon vor 40 Jahren gelaufen – werden sich en bloc bewegen, „zusammen“ und „ankommen“ sind die Stichwörter ihrer Losung. Ein Altherrenclub um die letzten lebenden Gründerväter – der wahre Star des Rennsteiglaufs.

-----

Der Rennsteiglauf-Halbmarathon hat sein eigenes Ordnungssystem: Für einen der vorderen Startblöcke qualifizierst du dich nicht wie üblich über die in anderen Läufen erreichten Zeiten, du qualifizierst dich ausschließlich über in früheren Rennsteigläufen – genauer: innerhalb der letzten drei Jahre – erbrachte Leistungen. Das heißt, jemand, der den Rennsteig nicht schon mindestens einmal gelaufen ist, hat prinzipiell wenig Chancen auf den Sieg.

Du musst dich hier verdient machen, explizit hier, an keinem anderen Ort der Welt kannst du das.

Manchmal lernt man auf die harte Tour. Diskussionen und große Aufregung am Vortag bei der Startnummernausgabe. Ich hatte meine Schwester im Ohr, die zwei Jahre zuvor den Rennsteig gelaufen ist, gestartet aus Block 5: Kein Durchkommen, wo kein Bein ist, ist Wurzel. Am Info-Schalter zeige ich verzweifelt die Zeiten aus anderen Läufen vor, nervös, penetrant; letztlich auch unbarmherzig, die so festverwachsenen Regeln strapazierend. Als immer mehr Leute zu uns herüberschauen, willigt der Mann auf der anderen Seite des Schalters schließlich ein; wortlos tauscht er die Nummer meines Startblocks von 4 auf 1.

Die 45 Minuten seit Aussteigen aus dem Bus sind weniger schnell vergangen als befürchtet. Ich mache mich warm vor der Startlinie, wie immer der vorsichtige Gang um den Messteppich herum – wer weiß, ob der nicht doch schon scharf gestellt ist.

Aufgeregt sein, ein Ziehen durch den Solarplexus.

Antesten, die Gerade noch auf Beton runter, dann links in den Wald, noch vor dem Start ein erstes Erkunden des Streckenverlaufs. Grundsätzlich lasse ich mich von einer Laufstrecke gerne überraschen, entscheide mich gegen den zweifellosen Vorteil der Streckenkenntnis und für den Unterhaltungswert der Überraschung. Doch hier bin ich neugierig: Wann geht es denn in den Thüringer Wald? Ich meine, so richtig.

Mitten im Hopserlauf treffe ich Tom Thurley, einen Mittzwanziger aus Potsdam mit hohen Wangenknochen und freundlichem Lächeln. Ich kenne ihn aus der Berliner Laufszene und mache direkt einen Favoriten in ihm aus. Bin gespannt, wie er sich auf den Steigungen schlägt.

Bin gespannt, wie ich mich auf den Steigungen schlage.

Rechts geht sanft eine Wiese hinunter, eine Bobbahn, eine Holzhütte, aus der Musik dringt. Mit noch frischem Atem fange ich sie ein, die Vor-Lauf-Après-Ski-Atmosphäre.

Die Startaufstellung. Vor mir die Elite des Laufes: Ein paar Körper, die ich eben noch auf Lauffähigkeit abchecke, das linke Auge dabei zugedrückt, wie bei einem, der’s ganz genau wissen will. Es gibt wenig offensichtliche, konkrete Parameter. Die Dicke der Beinmuskeln, die Geschwindigkeit eines Warmmach-Spurts oder der angenommene Preis der Laufkleidung sind im Grunde Nicht- oder irreleitende Informationen. Oft sind die ausschlaggebenden Merkmale eher die Rundheit des Laufstils, das Selbstverständnis im Auftritt, die nach innen gerichtete Konzentration.

Ich sehe einige Jungspunde aus der Sportschule von Oberhof, Ski- und Bergbegeisterte, Jungs mit Kurzhaarfrisuren und glatten Waden, die Mädels mit geflochtenen Zöpfen.

Und dann ist es endlich so weit. Das Rennsteiglied ertönt, für viele der Höhepunkt des Erlebnisses: 10.000 Menschen, die schunkeln und singen. Sogar die in der ersten Reihe: Für einen Moment sind wir alle Thüringer.

Wir können nicht anders, klar wollen wir dazugehören.

Countdown und Startschuss durch Ministerpräsident Bodo Ramelow. Es knallt eine Sekunde zu früh: die Angst des Politikers, den richtigen Moment zu verpassen.

Bis in die letzten Reihen hallt da noch der Gesang nach, als würde der Körper auf den kommenden Kilometern nicht durch die Beine, sondern die Stimme bewegt.

„Ich wandre ja so gerne

am Rennsteig durch das Land,

den Beutel auf dem Rücken,

die Klampfe in der Hand.

Ich bin ein lust’ger Wandersmann,

so völlig unbeschwert.

Mein Lied erklingt durch Busch und Tann,

das jeder gerne hört.“

Die Meute kommt in Gang. Wirbelnde Beine vor mir, versuche ich ganz innen, waldseitig, durchzudringen. Die ersten 500 Meter halten die Laufschüler mit, dann wird deutlich, dass das gewählte Tempo für sie näher am Sprint als der Langstrecke ist; die Räder der Zukunft drehen noch ein wenig langsamer.

Vorn hält sich der spätere Sieger, Samson Tesfazghi Hayalu vom SV Sömmerda, noch bedeckt hinter dem tempomachenden Tom Thurley. Gemeinsam mit einem dritten Läufer setzen sie sich vom Feld ab. Ich sehe, wie sie Schritt für Schritt im Wald verschwinden. Meiner Kräfte unsicher halte ich mich mit einem gemäßigten Tempo zurück, bleibe heimelig verborgen in einer Gruppe unter den ersten 20. Ich bin froh, dass ich in den letzten Wochen wenigstens etwas habe trainieren können, wenn auch weit weniger, als ich geplant hatte. Schon die ersten Steigungen überraschen mich, der Puls ist noch nicht angekommen im Hochleistungsmodus, stottert haltlos einen zu schnellen Rhythmus, der Atem, der sich haspelnd darin verfängt. Der Kopf vergisst die Beschwerden des Körpers in dem Moment, als er merkt, dass wir uns, gemeinsam, Stück für Stück an die Vorderen saugen. Er prescht voraus. Dem Körper bleibt nichts, als sich den Erfordernissen anzupassen.

Insgesamt ist die Strecke – soweit habe ich mich doch informiert – ganz verträglich: etwa 282 Meter aufwärts, sogar 391 Meter abwärts. Luxus. Der höchste Punkt, Plänckners Aussicht auf 973 Metern, kurz vor der Hälfte. Ab dann quasi nur noch abwärtsrollen.

Es geht tiefer in den Wald, gemischtes Grün, dünne, diszipliniert aneinandergereihte Kiefern, hier und da aufgelockert durch eine Buche oder den hell gefleckten Saum einer Birke; Wanderer, die uns von einem benachbarten Weg zuklatschen. Nach circa fünf Kilometern fühle ich mich wohl im Rennen, nach zehn Kilometern habe ich mich, einen Läufer nach dem anderen passierend, an die Vorderen herangetastet. In einer Vierergruppe laufen wir jetzt ständig wechselnde Überholmanöver.

„Acht, neun, zehn“, zählt ein älterer Herr mit beigem Camperhut am Streckenrand und hält uns den erhobenen Daumen entgegen; kommt, weiter.

An der Verpflegungsstation greife ich zum Trinkbecher. Das Wasser schwappt, und mir bleibt nur ein Minischluck. Nach 20 Minuten hin und her setze ich mich von den drei Kameraden ab, mache die nächsten Meilensteine in Sichtdistanz aus. Der Weg ist nun kurviger, auch steiler und steinreicher. Meine schlanken Adidas Takumi Ren sind kompromisslos: Sie drücken und quetschen sich über Wurzeln, Matsch und Geröll, nie lange genug am Boden, um dem Fuß die manipulierende Erholung des Umknickens einzuräumen.

Nur noch fünf vor mir, drei davon uneinholbar enteilt. Ich fühle mich gut, frei, weder Druck noch Müdigkeit laufen mit, nur die Lust am Auf und Ab. Der Fünftplatzierte, ein kaum Volljähriger in rotem Shirt, rückt in Berührungsweite. Ich fühle mich schnell, schnell in einer Form, die nicht im Widerspruch zur Geduld steht: Es dauert, bis ich den rot Gekleideten überhole. Beinahe einen Kilometer hält er noch Schritt. Ich bin mir sicher: bloß das letzte Winden eines Geschlagenen.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?