Walter Ulbricht. Mein Urgroßvater

Tekst
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Die Bewohner kochen in den Gemeinschaftsküchen, Kinder spielen in den Fluren und besuchen eine eigene Schule. Familie Ulbricht reiht sich in die Schlange vor den Duschräumen ein, wenn das Warmwasser läuft. Martha spricht mit ihren Nachbarn ab, wer wann die Gasherde in den Etagenküchen benutzen kann.

Als EKKI-Mitglied arbeitet Walter weiter an den Betriebszellen. Er trifft sich dazu mit der österreichischen, der Schweizer KP, der britischen, der tschechischen und der niederländischen KP. Es ist eine wichtige Aufgabe. Die „Zellenfrage“ bleibt ein zentrales Thema, mit dem Moskau die „Bolschewisierung“ der Parteien vorantreiben will. Seit dem V. Weltkongress misst man ihr besonders hohe Bedeutung bei, denn nach den Erfahrungen der Bolschewiki nützen Partei- und Gewerkschaftsleben außerhalb der Betriebe dem Klassenkampf nichts. Nur mit Betriebszellen bestehe die Chance, etwas zu verändern. Der „echte“ Klassenkampf besteht aus kleinen, von Berufsrevolutionären straff geführten und schlagkräftigen Zellen. Nur Parteikader, die diszipliniert und kampfbereit im Untergrund leben, seien in der Lage, diese Zellen zu führen. Die Betriebszellen sind dabei letztlich der Versuch, die russischen Erfahrungen auf andere Länder zu übertragen und damit deren Bolschewisierung voranzutreiben.

Walter arbeitet hart und bald eilt ihm auch in der Komintern sein Ruf als „Genosse Zelle“ voraus. Es dauert nicht lange, bis das Kollegium der Organisationsabteilung beschließt, ihn zum vorläufigen stellvertretenden Leiter zu machen. Kaum drei Tage später stellt er einen Antrag zur Aufnahme in die KPDSU, durchaus üblich für die Bewohner des Lux. Es gilt als Zeichen der Solidarität und als Ehre, der Partei anzugehören.183 Walter macht sich dafür intensiv mit der KPDSU vertraut und nimmt etwa an Sitzungen der Leitung der Parteiorganisation im Betrieb „Dynamo“ teil, um mehr über die Arbeit der Betriebszellen zu lernen.184

Ab Juli 1925 ist er wieder in Berlin, wo er für die Komintern am X. Parteitag der KPD im Gebäude des Preußischen Landtags teilnimmt. Auch der Komintern-Beauftragte Manuilski ist wieder da. Die öffentlichen Sitzungen verlaufen ruhig, doch hinter den Kulissen tobt ein Machtkampf. Manuilski verlangt im Namen der Komintern, Walter in das Zentralkomitee aufzunehmen, was die Delegierten ablehnen. Als Manuilski sich zu Wort meldet, weist ihn der Vorsitzende zurecht. Er solle warten, bis er an der Reihe sei. Ein Jugendvertreter, der sich für Walter ausspricht, wird angebrüllt, er „solle sich erst die Nase wischen lernen, ehe er alten Leuten was erzählen wolle“. Der Streit eskaliert und Delegierte schnauzen Manuilski an: „Hau ab! Geh nach Moskau!“185 Walter scheitert mit seiner Kandidatur erneut. Gegen vier Stimmen und acht Enthaltungen lehnt die Geheimsitzung die EKKI-Forderung ab. Die Niederlage trifft Walter, das EKKI und Stalin schwer. Als Antwort wird die Parteispitze um Fischer, Maslow und Thälmann nach Moskau zitiert, wo sie sich rechtfertigen soll.

Moskaus Anklage ist lang: unabhängige Politik, Ablehnung der Arbeit in Gewerkschaften und der Einheitsfront, Propagierung des revolutionären Aufstands in einer Phase politischer Stabilität. Sie sollen erklären, warum sie Komintern-Kader niederbrüllen. Walter darf zunächst nicht bei den Beratungen zugegen sein, er wird von Moskauer Seite „beratend hinzugezogen“ und erteilt im Namen der Org-Abteilung schriftliche Ratschläge. Nach einer Brandrede Stalins gegen die „linkssektiererischen“ ZK-Abweichler wird die Besprechung eine Woche später beendet. Die Parteispitze darf die Heimreise antreten. Außer Ruth Fischer, ihr nimmt man den Reisepass ab. Die nächsten zehn Monate bleibt sie unter Hausarrest im Hotel Lux.

Einzig Thälmann schafft wirklich eine Kehrtwende. Nach seiner Rückkehr wird er in einem „Brief der Exekutive der Kommunistischen Internationale an alle Mitglieder der Partei“ vom Vorwurf ein „Ultralinker“ zu sein freigesprochen.186 Auf Druck Stalins wird er für den Parteivorsitz nominiert und noch am gleichen Tag zum Parteivorsitzenden ernannt. Walter schreibt im Anschluss in der „Internationalen“ richtunggebend „Bemerkungen zu den Organisationsfragen in der KPD“ und ganz auf Moskauer Linie zum Thema „Reorganisation und demokratischer Zentralismus“.

Der neue Kurs wird auf der Parteikonferenz, die jetzt das neue ZK bestätigt, angenommen, Walter schließlich zum Sekretär der Komintern-Organisationsabteilung bestellt. Er macht sich gut und nimmt erstmals am zentralen „Kleinen Kollegium“ der Organisationsabteilung teil. Mit der Kurswende bleibt der Umgang mit der SPD schwierig, unter Thälmann wird er sich weiter verschärfen. Einerseits wünscht man eine gemeinsame Front, andererseits sieht man die Sozialdemokraten mit wachsendem Misstrauen. Der Sturz der rot-roten Landesregierungen in Sachsen und Thüringen mit Billigung der SPD-Führung, das anschließende KPD-Verbot und die Herrschaft der Armee kommen für die KPD einem Verrat gleich.

Der Chef des Exekutivkomitees der Komintern, Sinowjew, hat schon im Vorjahr eine „Sozialfaschismustheorie“ formuliert. Stalin äußert sich jetzt ähnlich: „Der Faschismus ist eine Kampforganisation der Bourgeoisie, die sich auf die aktive Unterstützung der Sozialdemokraten stützt. Die Sozialdemokratie ist objektiv der gemäßigte Flügel des Faschismus. Es liegt kein Grund zu der Annahme vor, die Kampforganisationen der Bourgeoisie könnten ohne die aktive Unterstützung durch die Sozialdemokraten entscheidende Erfolge in den Kämpfen oder bei der Verwaltung des Landes erzielen. Diese Organisationen schließen einander nicht aus, sondern ergänzen einander. Das sind nicht Antipoden, sondern Zwillingsbrüder.“187

Noch denkt dabei keiner an Hitler. Die NSDAP spielt seit ihrem Putsch keine Rolle mehr. Die Sozialfaschismustheorie setzt die Repressionen des bürgerlichen Staats mit Faschismus gleich. Vorerst bleibt die Sozialfaschismustheorie ein Randphänomen. Man hofft weiterhin auf eine Zusammenarbeit mit der SPD. Noch gilt die Einheitsfront der Arbeiterparteien als offizieller Kurs.

Auch privat steht Walter vor einem großen Umbruch. Unter Genossen gilt er als „Mann ohne Leidenschaften“, ein Mensch, der nicht raucht, trinkt oder andere Laster hat, der sich voll seiner Arbeit widmet, seine seltene Freizeit mit der Familie verbringt oder Sport treibt. Für viele ist er ein Langweiler. Aber ein Mensch ist er eben doch. Rosa Michel spürt das. Einmal pro Woche kommt sie in seine Abteilung, um die Zeitung L’Humanité abzuholen. In respektlosem Französisch meint sie, „es sitzen da sehr ernste, ältere Genossen. Des vieilles barbes“. Von einem deutschen Genossen, den sie noch nie hat lächeln sehen, bekommt sie ihre Zeitung. Ohne auch nur den Kopf zu heben, reicht er ihr ihren Stapel Zeitungen, und weg ist sie. „Man sagt, dieser Genosse ist kompetenter als viele andere, [besonders bei] dem Problem der Betriebszellen.“

Wegen ihrer eigenen Arbeit hat sie dazu Fragen und sie will diesen „Orgmenschen“, den „Genossen Zelle“, beim nächsten Mal fragen, wenn sie ihre L’Humanité abholt. Sie traut sich aber nicht und lässt es bis zum nächsten Mal sein – und dann wieder bis zum nächsten Mal. „Er hatte blondes Haar, ein Spitzbärtchen auch dunkel blond, etwas rötlich“, schwärmt sie. Alle Genossen haben das gemeinsame Ziel, „die Menschen glücklicher zu machen“: „Bei dem deutschen Genossen der Pjatnizki-Abteilung fühlte man diesen Willen, auch wenn seine Gesichtszüge etwas hart waren. Er war, wie mir scheint, was man ein ‚Berufs-revolutionär‘ nennt.“188 Schließlich nimmt Rosa sich doch noch ein Herz und spricht ihn frühmorgens beim Frühstück am Sitz der Komintern in der Moskauer Manege an: „Das Frühstückszimmer war im Keller. Ich hatte mich an meinem üblichen Platz, neben der Tür gesetzt. Plötzlich kommt [Walter] an mir vorbei. Ich denke: jetzt oder nie. Ich stehe auf, ihm gegenüber. – Genosse Ulbricht, ich möchte dich fragen […] hättest du ein paar Minuten Zeit für mich? […] Ich richte mich ganz nach dir […]. Er macht große Augen. Sein Gesicht verstärkt sich. Und in schroffen Ton ausgesprochen, höre ich erschrocken die Worte ‚Nein, ich habe keine Zeit!‘ Und er geht. Ich bin fassungslos. Ich setze mich wieder hin. Ich trinke mechanisch mein Yogourt, knabbere an meine Stulle. […] Auf einmal kommt in mir die Wut hoch. So ein Grobiant! Der kann lange warten, bis ich ihn von neuem anspreche! […] Ich merke gar nicht, dass er wieder vor mir steht. Und mit einer ganz andere Stimme, fast schüchtern erklärt er auf einmal: ich habe es mir überlegt, Mittwoch hätte ich frei. […] Natürlich reicht eine Besprechung nicht […] wir gewöhnen uns […] miteinander zu diskutieren.“189 Rosa meint später im privaten Kreis, Walter habe immer eine weibliche Figur in seinem Leben gebraucht, sei aber nie sehr gut darin gewesen, Beziehungen zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Seine Ehe ist schon länger strapaziert. Die Flucht vor der Polizei in Wien hat Martha den Rest gegeben. Die beiden sehen sich wegen Walters Reisen kaum noch und leben sich immer mehr auseinander. Walter versucht, seine Ehe zu kitten. Im Sommer verbringt er mehrere Wochen mit Ehefrau und Tochter auf Kur in Sotchi am Ufer des Schwarzen Meers. In Doras Erinnerung bleibt die Fahrt nach Moskau und ans Schwarze Meer. Martha beschwert sich, dass sie als kleine, zarte Frau die Koffer trägt. Es wird die letzte gemeinsame Reise.190 In einem Brief an seine Tochter nimmt Walter später Bezug auf den Aufenthalt:

„Mein lieber Wildfang!

So einen schönen Brief wie von dir, mit bunten Bildern habe ich überhaupt noch nicht bekommen. Wer ist denn das kleine Mädchen, das das Kücklein im Arm trägt? Ist das mein kleiner Stromer? Wenn Du so fein malst, da muss ich Dir bald wieder ein Buch schicken.

Weißt Du, ich habe ein feines buntes Buch bekommen, das heißt: ‚wie die Tasse entsteht‘. Du hast doch auch eine schöne bunte Tasse, aus der du Kaffee trinkst. So eine Tasse erzählt, wo sie hergekommen ist. Das ist fein. Du hast mir aber nichts erzählt von der Muschel. Die ist tief aus dem Meer geholt worden.

 

Aus so einem großen Meer, wie Du es voriges Jahr in Russland gesehen hast. Wenn du die Muschel an das Ohr hältst so rauscht es. […] Das Bild mit dem großen [Haus] und dem [Kind] mit dem ernsten Gesicht habe ich von dir bekommen. Machst du in der Schule auch so ein ernstes Gesicht? Oder geht es dort lustig zu? Habt ihr schöne Wanderungen gemacht? Hat euch der Lehrer schöne Bilder gezeigt? Habt ihr schöne niedliche Sachen […] angefertigt, oder habt ihr Stäbchen gelegt? Das möchte ich gerne wissen. Wenn du mir das alles erzählst, dann schreibe mir, ob deine Kleidungsstücke noch alle in Ordnung sind und was Du Dir vor allem wünschst. Vor einiger Zeit hast Du mir eine schöne Zeichnung geschickt mit einem großen Haus, Hausfrau, Sonne und Bäumen.

Genau so fleißig wie Du zeichnen auch die kleinen russischen Pioniere. Das siehst du aus den beiden Bildern. Der Film ‚Potemkin‘ mit dem großen Schiff wird vielleicht auch in Leipziger Kino gespielt. Dann schickst du mir doch auch ein Bild? […] Bleib gesund und froh! Schicke mir bitte bald wieder einige schöne Bilder.

Herzliche Grüße, Dein Papa.“191

Vater und Tochter spazieren zusammen im Wasser am Strand. Er meint durchaus fürsorglich zu Martha: „Ich nehm’ die Dorle.“192 Sie erinnert sich, wie sie vor der Abreise auf dem Roten Platz allein auf einer Parkbank sitzt und darauf wartet, dass ihr Vater aus dem Kreml zurückkommt. Erinnerungen bleiben Dorle, aber auch Wut und Trotz. Es gibt keinen klaren Bruch, man trennt sich einvernehmlich. Walters Abwesenheit, das Leben im Untergrund, die Erlebnisse in Wien und Prag, als Martha samt Tochter über die Dächer vor der Polizei fliehen musste, sind zu viel. Sie entschließt sich, mit ihrer Tochter nach Leipzig zurückzukehren. Sie hätte sonst ihre Wohnung dort verloren, weil sie zu lange unbewohnt gewesen ist. Sie hat die Wahl zwischen Gatten und Heim.193 Walter ist einverstanden. Nach außen macht er den Eindruck, dass er unter der Entscheidung seiner Frau nicht besonders leidet. Martha liebt ihn zeitlebens. Sie behält sein Bild auf ihrem Schreibtisch und sieht ihre Scheidung nach deutschem Recht, fast 25 Jahre später, als die „schwerste Entscheidung“ ihres Lebens. Im Oktober beantragt Walter bei der Komintern eine Trennungszulage, bevor er eine Woche später bei Rosa im Lux an die Tür klopft, um sie zur Oktoberfeier „seines“ Betriebs einzuladen. Der Abend wird zum Jubiläum der beiden.194 Sie feiern den 7. November als ihren Jahrestag bis zum Schluss. Das Paar ist frisch verliebt, geht zusammen ins Kino und diskutiert viel. Die Hausverwaltung legt Rosa schließlich nahe, in Walters Zimmer zu ziehen, um Platz zu schaffen: „Von diesem Zeitpunkt an wurde ich ganz offiziell, mit der Gnade der Lux-Verwaltung, Einwohnerin von Walters Zimmer und Benutzerin seines Betts. Das war nicht übel. Gar nicht übel.“ Das Zimmer ist einfach eingerichtet. Walter lebt bescheiden und anspruchslos und scheint nicht auf Bequemlichkeit und Komfort aus.195 Ab jetzt reisen die beiden meist zusammen.196 Rosa ist bis über beide Ohren verliebt: „Das Leben zu zweit war wunderschön. […] Und war es [doch] ein sehr bescheidenes Leben. Ich erinnere mich z. B. an eine Fahrt durch Moskau, im Winter in einem riesigen Wagen, ganz eingehüllt in dicke Pelze […], durch den knirschenden Schnee, [durch] Löcher und Erhöhungen des vereisten Bodens geschüttelt.“197 Walter zeigt seine romantische Seite. Ende 1925 heiraten sie schließlich auch offiziell vor den sowjetischen Behörden.198 1926 erscheint Rosas erster Artikel „Warum kämpfen wir gegen die kapitalistische Rationalisierung?“ in den Cahiers du Bolchévisme, dem theoretischen Fachblatt der KP Frankreichs. Ihre Beziehung mit Walter lässt erste Spuren.

Rosa macht sich nützlich und dechiffriert in Walters Abwesenheit für die Komintern seine fürchterliche Handschrift. Mit der Zeit wird sie zur anerkannten Meisterin in diesem Fach.199

Walter arbeitet weiter hart im Orgbüro. Die Arbeit trägt Früchte: Im Februar 1926 nimmt er an der II. EKKI-Organisationskonferenz in Moskau teil, danach direkt im Anschluss an der erweiterten Tagung des EKKI. Inzwischen Parteivorsitzender, wird Ernst Thälmann jetzt auch noch zu einem von drei stellvertretenden Vorsitzenden des EKKI gewählt. Er gibt sich in Moskau zuversichtlich: „Gerade jetzt haben wir in Deutschland eine durchaus günstige Situation […]. Wenn wir heute auch nicht – wie 1923 – von einer akut revolutionären Situation sprechen können so haben wir doch eine Situation, die es uns ermöglicht, breite Massen zu gewinnen und auf dem Wege der Organisation der Revolution Stützpunkte zu schaffen.“200

Trotzdem ist Thälmanns ultralinke Haltung nicht vergessen. Von Moskau unterstützt,201 soll Walter Thälmanns Linientreue überwachen und hat damit „eine führende Rolle“. Trotz seiner Niederlage bei der Wahl für das ZK im Vorjahr soll Walter Thälmann bei der Durchsetzung der „Ratschläge“ der Komintern im Zentralkomitee helfen. Auch die Betriebszellen bleiben von Bedeutung: Ganz auf Parteilinie schreibt Walter nach der Tagung über „Die Aufgaben der Straßenzelle“, bevor er im April nach Leningrad reist. Er hat sich bewährt. Als Belohnung beginnt er ab Mai 1926202 eine Schulung an der Internationalen Leninschule, der „kommunistischen Universität“ am Moskauer Miusskaya Platz.203 Nach ersten Ad-hoc-Kursen gehört er hier unter dem Decknamen „Quarz“ zum regulären Jahrgang.204

Die KPD wählt ihre Kandidaten mit mündlichen und schriftlichen Prüfungen schon frühzeitig aus. Die Regeln sind streng, Kandidaten müssen ihre Rolle in der revolutionären Bewegung unter Beweis stellen. Wer in Haft war, aber nicht genug Widerstand gezeigt hat, wird abgelehnt. Den knapp 60 Studenten ist es verboten, Zeitungen oder politische Literatur mitzubringen oder über die Schule zu reden. Familien dürfen Teilnehmer nicht besuchen.

Um die Studenten mit der sowjetischen Arbeiterklasse vertraut zu machen, teilt die Schule sie in Kleingruppen ein. Acht Stunden körperliche Arbeit pro Woche sind für sie in der Lokomotivfabrik Kolomna oder den Textilwerken von Orechowo-Sujewo vorgesehen. Am Ende jedes Semesters müssen die Studenten eine Arbeit zu einem freigewählten Thema schreiben. Der Kurs sichert Walter eine theoretische und praktische Basis. Die Schüler werden in Sprachgruppen unterrichtet. Russisch lernt Walter nicht. Er spricht es nur mangelhaft und ist nicht fähig, auch nur ein kurzes Gespräch zu führen.205 Für sein Studium überträgt er seine KPD-Mitgliedschaft an die KPdSU und ist ihrer Disziplin unterstellt. Die Tarnung der Schule wird immer wieder durch frühe Morgenritte auf dem Pferderücken durch die Innenstadt gebrochen. Reiten wird von der Schulleitung gefördert. Der Anblick von offensichtlich ausländischen Jugendlichen, die auf Pferden durch die Straßen huschen, führt immer wieder zu Konflikten, die jedoch noch nicht streng geahndet werden.206 Allerding muss Walter sein Studium kurzfristig schon nach einem halben Jahr abbrechen und wird für wichtige politische Arbeit im Reich abberufen.

Wegen seines Studiums erfährt er erst bei seiner Abfahrt im Herbst nach Deutschland vom Tod seiner Mutter Pauline mit kaum 58 Jahren im Juli 1926.207 So sehr die Nachricht schmerzt, ihr kommt Tod nicht überraschend, da sich ihre Gesundheit schon länger verschlechtert hat und sie wegen ihrer Gicht schon länger bettlägerig war.

Zu seiner Abfahrt aus Moskau bekommt Rosa den nötigen Passierschein, um ihn bis zum Bahnhof zu begleiten. Sie ist jetzt wieder alleine. Ihre französischen Genossen versuchen ihr klarzumachen, es sei besser so, ohne Walter. Ohne Nachricht von ihm nimmt sie an, er habe sein altes Leben mit Martha wieder aufgenommen. Sie ist deprimiert und schreibt ihm, dass sie sich damit abgefunden habe.

Es kommt anders. Die Trennung dauert nur wenige Wochen. Aus heiterem Himmel erhält Rosa in Moskau von Wilhelm Pieck die Papiere zur Rückkehr nach Berlin. Kaum dort angekommen, lässt Rosa am Empfang der Parteizentrale „den Genossen Ulbricht herunterrufen“. Sie erkennt ihn kaum wieder, glattrasiert und ohne Bart. Am Abend treffen sich die beiden im nahen Lehrer-Vereinshaus am Alexanderplatz. Walter hat ihr einen Strauß roter Pfingstrosen mitgebracht. Er meint, die Trennung sei auch ihm schwergefallen. Die Genossen hätten bemerkt, wie er nicht richtig bei der Sache war und „nicht richtig arbeiten konnte“. Die entsprechenden Fäden wurden gezogen um Rosa auf dem kurzen Dienstweg nach Berlin zu beordern.

Er ist glücklich, Rosa wieder bei sich zu haben, und hat für die beiden eine kleine möblierte Dachwohnung gemietet. Er ist etwas verlegen, dass es zur Beleuchtung nur eine Petroleumlampe gibt, doch Rosa ist alles egal. Sie ist glücklich, wieder mit „ihrem Walter“ zusammen zu sein.208 Walter muss sich jetzt wieder auf seine Arbeit konzentrieren. Die „Sorglosigkeit von Moskau“ ist vorbei, das Leben ist ernster geworden. Nach seinem Lehrgang an der Leninschule übernimmt Walter jetzt viel verantwortungsvollere Positionen in der Partei. Im Oktober 1926 sind in Sachsen Landtagswahlen. Das Ergebnis ist für die Regierung vernichtend, die KPD steigert zum dritten Mal in Folge ihr Ergebnis. Walter wird einer von drei Abgeordneten der KPD für den Wahlkreis Dresden. Das Landtagsmandat ist ein wichtiges Ziel, denn es sichert ihm Immunität.

Noch immer ist der Haftbefehl von 1923 gültig, aber zumindest während der Sitzungsperioden kann er sich jetzt wieder offiziell und frei bewegen. Nach seiner Wahl nimmt er sich im KPD-Parteibüro in der Dresdner Columbusstraße ein Zimmer, das ihm gleichzeitig als Wohnung und Büro dient.209 Einen Monat nach der Wahl nimmt Walter am VII. erweiterten Plenum des EKKI teil. Die beiden reisen zusammen, Rosa arbeitet bei der Roten Gewerkschaftsinternationale als Übersetzerin. Vor kaum einem Monat wurde Trotzki in Moskau aus dem Politbüro der KPDSU ausgeschlossen, das Treffen steht unter dem Eindruck seiner Entmachtung: „Die Kommunistische Partei Deutschlands hat […] unter der Zersetzungsarbeit der russischen Opposition gelitten. In ihren Reihen wurde der Kampf am schwersten ausgetragen. […] Aber dieses Fundament steht fest.“210 Stalin hat gewonnen, jetzt folge der Aufbau des Sozialismus.

Wieder zurück in Deutschland hält Walter seine erste Rede im Sächsischen Landtag. Er spricht über den Achtstundentag und den Abbau von Überstunden: „Die kapitalistische Regierung will durch Herauspressung der größten Leistung aus einer verminderten Arbeiterzahl die Profite der deutschen Bourgeoisie erhöhen […]. Die Steigerung der Ausbeutung geht soweit, dass man dem Arbeiter nicht einmal mehr die Möglichkeit lässt, seine Notdurft zu verrichten.“211 Als Vertreter der KPD bei der Komintern leitet er die Agitprop-Arbeit und ist Beauftragter zur Leitung von Streiks. Im Dezember spricht er dazu auf der Führertagung des Roten Frontkämpferbund Berlins.212 Rosa arbeitet zur gleichen Zeit in der Organisation Varga, der Handelsabteilung der sowjetischen Botschaft, und besucht – von Walter eingefädelt – für zwei Monate die Parteischule in der Jugendherberge in Hohenstein. Während der Woche widmen sich die beiden voll und ganz ihrer Parteiarbeit. Ihre zugeteilte Betriebszelle ist das Transformatorenwerk Oberschöneweide. Die Genossen versammeln sich in einer kleinen gemütlichen Kneipe in der Brückenstr. 3. Walter wohnt zusammen mit ihr auf der anderen Straßenseite in Nr. 23 bei Genossin Radzuweit zur Untermiete. Die Genossen wissen nichts von der Beziehung der beiden, die Vermieterin weiß nicht, wer Walter ist. Die Hauswirtschaft in ihrer kleinen Wohnung bleibt dabei auf der Strecke. Walter beschwert sich nicht und tut, „als ob er es nicht merkte“, aber Rosa ist als Hausfrau „nicht sehr auf der Höhe“. Wurst und Schinken werden von dem gleichen Papier gegessen, in dem sie gekauft wurden, das Geschirr wird nicht abgewaschen. Das erste Gericht, das Rosa aus eigener Hand serviert, sind halbgare Spiegeleier, die beim Servieren auf den Teller auseinanderlaufen. Aber auch das scheint Walter nicht zu stören.213 Wenn sie einmal frei haben, gehen die beiden an Wochenenden und in den Ferien wandern.

Walter zeigt Rosa „die Pracht der Bergstraße, zur Zeit der Kirschblüte“. Die beiden sind zusammen „in Schierke und auf dem Brocken [im] Sommer und [im] Winter, zu Fuß und auf [Ski]“. Er öffnet sich und zeigt ihr seine „andere“, menschliche Seite: „Walter [hängt] sehr an der Natur. In den Jahren seiner Wanderschaft hatte er sich sehr mit ihr verbunden, und hatte er nur […] einen Tag frei zwischen zwei Nächten Eisenbahnfahrt, [...] zogen wir los. Das Bergsteigen war sein Lieblingssport und nach dem mühsamen Steigen war er – wenn oben angelangt – ein anderer Mensch.“214 Es ist für Rosa als Städterin ein „hartes Trainieren“, doch Walter zeigt sich ihr gegenüber sehr nachsichtsvoll. Gleichzeitig ist er niemals bemüht, „Kavalier“ zu spielen. Sie muss ihren Rucksack, ihre Ski selber tragen, er reicht ihr „nicht auf Schritt und Tritt seine Hand“: Sie soll „auch in der Anwendung der physischen Kräfte selbständig sein, ein voller Mensch sein“. Als Rosa sich beim Skifahren erschöpft in den Schnee legt und zu ihm meint, sie wolle sich allein im Schnee ausruhen, bis er Hilfe gefunden hätte, klärt er sie auf, „wie unzulässig das in der Kälte und im Schnee wäre“.

 

Walter versucht Rosa „zu einem energischen Menschen“ zu erziehen: „Man denke aber nicht, dass das alles im Zeichen der Strenge, gar der ‚Vernunft‘ vor sich ginge“: Nach einer Fahrt mit dem Elbdampfer durch die sächsische Schweiz hat das Paar am Ufer des Flusses ein Zimmerchen gefunden. „Der Nordstern den wir ‚unser Stern‘ nannten funkelte hell im Himmel. Wir konnten nie an der Freude zu leben, zusammen zu leben, satt werden. Und ich weiß noch, wie am nächsten [Morgen], beim Aufwachen, eine regelrechte Kissenschlacht zwischen uns entbrannte.“ Die beiden suchen zusammen die Freiheit, „jeder noch so kurze Ausflug ist mit einem Abenteuer verbunden“215.

Zurück beim Ernst der Arbeit zeigt die Wahl in den Landtag im Vorjahr Wirkung. Im Januar 1927 entgeht er knapp seiner Verhaftung, als er im Gasthaus Kramer in der Delitzscher Straße von der Kriminalpolizei kontrolliert wird. Zwar wissen die Beamten, dass Walter mit Steckbrief und Haftbefehl gesucht wird, sie können ihn aber nicht festnehmen, weil er einen Abgeordnetenausweis und eine Einlasskarte des Landtags vorweist.216 Außerhalb der Sitzungsperiode gilt seine Immunität aber nicht.

Die Parlamentsferien verbringt er als „Vogelfreier“ meistens im Ausland.217 Die Reichsanwaltschaft erinnert den Sächsischen Landtag, dass „die gerichtliche Voruntersuchung wegen Hochverrats am 4. April 1924 […] eröffnet worden [ist]. Bis zu seiner Wahl in den Sächsischen Landtag stand der Durchführung des Verfahrens gegen den Angeschuldigten Ulbricht dessen Abwesenheit entgegen, da er flüchtig geworden war und sich im Auslande […] aufhielt. Nachdem Ulbricht Abgeordneter zum Sächsischen Landtag geworden war, bemühte sich der Untersuchungsrichter die vor der Wahl des Angeschuldigten eingeleitete Voruntersuchung zum Abschluss zu bringen. Auch dieses Bemühen scheiterte daran, dass der Abgeordnete Ulbricht zu der […] Vernehmung nicht erschien. […] [Am] 6. April 1927 hat der Abgeordnete Ulbricht […] für die Zeit nach Ostern zur Vernehmung in Leipzig bereit erklärt. Daraufhin hat der Untersuchungsrichter [ihn] auf den 20. April 1927 nach Leipzig vorgeladen. […] Zur Vernehmung ist der Abgeordnete Ulbricht weder erschienen, noch hat er sein Ausbleiben irgendwie entschuldigt“218.

Walter hat nie ernsthaft vor, zur Vernehmung in Leipzig zu erscheinen. Die Ermittlungen verlaufen weiter im Sande. Unterdessen nimmt Walters Bedeutung für die Partei weiter zu. Auf dem XI. Parteitag im März 1927 in Essen ist er für viele noch ein einfacher Genosse unter vielen. Er rückt aber dank Thälmann sichtbar weit nach vorne und wird zum Mitglied des Zentralkomitees, Kandidat des Politischen Büros und Mitglied des ZK-Sekretariats für Agitation und Propaganda gewählt. Mit dem Parteitag erscheint seine erste größere Arbeit „Aktuelle Fragen der Gewerkschaftsbewegung“ in der Reihe „Gewerkschaftliche Flugschriften“.

Die Beziehung zwischen Walter und Rosa in Berlin wird immer inniger. Sie will „alles lesen, was aus seiner Feder stammt“, geht abends zu allen Veranstaltungen, auf denen er auftritt. Sie liebt es, wenn er seine Notizen vergisst und beginnt, aus dem Stehgreif zu sprechen. „Man konnte es sehr gut sehen: zuerst ließ er die Augen vom Manuskript weg, um nur eine Kleinigkeit einzufügen, und dann rissen seine Gedanken überhaupt vom Manuskript weg. Dann wurde seine Rede zur Plauderei, eine Plauderei aber die sein Arbeiter-Publikum […] buchstäblich auf einem höheren, immer höheren Niveau erhob [sic]. Ich war sehr stolz auf ihn.“ Manchmal ist der Andrang auf Walter nach der Rede so groß, dass Rosa dabei „ihren Walter“ verliert und allein nach Hause muss. Als Walter später heimkommt, ist er von der Rede noch ganz gonflé, aufgekratzt.

Trotz aller Anstrengungen bleibt es schwer, die Massen zu überzeugen. So schreibt im Anschluss an den Parteitag auch Moskaus Emissär Lominadze an Stalin über eine Kundgebung im April 1927 im Berliner Sportpalast: „Auf der Kundgebung erschienen mindestens zwanzigtausend Arbeiter. Die Stimmung war anfangs außerordentlich gut […]. Leider haben jedoch die Leiter der Kundgebung alles getan, um diese Stimmung zu kippen und zu verderben. Thälmann erschien 1¾ Stunden zu spät auf der Kundgebung. Pieck […] wartete ungefähr eine Stunde […]. Das Auditorium wurde schrecklich müde. Ein Teil der Arbeiter fing an zu gehen. Nach Thälmann sprachen noch 5 Redner (von denen nur Münzenberg und Esche [Walter] gut und mit Begeisterung sprachen), es wurden 5 oder 6 Resolutionen vorgelesen und zur Abstimmung gebracht, wonach Thälmann das Schlusswort ergriff. Seine abschließende Rede […] löste eine schier unvorstellbare Langeweile beim Publikum aus. Alle Begeisterung ging zum Teufel. Das Volk verließ massenhaft die Kundgebung. Alle Parteimitglieder [waren] außer sich vor Wut. […] er sei hochnäsig und aufgeblasen geworden, hätte das Verantwortungsgefühl für die Massen verloren. […] In der Partei gibt es keine Führer, die sowohl für die Partei- wie auch für die parteilosen Massen anerkannte Autoritäten wären.“219 Walter ist keine solche anerkannte Autorität, aber er versucht, die Partei den Parteilosen näherzubringen. So ist er im September für die KPD auf einer Sitzung der Unabhängigen Bürgerliste in Suhl, bevor Ende Oktober 1927 der Bezirksparteitag der KPD mit Thälmann in Gotha folgt. Rosa besucht die meisten seiner Reden. Als er die Versammlung betritt, reichen ihm die Genossen links und rechts des zentralen Gangs die Hände. Die weiter hinten machen Handzeichen, die er meist erwidert. Auch Rosa grüßt ihn aus den hinteren Reihen. Für sie bedeutet ihr Gruß: „Ich wünsche dir alles Gute, und vergiss nicht auf mich zu warten. Denn ich auch da.“ Trotz ihres Zeichens verpassen die beiden sich am Ausgang und gehen allein nach Hause. Zurück in der kleinen Wohnung wirft sie ihm vor „ich habe dir [sic] doch gegrüßt“. Er meint nur, „ich habe Dich nicht gesehen“ Sie meint wütend, „du hast doch meinen Gruß erwidert!“, worauf er erwidert, „dessen bin ich mir bewusst!“ Sie versteht: „Also hat er doch meinen Gruß erwidert, ohne mich so zu erkennen. Denn es ist ganz selbstverständlich: in der Versammlung gehörte er nicht mehr sich selbst, seiner Frau, einem Freund. Er gehörte der Partei, ganz und gar, nur der Partei.“220 Es ist eine aufregende, anstrengende Zeit für das Paar. Politik und Privates gehen fließend ineinander über. Beide kommen meist erst spät nach Hause. Zeit zum Reden bleibt jetzt selten, und wenn, dreht es sich meist um Politik: „Ich war […] später als [Walter] heimgekommen. […] Er war unruhig und müde. Ich legte mich zu ihm, wollte aber dringend von ‚meiner‘ Versammlung erzählen […]. Ich schoss los, und stellte bange die Frage: was meinst du? Hatte ich Recht? Ich werde noch mehr bange, denn er antwortet nicht sofort. […] Aber er antwortet nicht: er war eben eingeschlafen.“221

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?